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Stammzellen gegen ALS?

San Diego. Tschechische und italienische Wissenschaftler haben in unkontrollierten Studien der Phase I insgesamt 44 Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) Stammzellen ins Rückenmark implantiert, um den Verlauf der Krankheit zu bremsen. Etwa 25 weitere Patienten sind zudem außerhalb von Studien, aber mit Genehmigung der Behörden in der Tschechischen Republik behandelt worden, sagte Prof. Dr. Eva Sykova vom Institut für Experimentelle Medizin ASCR und der Karls-Universität in Prag auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience.

Fortschreitende Lähmungen machen die Verständigung für ALS-Patienten immer schwieriger (Foto; Fezcat / Wikipedia , CC BY-SA 4.0)

„Die Zelltherapie könnte neue Möglichkeiten eröffnen die ALS zu heilen, indem sie neurotrophische Unterstützung für die Motorneuronen  und dysfunktionalen Gliazellen bereitstellt und das Immunsystem beeinflusst“, glaubt Sykova. Mit ihrem Team hatte sie zunächst menschliche mesenchymale Stammzellen (MSC) ins Gehirn von Ratten gespritzt. Die Tiere waren gentechnisch so verändert worden, dass sie ALS-ähnliche Krankheitszeichen entwickelt hatten und waren nach dem Eingriff eindeutig beweglicher und besser in der Lage zu greifen, als nicht behandelte Artgenossen.

Ziel der anschließenden offenen, nicht randomisierten Studie der Phase I/IIa, die von der Firma Bioinova finanziert wurde, war es „die Sicherheit und Wirksamkeit autologer, multipotenter mesenchymaler Stammzellen aus dem Knochenmark bei der Behandlung der ALS zu testen“. Jeweils etwa 15 Millionen dieser MSC wurden bei einer Lumbalpunktion im Bereich der Lendenwirbel in das Nervenwasser gespritzt, und anschließend die Kraft, Beweglichkeit und Gehfähigkeit der Patienten über 18 Monate hinweg verfolgt. Vier verschiedene Bewertungsskalen kamen dabei zur Anwendung, darunter die ALS Functional Rating Scale. Hier fanden sich sowohl nach drei, als auch nach sechs Monaten statistisch signifikante Verbesserungen im Vergleich zum natürlichen Verlauf der Krankheit.

Im gleichen Zeitraum stabilisierte sich auch die forcierte Vitalkapazität, ein Maß für die Funktion der Lunge. Ernsthafte Nebenwirkungen des Eingriffs wurden nicht beobachtet. Die Patienten litten lediglich vorübergehend an Kopfschmerzen, was infolge einer Lumbalpunktion als normal gilt. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die intrathekale Injektion von mesenchymalen Knochenmarksstammzellen bei ALS-Patienten sicher ist, und dass sie – zumindest vorübergehend – das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen kann“, sagte Sykova.

Mit dem gleichen Ergebnis sind durch Sykovas Arbeitsgruppe etwa 25 weitere Patienten außerhalb der Studie behandelt worden, berichtete sie in San Diego. Auch ausländische Patienten interessierten sich für die Prozedur, beispielsweise aus den Niederlanden. Hier sei man in Verhandlungen mit der Krankenkasse, damit diese die Kosten für den Eingriff übernimmt.

Problematisch ist allerdings, dass die injizierten Zellen nicht lange überleben und auch nicht vor Ort bleiben. Man habe deshalb angefangen, statt einer Injektion drei zu verabreichen, sagte Sykova.

Zeitgleich präsentierte auch eine 30-köpfige italienische Arbeitsgruppe die Ergebnisse einer Phase I-Studie mit 18 ALS-Patienten, denen man embryonale Stammzellen injiziert hatte, die aus fötalen Fehlgeburten stammten. Für ihre Kollegen berichtete Dr. Daniele Ferrari von der Abteilung Biotechnologie und Biowissenschaften der Universität Bicocca, Mailand über den Ausgang des Experiments, das man in Zusammenarbeit mit  dem Neurochirurgen Dr. Nicholas Boulis von der Emory-University im amerikanischen Atlanta durchgeführt hatte: Jeder Patient hatte drei Injektionen mit jeweils etwa 50 Millionen neuronalen Stammzellen erhalten – bei einem Drittel der Patienten im Bereich von Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule, und bei zwei Dritteln an der Halswirbelsäule.

Danach erhielten alle Studienteilnehmer sechs Monate lang Medikamente zur Unterdrückung der Immunantwort gegen die fremden Zellen. Auch bei diesem Versuch gab es keine ernsthaften Nebenwirkungen, stellen die Wissenschaftler fest. Lediglich an der Einstichstelle verspürten die Patienten bis zu vier Tage lang leichte Schmerzen.

