Schon seit Jahren sind Wissenschaftler sicher: Die Einnahme des Vitamins Folsäure könnte die Zahl schwerer Geburtsfehler deutlich senken. Was aber nutzt Expertenwissen, wenn es die Hauptbetroffenen nicht erreicht?

Frauenärzte und Ernährungskundler sind sich einig: Wenn alle Frauen im gebärfähigen Alter täglich 0,3 Milligramm des wasserlöslichen Vitamins erhalten würden, ließen sich alleine in Deutschland jährlich mindestens 500 Fälle von „Neuralrohrdefekten“ vermeiden. Diese schweren Entwicklungsstörungen der Wirbelsäule und des Rückenmarkes treten beim Embryo zwischen dem 22. und dem 24. Tag einer Schwangerschaft auf – zu einem Zeitpunkt also, an dem die werdenden Mütter meist noch gar nicht wissen, daß sie in anderen Umständen sind.

In dieser Zeit ist der Bedarf an Folsäure besonders hoch, denn die Substanz wird vor allem für den Aufbau neuen Gewebes gebraucht. Aber nicht nur der wachsende Fetus, auch die Mutter benötigt das Vitamin, weil sich die Gebärmutter vergrößert, der Mutterkuchen wächst und die Blutmenge zunimmt.

Mangelt es dem weiblichen Körper in diesen Tagen an Folsäure, kann dies für das Neugeborene schlimme Folgen haben, zum Beispiel die Spina bifida („offenes Rückgrat“): Ein Teil des Rückenmarks ragt aus der Wirbelsäule heraus. Dies führt zu Lähmungen der unteren Körperpartie. Häufig geht die Spina bifida mit einem Wasserkopf und geistiger Behinderung einher.

Zusätzlich erhöht ein Folsäuremangel das Risiko für eine „Anencephalie“ mindestens auf das Doppelte. Den betroffenen Kindern fehlt ein Großteil des Gehirns; sie sterben nach wenigen Tagen im Krankenhaus.

Spätestens seit Anfang letzten Jahres weiß man mit Sicherheit, daß die rechtzeitige Einnahme von Folsäure derartige Tragödien in vielen Fällen verhindern könnte.

Eine ungarische Arbeitsgruppe um Dr. Andrew Czeizel machte zu diesem Zeitpunkt eine Studie an fast 5000 Schwangerschaften publik. Ziel war es zu überprüfen, ob die Einnahme von Vitaminen oder Spurenelementen die Embryonen vor Fehlbildungen im Mutterleib schützen kann. Die Hälfte der Frauen hatte schon vor der Empfängnis regelmäßig ein Vitaminpräparat mit Folsäure erhalten, die andere Hälfte nahm ein Gemisch verschiedener Spurenelemente zu sich. Mißbildungen waren in der Vitamingruppe wesentlich seltener als in der Vergleichsgruppe.

Für die Neuralrohrdefekte stellten die Wissenschaftler fest: Sechsmal wurden sie bei Gabe von Spurenelementen beobachtet, in der Folsäuregruppe gab es keinen einzigen Fall. Die Bilanz der Ungarn, die durch eine Vielzahl weiterer Untersuchungen gedeckt ist: „Alle Frauen, die eine Schwangerschaft planen, sollten Vitaminpräparate mit Folsäure einnehmen.“

Im September letzten Jahres machte das US-amerikanische Gesundheitsamt seine Empfehlung publik: 0,4 Milligramm (vier tausendstel Gramm) Folsäure täglich für alle Frauen im gebärfähigen Alter, etwa das Doppelte dessen, was mit der Nahrung aufgenommen wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von ähnlichen Werten aus; die Deutsche Gesellschaft für Ernährung schlägt 0,3 Milligramm vor.

Soviel Folsäure findet sich allenfalls in der Leber, doch rät das Berliner Bundesgesundheitsamt Schwangeren vom Verzehr dieses Organs ab, weil es als Speicher für eine ganze Reihe von Umweltgiften dient. Dagegen sind grünes Gemüse, Weizenkeime und Sojabohnen zu empfehlen, doch müßten hier relativ große Mengen verzehrt werden, um den Bedarf an Folsäure zu decken.

Für den Laien, der im Umgang mit Nährwerttabellen wenig geschult ist, bleibt oft nur der Griff zur „Vitaminpille“. Aufklärung tut not- und da haben sich die deutschen Behörden nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Zwar werden millionenschwere Anzeigenkampagnen gegen Drogenmißbrauch und zur Eindämmung der Aids-Epidemie geschaltet, die Werbung für eine gesundheitsbewußte Ernährung bleibt aber den Anbietern von Buttermilch und Diätmargarine überlassen.

„Wir leisten uns den Luxus, an mittlerweile sechs Universitäten in Deutschland Ernährungswissenschaftler auszubilden, aber es gibt keine Institution, die dieses Wissen irgendwie einsetzt, keine Instanz, die diese Experten an die Front bringt, um die erforderliche Aufklärung zu betreiben“, kritisiert Professor Klaus Pietrzik vom Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Bonn.

„Wenn es Wenigstens gelingen würde, Grundzusammenhänge größeren Teilen der Bevölkerung zu vermitteln, dann würden wir auch nicht mehr so viel Geld für ernährungsbedingte Krankheiten ausgeben müssen.“ Rund 100 Milliarden Mark und damit ein Drittel aller Ausgaben im Gesundheitswesen sind diesen ernährungsbedingten Krankheiten zuzuschreiben.

Lebensmittelzusätze, wie sie in den USA für die Folsäure bereits diskutiert werden, könnten nach Pietrziks Ansicht das Problem der mangelnden Aufklärung entschärfen. Doch dem stehen die bundesdeutschen Gesetze entgegen.

Böse Erinnerungen an die Hitler-Ara haben dazu geführt, daß eine „Zwangsmedikation“ der Bevölkerung praktisch ausgeschlossen ist. Um beispielsweise eine Liberalisierung des Vertriebs von jodiertem Speisesalz zu erreichen, waren jahrzehntelange Diskussionen zwischen Ärzten und Politikern vonnöten. Die Konsequenz dieser antiquierten Denkweise: Nach WHO-Definition ist die Bundesrepublik ein „mittelschweres Jodmangelgebiet“. Standhaft weigert man sich auch, dem Trinkwasser Fluor zuzusetzen, um der Karies vorzubeugen.

„Seit Jahren wird über eine Änderung des Gesetzes diskutiert, das ganze Ausland lacht sich kaputt“, klagt Pietrzik. Dem Bonner Mediziner mag es nicht einleuchten, daß Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel, Farbstoffe und Emulgatoren in Lebensmitteln mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden sind, während gleichzeitig weite Teile der Bevölkerung zu wenig Vitamine und Spurenstoffe erhalten.

Was die Folsäure anbelangt, bleibt es also zunächst bei der Empfehlung an alle Frauen, die einen Kinderwunsch haben, „auf eine ausreichende Folsäureversorgung zu achten“, oder, deutlicher formuliert: „Wenn die eine Pille abgesetzt wird, sollte die andere Pille eingenommen werden.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 3. Februar 1993)