Ungenauigkeiten bei der Auswertung von „genetischen Fingerabdrücken“ werfen Schatten auf ein molekularbiologisches Verfahren, das in der Gerichtsmedizin immer breitere Anwendung findet. Weil keine zwei Personen exakt gleiches Erbmaterial besitzen (eineiige Zwillinge ausgenommen), ist es möglich, durch präzise Analyse der Erbsubstanz (DNA) die Identität eines Menschen zweifelsfrei festzulegen. Dem Engländer Alec Jeffreys gelang es vor vier Jahren, diese Erkenntnis in die Praxis umzusetzen. Seitdem wird über Schuld und Unschuld eines Angeklagten immer häufiger anhand der Aussagen von Experten entschieden, die verschiedene DNA-Muster gegeneinander vergleichen.
Findet man am Ort eines Verbrechens noch Spuren des Täters wie etwa Blut, Haare oder Sperma, so kann man auch aus kleinsten Mengen dieser Zellen noch das Erbmaterial isolieren und mit dem von Verdächtigen vergleichen. In den Vereinigten Staaten wird diese Praxis jetzt in Frage gestellt, weil Mitarbeiter der privaten Firma Lifecodes die technisch schwierigen Untersuchungen nicht mit der nötigen Sorgfalt vorgenommen haben.
In einem in der Rechtsprechung bisher einmaligen Vorgang haben Wissenschaftler, die als Sachverständige für beide Parteien in einem Mordprozess tätig waren, eine gemeinsame Erklärung abgegeben. Insgesamt seien die DNA-Daten in diesem Fall wissenschaftlich nicht verlässlich genug, um zu einer sicheren Aussage zu kommen, heißt es dort. Vorausgegangen war dieser Erklärung ein gerichtsmedizinischer Bericht der Firma Lifecodes an die Staatsanwältin des Bezirks Bronx (New York). Blut, das auf der Uhr des Verdächtigen Jose Castro gefunden wurde, hätte das gleiche DNA-Muster wie das Erbmaterial von Vilma Pons, einem der beiden Mordopfer. Dieses Muster käme in der Bevölkerung nur einmal unter knapp 200 Millionen Menschen vor.
Peter Neufeld, Anwalt der Verteidigung, war über diese Art der Beweisführung besorgt: In der Wissenschaft gebe es bisher scheinbar keine Übereinstimmung über die Art und Weise, in der der Test durchzuführen sei. Alles deutet darauf hin, dass die Mitarbeiter der privaten Firma ihre Analysen nicht mit Kontrollversuchen absicherten, wie sie in der Wissenschaft allgemein üblich sind. Bei der Beurteilung der Identität der genetischen Fingerabdrücke gingen sie von anderen Voraussetzungen aus als bei der späteren Berechnung, wie häufig solch ein Muster zu erwarten wäre – ebenfalls eine Vorgehensweise, die einer kritischen Überprüfung nicht stand hält.
Der Fall Castro sei sicher nicht typisch für den Umgang mit der neuen Technologie, meint der Molekularbiologe Richard Roberts, der Zeuge der Anklage war. „Kein Biologe bezweifelt die potentielle Macht der DNA-Typisierung“, sagt auch Eric Lander, der ebenso wie Roberts an der gemeinsamen Stellungnahme der Experten beteiligt war. Was der Gerichtsmedizin fehle, seien vielmehr angemessene Richtlinien, wie derartige Experimente durchzuführen sind. Die Nationale Akademie der Wissenschaften versucht zurzeit, 300000 Dollar aufzubringen, um eine entsprechende Studie zu finanzieren. Auch das FBI hat sich der Problematik angenommen und ist dabei, eigene Standards zu entwickeln.
Unabhängig von dem Urteil, das in den nächsten Tagen gefällt werden soll, ist die Wiederaufnahme bereits abgeschlossener Verfahren zu erwarten. Auch die Anklage hat mittlerweile eingeräumt, dass die DNA-Analyse in diesem Fall nicht zulässig ist.
Während die genetischen Fingerabdrücke in den USA schon über hundert Mal als Beweismittel dienten, wurde das Verfahren hierzulande erst in zwei Fällen benutzt. Wie Dr. Wolfgang Steinke vom Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden auf Anfrage mitteilte, ist man der Auffassung, das Verfahren sei reif zur Anwendung auch durch deutsche Polizeilabors. Die Landeskriminalämter in Baden- Württemberg und Berlin sowie das BKA arbeiten seit etwa zweieinhalb Jahren mit der Technik und haben beim Test mit Spurenmaterial die Zuverlässigkeit des Verfahrens unter Beweis gestellt, so Steinke. Die Innenministerkonferenz hat der Arbeitsgemeinschaft „Recht der Polizei“ mittlerweile den Auftrag erteilt, das Konzept der Kriminalämter zur Durchführung des „Fingerprinting“ zu überprüfen.
(erschienen in der WELT am 16. August 1989)
Was ist daraus geworden? Der Fall Castro hat die Glaubwürdigkeit von DNA-Beweisen vor Gericht erschüttert und die Tendenz verstärkt, dem DNA-Fingerprinting mehr Gewicht bei der Entlastung eines Angeklagten zuzusprechen, als bei dessen Verurteilung. Im Fall Castro entschied das Gericht, dass die Blutspuren auf Castros Uhr nur als Beweis gewertet durften, dass es nicht Castros Blut war, jedoch nicht um zu zeigen, dass es sich um das Blut eines Opfers handelte. Außerdem empfahl das Gericht zukünftig strengere Protokolle und eine bessere Dokumentation bei der Untersuchung der DNA-Fingerabdrücke. Ob Castro schlussendlich verurteilt wurde, habe ich übrigens trotz heftigster Googelei nicht heraus gefunden.