Allerdings vermochte die Prozedur den Krankheitsverlauf kaum zu beeinflussen. „Wir haben eine geringfügige Verlangsamung des Verfalls festgestellt im Zeitraum von zwei bis vier Monaten nach dem Eingriff“, sagte Ferrari. Elf der 18 Patienten hatten in diesem Zeitraum etwas mehr Kraft in Armen und Beinen, als man erwarten durfte. Allerdings sind insgesamt neun der Patienten seit dem Eingriff an ALS gestorben, sodass es wohl keine positiven Überraschungen mehr aus dieser Studie geben wird. Dennoch gab sich Ferrari optimistisch: „Wir werden eine Studie der Phase II beginnen und diesmal größere Mengen an Zellen transplantieren“, kündigte sie in San Diego an.

In Deutschland wurden Stammzelltherapien gegen neurologische Erkrankungen bisher noch kaum erprobt. Für negative Schlagzeilen hatte dabei vor allem das Düsseldorfer XCell-Center gesorgt, wo man Zelltransplantationen gegen eine Vielzahl von Erkrankungen auf Selbstzahlerbasis angeboten hatte. Mehrfach hatten Wissenschaftler und Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Neurologie die Erfolgschancen dieser Angebote bezweifelt und die mangelnde wissenschaftliche Grundlage kritisiert. Nach dem Tod eines 18 Monate alten Jungen im Rahmen einer dieser „Therapien“ wurde das XCell-Center schließlich im Jahr 2011 geschlossen.

Prof. Dr. Albert Ludolph, Leiter der Neurologie an der Universitätsklinik Ulm steht deshalb verfrühten Versuchen zur Stammzelltherapie bei ALS kritisch gegenüber. Das seien oftmals „Geschäfte in der Grauzone“, sagte er gegenüber der Webseite Medscape. „Betroffenen werden viel zu häufig falsche Hoffnungen gemacht.“

Quellen:

  • Abstract 45.01 Syka M et al. Stem cells for treatment of Amyotrophic lateral sclerosis. Preclinical and clinical study. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
  • Abstract 45.04 Jendelova P et al. The effect of different applications of mesenchymal stem cells in the treatment of amyotrophic lateral sclerosis. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
  • Abstract 45.13 Mazzini L et al. Data from pre-clinical and completed phase I clinical studies with intraspinal injection of human neural stem cells in amyotrophic lateral sclerosis. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.

Drüsenersatz aus Stammzellen gezüchtet

Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres ist es einer Gruppe japanischer Forscher am Riken Zentrum für Entwicklungsbiologie in Kobe gelungen, aus embryonalen Stammzellen der Maus komplexes Ersatzgewebe für das Gehirn zu züchten: Nachdem das Team um den Direktor der Abteilung Neurogenese, Yoshiki Sasai, bereits im April in die Schlagzeilen geraten war, weil man eine Vorstufe der Netzhaut des Auges (Retina) geschaffen hatte, berichten die Forscher nun in der Fachzeitschrift Nature, wie sie durch die geschickte Manipulation der Kulturbedingungen die Entstehung eines Hypophysenvorderlappens gesteuert haben. Beim Menschen wie auch bei Mäusen bildet dieser Teil der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) Hormone, die das Wachstum und die Schwangerschaft steuern, sowie bestimmte euphorisierende und schmerzstillende Substanzen, die Endorphine.

 

Hormon-bildende Zellen (rot gefärbt) inmitten von Drüsengewebe, das aus embryonalen Stammzellen gezüchtet wurde. (Foto: Yoshiki Sasai, RIKEN)

Dass die Kunstgebilde aus dem Labor sich möglicherweise als Ersatzdrüse eignen, konnten die Wissenschaftler im Mausversuch beweisen: Sie verpflanzten das neu gezüchtete Gewebe in die Niere von Tieren, denen man zuvor die Hypophyse entfernt hatte. Während Mäuse ohne Hypophyse nur etwa zwei Monate überleben, rettete der Eingriff die Nager und brachte deren Hormonspiegel wieder auf fast normale Werte zurück.

 

Die japanischen Forscher gehören zu den Pionieren der Stammzellforschung, von der Optimisten sich die Zucht von Ersatzgeweben und ganzen Organen für kranke Menschen erhoffen. Dafür müssen sich jedoch viele unterschiedliche Zelltypen räumlich exakt anordnen und miteinander wechselwirken, was bisher nur mit vergleichsweise einfachen Geweben wie Knorpel gelungen ist, und mit Gefäßzellen, die man auf künstlichen Luftröhren angesiedelt hat. Im Gegensatz dazu ist das menschliche Gehirn die komplexeste Struktur im bekannten Universum. Die Entwicklung dieses Organs verstehen die Neurowissenschaftler trotz enormer Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten bisher nur in groben Zügen.

 

Mit der von Sasai und seinen Kollegen entwickelten Technik SFEBq (für engl. serum-free floating culture of embryoid body-like aggregates with quick re-aggregation) gelang es aber immerhin, ausgehend von embryonalen Stammzellen zunächst in Lösung schwebende Zellhäufchen zu schaffen. Stimuliert man diese Häufchen durch die Zugabe bestimmter Signalmoleküle zum jeweils richtigen Zeitpunkt, so können daraus komplexere Gewebe entstehen. Das Verdienst der Japaner ist es, solch ein „molekulares Kochrezept“ gefunden zu haben, mit dem aus embryonalen Stammzellen eine Vorstufe des Hypophysenvorderlappens heranwuchs. Im Inneren dieser sogenannten Rathke-Tasche – benannt nach dem deutschen Anatomen Martin Rathke – konnten die Hirnforscher anschließend mithilfe weiterer Wachstumsfaktoren vier verschiedene Zelltypen sprießen lassen, die jeweils unterschiedliche Hormone bildeten.

 

Dass diese Gebilde das Leben von Labormäusen retten konnten, denen man die eigene Hypophyse entfernt hatte, zeigt das Potential der Technik, freute sich Sasai: „Noch behandeln wir Hypophysendefekte, indem wir die fehlenden Hormone ersetzen. Dabei die richtige Dosis zu finden ist aber angesichts der schwankenden Konzentrationen im Körper nicht gerade einfach. Ich hoffe, dass unsere Ergebnisse zu weiteren Fortschritten der regenerativen Medizin auf diesem Gebiet führen werden.“

 

Diabetes: "Stammzellen teuer, riskant & bisher erfolglos"

Erneut haben Ärzte und Wissenschaftler die Firma XCell-Center dafür kritisiert, dass sie teure Therapien mit angeblich unbewiesener Wirkung anbietet. Die Kritik, vorgetragen vom Kompetenznetz Diabetes mellitus und der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) richtet sich aber auch an die Bezirksregierung Köln, die als zuständige Genehmigungsbehörde die Aktivitäten des XCell-Centers erlaubt hat. Das XCell-Center ist eine private Klinik mit Standorten in Düsseldorf und Köln, die so genannte „regenerative Therapien“ weltweit anbietet. Für die Behandlung des Diabetes werden dort angeblich zwischen 7500 und 10500 Euro verlangt – ein Betrag, der von den Krankenkassen nicht übernommen wird.

Durch die Genehmigung der Bezirksregierung Köln erhielt das XCell-Center die Erlaubnis, Patienten Knochenmark zu entnehmen, die darin enthaltenen Stammzellen im Labor zu isolieren, aufzubereiten und den jeweils gleichen Patienten wieder in die Bauchspeicheldrüse zu transplantieren. Dort sollen die Stammzellen sich in Insulin produzierende Betazellen verwandeln, oder andere Zellen zu dieser Verwandlung anregen. Wie das Kompetenznetz Diabetes mellitus und die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) nun in einem offenen Brief an die Bezirksregierung Köln schreiben, ist eine Wirksamkeit dieser Behandlung jedoch wissenschaftlich nicht belegt. Die Patienten würden durch hohe Kosten belastet. Eine Schädigung der Gesundheit durch Nebenwirkungen sei nicht auszuschließen. Zwar sei dies nach erfolgreichen Tierversuchen ein „viel versprechender Ansatz, um zukünftig Diabetes mellitus zu heilen“, urteilten die Experten. „Derzeit gibt es jedoch keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse, dass Patienten von einer solchen Therapie profitieren“, kritisieren Professor Anette-Gabriele Ziegler, Sprecherin des Kompetenznetzes Diabetes mellitus (München) und DDG-Präsident Professor Thomas Danne (Hannover).

„Unsere innovative Stammzellentherapie mit autologen Stammzellen (aus dem eigenen Körper des Patienten) ist einzigartig in Europa und bekämpft Diabetes 1 und 2 an der Basis durch Reduzierung der Überzuckerung“  verspricht man dagegen beim XCell-Center, und weiter: „Diese transplantierten Zellen können sich in verschiedene Arten von Zellen verwandeln und sind in der Lage, beschädigte Zellen wie etwa die pankreatischen Betazellen zu regenerieren. Unsere innovative Stammzellenbehandlung nutzt das Selbstheilungspotenzial des eigenen Körpers des Patienten, um die Regeneration oder Reparatur anzuregen. Da die transplantierten Zellen autolog sind, besteht praktisch keine Gefahr einer Immunreaktion.“

„Beim Menschen ist die Therapie bisher nicht gelungen“, betonen dagegen die Deutsche Diabetes Gesellschaft und das Kompetenznetz Diabetes in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung. Darin wird auch auf eine Studie verwiesen, die kürzlich in Spanien abgebrochen wurde, nachdem drei  von zehn geplanten Patienten behandelt worden waren. Die in die Bauchspeicheldrüse transplantierten Zellen hatten die Insulinproduktion nicht steigern können.

Wollte man den Typ-1-Diabetes mit Stammzellen behandeln, müsste dafür noch ein weiteres Hindernis überwunden werden, erklären die Kritiker. Schließlich handelt es sich hier – im Gegensatz zu Typ-2- Diabetes mellitus – um eine Autoimmunerkrankung, bei der Abwehrzellen der Patienten die Insulin-prodizierenden Betazellen zerstören. Die aggressiven Abwehrzellen blieben auch nach einem Eingriff weiter im Körper vorhanden und würden die transplantierten Stammzellen bedrohen, erklären die Experten. Verhindern ließe sich dies, wenn die transplantierten Zellen so verändert würden, dass das Immunsystem sie nicht mehr erkennt. Dies ist nach Auskunft von Ziegler und Danne bisher nicht gelungen.

Die Alternative bestünde darin, die Autoimmunreaktion durch Medikamente einzudämmen. Dies sei nur mit erheblichen Nebenwirkungen für den Patienten möglich, warnen die Experten. „Solange Nutzen und Risiken der neuen Stammzelltherapie nicht bekannt sind, sollte sie nur im Rahmen von klinischen Studien durchgeführt werden“, fordern Ziegler und Danne. Von der Bezirksregierung Köln erwarten sie nun eine Erklärung, wie es zur Zulassung der Therapie für die Firma XCell-Center gekommen ist. Ein Schreiben gleichen Inhaltes wurde außerdem an das Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt geschickt, das für die Zulassung von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln zuständig ist.

Quelle:

Weitere Informationen:

  • Über Warnungen vor dem XCell-Center berichteten wir bereits im Oktober 2009. Die Kritik der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, der Deutschen Parkison-Gesellschaft und des renommierten Stammzellexperten Rudolf Jaenisch verhallte ohne Folgen.
  • Der Artikel Stammzellen – Hoffnungsträger mit Risiken enthält weitere Erklärungen, eine kurze Geschichte der Forschung und zahlreiche weiterführende Links.

Die Wochenschau 01-2010

Wie angekündigt versuche ich mit diesem Wochenrückblick etwas mehr Bewegung und mehr Inhalte auf dieser Webseite zu präsentieren. In der ersten Woche des neuen Jahrzehnts gab es gleich mehrere News zum Thema Alzheimer und Altern. Neben einem Bericht, dass Handystrahlung – zumindest bei Labormäusen – den Gedächtnisschwund rückgängig machen konnte und einem weiteren Mausexperiment das Hoffnung auf eine Kombinationsbehandlung weckte, fand ich auch die folgende Meldung:

  • Ein Nährstoff-Mix namens Souvenaid konnte das Wortgedächtnis bei Patienten mit beginnender Alzheimer-Erkrankung verbessern. Bei der von Danone, dem Hersteller der Substanz, bezahlten Studie hatten 225 Teilnehmer nach dem Losprinzip 12 Wochen lang täglich ein Mal entweder Souvenaid oder ein gleich schmeckendes Getränk ohne Wirkstoffe (Placebo) eingenommen. Danach hätten 40 Prozent der Patienten unter Souvenaid sich besser an Worte erinnert, aber nur 24 Prozent derjenigen, die das Placebo bekamen, berichtet die Zeitschrift Alzheimer’s and Dementia. Der Nährstoffmix enthält außer Uridin, Cholin und Omega-3-Fettsäuren auch Vitamin B, Phospholipide und Antioxidantien und soll angeblich das Wachstum der Synapsen fördern – jener Zellstrukturen also, die dazu dienen, Signale zwischen benachbarten Nervenzellen zu übertragen. Beim Adas-Cog, einem weit verbreiteten und allgemein anerkannten Leistungstest für Alzheimer-Patienten zeigte sich jedoch kein Unterschied zwischen Souvenaid und dem Getränk ohne die Wirkstoffe.
  • Wie einer Broschüre des Robert-Koch-Instituts zu entnehmen ist, wurden im Jahr 2006 in Deutschland für den Erhalt der Gesundheit und die Linderung von Krankheitsfolgen durchschnittlich 2.870 Euro für jeden Einwohner ausgegeben – zusammen entsprach das einer Summe von 236 Milliarden Euro. Zusätzlich ist der Verlust am Arbeitsmarkt infolge von Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und Mortalität mit rund 4 Millionen Erwerbstätigkeitsjahren zu berücksichtigen. Die höchsten Kosten entstanden durch Krankheiten des Kreislaufsystems (35,2 Milliarden Euro), an zweiter Stelle stehen die Kosten für Krankheiten des Verdauungssystems (32,7 Milliarden) und an dritter die für psychische und Verhaltensstörungen (26,7 Milliarden). Fast gleich hoch waren die Ausgaben für Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems. Angesichts einer wesentlich längeren Lebenszeit finde ich es wenig überraschend, dass Frauen fast 36 Milliarden Euro mehr Kosten verursacht haben als Männer. Aber es ist ein Punkt, der mir bei den ständigen Diskussionen um Gleichberechtigung und Gehaltsunterschiede durchaus erwähnenswert scheint.
  • Mehrere Pharmakonzerne sind in das Visier der EU-Kommission geraten. Sie stehen im Verdacht, den Herstellern von Nachahmerprodukten (Generika) Geld gezahlt zu haben, um die preiswertere Konkurrenz aus dem Markt zu halten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es dazu, betroffen seien die britischen Konzerne GlaxoSmithKline und AstraZeneca sowie Novartis und Roche aus der Schweiz und Sanofi-Aventis in Frankreich. In Deutschland gingen Anfragen bei Boehringer Ingelheim, beim Darmstädter Merck-Konzern sowie beim Bad Vilbeler Generikahersteller Stada ein. Siehe dazu auch den Bericht über „beunruhigende Trends“ auf dem Pharmamarkt.
  • China ist zu einem der führenden Länder in der Stammzellforschung geworden. Noch im Jahr 2000 hatten Wissenschaftler aus China lediglich 37  Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften vorzuweisen, im Jahr 2008 waren es bereits 1116. Nur die USA, Deutschland, Japan und Großbritannien hätten mehr Fachartikel produziert, ergab eine Analyse des McLaughlin-Rotman Centre for Global Health.

Gentherapie stoppt schwere Hirnerkrankung

Französische, deutsche und amerikanische Wissenschaftler haben womöglich einen Durchbruch in der Gentherapie erzielt. Durch die Transplantation gentechnisch veränderter Blutstammzellen ist es ihnen bei zwei siebenjährigen Jungen gelungen, eine fatale erbliche Erkrankung des Gehirns aufzuhalten – die Adrenoleukodystrophie (ALD). Auf einer Pressekonferenz in Paris verkündeten die Wissenschaftler gestern ihren Erfolg; heute veröffentlichte die Fachzeitschrift Science dann Details zu dem gelungen Versuch. Demnach haben die Forscher den zwei Buben vor mehr als zwei Jahren zunächst defekte Blutstammzellen entnommen und diesen Zellen dann mithilfe eines „umgebauten“ Virus gezielt ein Gen hinzugefügt. Anschließend hatten Ärzte die schadhaften blutbildenden Zellen im Körper der Kinder mit Medikamenten ausgemerzt. Im letzten Schritt erhielten die beiden Jungs dann mit einer Infusion die gentechnisch reparierten Zellen aus dem Labor zurück in den Körper, wo sie sich vermehrten und den Krankheitsprozess zum Stillstand brachten.

Schema zur Gentherapie gegen Adrenoleukodystrophie (Grafik mit freundlicher Genehmigung von Patrick Aubourg)

Schema zur Gentherapie gegen Adrenoleukodystrophie (Grafik mit freundlicher Genehmigung von Patrick Aubourg)

Zum Beweis präsentierten die Forscher Aufnahmen von den Gehirnen der beiden Jungs, die vor und nach dem Eingriff mit einem Kernspintomographen aufgenommen wurden. Sie zeigen, dass der für die ALD typische Verlust der lebenswichtigen „Isolierungsschicht“ (Myelinscheide) um die Nerven bald nach der Gentherapie zum Stillstand kam. Im Vergleich dazu zeigen die Aufnahmen eines unbehandelten Achtjährigen, dass die Schäden sich dort wie bei einem Flächenbrand fast über das gesamte Gehirn ausbreiteten. Auch die neurologische Untersuchung bestätigt den Erfolg der Gentherapie: Während vier unbehandelte Kinder zwei Jahre nach Ausbruch der ALD gelähmt, stumm und blind waren, seien die geistigen und körperlichen Funktionen des einen Gentherapie-Empfängers bis auf eine Sehstörung normal und unverändert geblieben. Der zweite Junge, dem man die genmanipulierten Zellen verabreicht hatte, behielt ebenfalls sein Sprachvermögen. Seine körperliche Leistungsfähigkeit ging zwar auf einer Skala von ursprünglich 99 auf 74 Punkte zurück, blieb aber von da an stabil.

Die einzige Möglichkeit, die ALD zu stoppen war bisher eine Knochenmarktransplantation. Allerdings ist dieser radikale Eingriff mit einem Sterberisiko von fünf bis 20 Prozent äußerst riskant und außerdem nur in jenen Fällen möglich, wo auch ein geeigneter Spender zur Verfügung steht. Dies war bei den beiden Jungen, an denen die Gentherapie der ADL erstmals erprobt wurde, nicht der Fall. Umso mehr freute sich der leitende Arzt des internationalen Forscherteams, Patrick Aubourg: „Dies ist das erste Mal, dass wir solch eine Gen-Fähre erfolgreich beim Menschen benutzt haben und es ist auch das erste Mal, dass eine sehr schwere Erkrankung des Gehirns mittels Gentherapie wirksam behandelt wurde“, sagte der Professor für Kinderheilkunde an der Universität Paris-Descartes. Etwa 35 Babies pro Jahr werden in Frankreich mit ADL geboren, in Deutschland sind es schätzungsweise 40.

An der Entwicklung der Genfähre, auf die Aubourg viele Jahre lang gehofft hat, waren deutsche Wissenschaftler vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg maßgeblich beteiligt, darunter auch der Sprecher des Direktoriums, Professor Christof von Kalle. In einem Video-Interview erinnerte der Mediziner daran, dass ein früher Versuch, Stammzellen des Blutes mit gentechnisch veränderten Retroviren „umzuprogrammieren“ schwere Nebenwirkungen hervorgerufen hatte. Zwar konnte damals bei zehn von elf Kindern die bislang unheilbare Immunschwäche X-SCID besiegt werden, allerdings hatten mehrere Kinder Jahre später einen Blutkrebs (Leukämie) entwickelt. Für die Therapie der ALD hatten die Heidelberger Forscher deshalb Gensequenzen aus einem anderen Virus genutzt – und zwar aus dem menschlichen Immunschwächevirus HIV. Dass ausgerechnet der Aids-Erreger das geeignete Rohmaterial für eine Gentherapie des Gehirns liefern sollte, mag Laien verrückt erscheinen, doch scheint die Rechnung aufzugehen.

„Dies ist die erste Machbarkeitsstudie, die zeigt, dass auf der Basis von Aids-Viren konstruierte Genfähren für therapeutische Zwecke beim Menschen genutzt werden können“, so von Kalle. Die Krankheit könne gestoppt und der Schaden repariert werden und man hoffe, damit langfristig auch einen Ausblick auf eine mögliche Heilung der ALD zu schaffen. Nun gelte es, diese Technik weiter zu entwickeln, damit auch andere Gendefekte damit korrigiert werden können.

Dass auch die neue Therapie trotz etlicher Vorsichtsmaßnahmen nicht ohne Risiko ist, gab indes der Franzose Aubourg zu bedenken: Obwohl die Konstruktion der Genfähre die Patienten weniger anfällig mache für Nebenwirkungen könne im schlimmsten Fall nicht ausgeschlossen werden, dass die Biologie der manipulierten Blutzellen gestört werde. „Es gibt noch viel zu tun, um diese Form der Gentherapie wirksamer, einfacher und billiger zu machen“, sagte Aubourg. „Dies ist nur der Anfang.“

Hintergrund: Lorenzos Öl und die Adrenoleukodystrophie

Die Adrenoleukodystrophie (ALD) ist eine seltene Erbkrankheit, die zum Verlust der lebenswichtigen „Isolierungsschicht“ (Myelinscheide) um die Nerven führt und damit zu einer Art „Kurzschluss“ des Gehirns. Bekannt wurde das Leiden durch den Film „Lorenzos Öl“, in dem die Geschichte von Lorenzo Odone erzählt wird, der im Alter von sechs Jahren mit ADL diagnostiziert wurde. Lorenzos verzweifelte Eltern hatten daraufhin auf eigene Faust ein Heilmittel gesucht und glaubten dies auch mit einer speziellen Mischung zweier Öle gefunden zu haben. Tatsächlich überlebte Lorenzo ungewöhnlich lange und starb erst mit 30 Jahren. Bei vielen anderen Kindern blieb Lorenzos Öl indes erfolglos, Experten sind überwiegend skeptisch und unerwähnt bleibt meistens auch, dass Lorenzo selbst seit seinem 15 Lebensjahr gelähmt und schwerst behindert war.

Quellen:

Weitere Informationen:

  • Der Bundesverein Leukodystrophie informiert Betroffene und Angehörige. Auch im Myelin-Projekt Deutschland haben sich Menschen zusammen gefunden, die an Entmarkungskrankheiten wie Multipler Sklerose oder Leukodystrophie leiden. Ebenso wie das amerikanische Vorbild, das Myelin-Project wirbt man auch für Spenden um die Forschung voran zu bringen, bei denen die „Isolierschicht“ der Nerven (das Myelin) zerstört wird. Gegründet wurde diese Organisation von Augusto und Michaela Odono, deren Suche nach einem Heilmittel für ihren Sohn Lorenzo die Vorlage für den Film Lorenzos Öl lieferte.
  • Gentherapie: Nebenwirkung Krebs. Ein Artikel von Focus-Redakteurin Claudia Gottschling über den ernüchternden Ausgang einer Studie, bei der elf Kinder mit einer seltenen Immunschwäche zunächst erfolgreich behandelt worden waren.
  • Lorenzos Öl – die vollständige Geschichte hieß ein Beitrag der BBC, der die Legende von einem Heilmittel gegen ALD in Zweifel zieht (auf englisch)

Stiche ins Gehirn lassen Nerven wachsen

Mit Akupunkturnadeln ist es Forschern der Universität von Süd-Florida gelungen, das Wachstum neuer Nervenzellen im Gehirn erwachsener Mäuse anzuregen. „Die punktgenaue Stimulation bestimmter Hirnregionen führte dazu, dass die Stammzellen der Tiere sich vermehrten, zu wandern begannen und die Selbstheilungskräfte stärkten“, berichtete Shijie Song auf der weltgrößten Versammlung von Hirnforschern, der Jahrestagung der Society for Neuroscience in Chicago.

Akupunktur als eine Art der chinesischen traditionellen Medizin wird seit tausenden Jahren eingesetzt, um Krankheiten zu behandeln und Schmerzen zu lindern, erinnerte Song. „Gegen fortschreitende Nervenkrankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Chorea Huntington hat die Akupunktur jedoch nichts gebracht“, bemerkte der chinesische Neurochirurg, der die Akupunktur selbst gelegentlich bei seinen Patienten anwendet hat.

Ursprünglich wollte Song mit seinen Experimenten fremde Zellen in das Gehirn der Versuchstiere verpflanzen. Dabei hatte er „eher zufällig“ bemerkt dass dort, wohin er mit seinen Führungsnadeln gestochen hatte, nach einiger Zeit neue Nervenzellen zu sprießen begannen. Sein Chef Juan Sanchez-Ramos sei zunächst skeptisch gewesen und habe ihm nicht geglaubt, sagte Song.

Zur Bestätigung entwarf Song dann weitere Experimente, bei denen er mit Akupunkturnadeln gezielt in verschiedene Punkte im Gehirn betäubter Labormäusen stach. Unter dem Mikroskop konnte der Neuroforscher mit seinen Kollegen danach mit einem grünen Leuchtstoff markierte Stammzellen aus dem Knochenmark beobachten, die in das Gehirn zum Ort der Verletzung einwanderten. Aus den Knochenmarks-Stammzellen entstanden offensichtlich neue Nervenzellen, und zwar auch in Hirnregionen, wo dieser Prozess („Neurogenese“) unter natürlichen Umständen nicht statt findet.

„Mit diesem Experiment gewinnen wir neue Einsichten in Vorgänge, die die Geburt neuer Nervenzellen regeln und die zu einer besseren Selbstheilung des Gehirns nach einem Schädeltrauma, Schlaganfall oder neurodegenerativen Erkrankungen führen könnten“, hoffen die Forscher. Bei einem Versuch mit Labormäusen, die als Modelltiere für die Alzheimer-Krankheit herhalten müssen, hätten die Nadelstiche ins Gehirn sogar die Gedächtnisstörungen der Nager lindern können, sagte Song.

In weiteren Studien will er jetzt die Signalwege erkunden, die durch die Nadelstiche angeregt wurden. Außerdem will das Forscherteam heraus finden, wie dauerhaft eingesetzte Nadeln mit und ohne elektrische Reizung die Selbstheilungskräfte des Gehirns anstoßen können.

Quelle:

  • Song, S. et al. Promotion of brain self-repair mechanisms by stereotaxic micro-lesions. Abstract 32.6 des 2009 Neuroscience Meeting Planner. Chicago, IL: Society for Neuroscience, 2009. Online.

Weitere Informationen:

Warnung vor Stammzelltherapie mit adulten Zellen

Wo verläuft die Grenze zwischen wissenschaftlich fundierten Heilversuchen und dem unseriösen, ja skrupellosen Geschäft mit der Hoffnung? Diese Frage ist im Gesundheitswesen mit seinem kaum durchschaubaren Geflecht an Interessensgruppen oft schwer zu beantworten. Sicher ist aber, dass diejenigen, die laut und meinungsstark für einen besseren Schutz verzweifelter Patienten plädieren, sich auf ein juristisches Minenfeld begeben. Gegendarstellungen, Abmahnungen samt „strafbewehrter Unterlassungserklärung“ und Klage auf Schadensersatz bedeuten dann meistens auch: Es geht um viel Geld.

Rudolf Jaenisch

Politisch engagiert und "sehr besorgt": Rudolf Jaenisch, gewann den Schering-Preis 2009 (Copyright: Jaenisch)

Zwischen 7545 Euro und 26000 Euro verlangt das XCell-Center von Patienten, die sich in Düsseldorf oder Köln Stammzellen aus dem Knochenmark entnehmen und diese nach einigen Tagen wieder in den Körper spritzen lassen. Mehr als 1600 Kranke hätten von diesem Angebot bereits Gebrauch gemacht, meldet das private Institut auf seiner Webseite. Unter den behandelten Krankheiten listet man dort die Amyothrophe Lateralskelerose (ALS), Alzheimer, Arthrose und Diabetes, Erektionsstörungen, die frühkindliche Zerebralparese, Arteriosklerose („Arterienverkal-kung“), die Makuladegeneration als häufigste Ursache der Blindheit, die Multiple Sklerose, die Parkinson-Krankheit, den Schlaganfall und schließlich Verletzungen des Rückenmarks bis hin zur kompletten Querschnittslähmung. Viele dieser Krankheiten gelten als unheilbar, bei manchen kann man auch mit Medikamenten nur wenig ausrichten.

Die gesetzlichen Krankenkassen – per Gesetz verpflichtet, nur das zu zahlen, was „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ ist – erstatten die Kosten der Eingriffe beim XCell-Center nicht. Patienten, die willens und in der Lage sind, die Behandlung aus eigener Tasche zu bezahlen, gibt es dennoch genug. Sie werden im In- und Ausland mit Anzeigen geworben – etwa bei Google, wo von „ersten Erfolgen bei der innovativen Stammzelltherapie in Deutschland“ zu lesen ist. Telefonische Ansprechpartner gibt es nicht nur für Deutschland, Österreich und Schweiz, sondern neben vielen anderen Ländern auch für die USA und Kanada, Australien und Neuseeland, Italien, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, für „russisch sprechende Personen“ und für den Nahen Osten.

„Versprechungen ohne Basis

Seit Januar 2007 läuft das Geschäft, doch nun wollen Neurologen wie Grundlagenforscher dem offenbar nicht länger zusehen. „Diese Versuche entbehren jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und ich bin sehr besorgt, dass hier zum Teil Versprechungen gemacht werden, die überhaupt keine Basis haben und die verzweifelte Patienten dazu bringen, 20000 Euro auszugeben“, sagte Rudolf Jaenisch, einer der Pioniere der Stammzellforschung, als er kürzlich in Berlin den Ernst Schering Preis entgegen nahm. Es sei „erstaunlich dass solche so genannten Kliniken so etwas überhaupt anbieten dürfen“, kritisierte der deutschstämmige Wissenschaftler, der 1984 das renommierte Whitehead Institute of Biomedical Research mitbegründet hat und der als Professor am Massachusetts Institute of Technology eine große Forschergruppe leitet. Als hätte man Jaenischs Worte unterstreichen wollen, lobte man den „Vater“ der ersten gentechnisch veränderten Maus bei der Preisvergabe auch noch für seine „besonnene und ethisch-verantwortungsvolle Beteiligung an der politischen Diskussion zur Forschung an menschlichen Stammzellen“.

„Ich dachte, es hilft“

Am gleichen Tag gingen auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Parkinson-Gesellschaft mit einer gemeinsamen Stellungsnahme erneut in die Offensive. „Der Behandlung von Parkinson-Patienten mit so genannten adulten Stammzellen fehlt nach dem aktuellen Kenntnisstand jeglicher Nutzen“, sagte DGN-Vorstandsmitglied Wolfgang Oertel bei einer Pressekonferenz in Nürnberg. Als „Kronzeugin“ präsentierte Oertel die Patientin Petra Aschenbeck, die sich am XCell-Center gegen ihre Parkinson-Krankheit hatte behandeln lassen. „Ich dachte es hilft, aber nach fünf Wochen ging es mir schlechter als zuvor“, so die frühere Standesbeamtin. Ohne Rücksprache mit ihrem Neurologen hatte sie sich zunächst Knochenmark aus dem Hüftknochen entnehmen lassen, die darin enthaltenen Stammzellen seien ihr dann wieder infundiert worden. „Anderen würde ich das nicht empfehlen“, sagte Aschenbeck und will die 7500 Euro nun gerichtlich wieder einklagen, die ihre Eltern für die Behandlung vorab bezahlt hatten. Oertel sind mindestens 15 ähnliche Fälle bekannt, „darunter einige, die gar nicht an Parkinson litten“. Die Krankengeschichten all dieser Patienten sollen nun dokumentiert und in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht werden, kündigte Oertel an.

Auch bei XCell ist man indes nicht untätig. Schon wenige Tage nach den geballten Vorwürfen, ohne wissenschaftliche Grundlage zu arbeiten, erschienen auf der Webseite des Instituts mehrere Auswertungen, die den Erfolg der Behandlungen dokumentieren sollen. So seien bei der „statistischen Nachevaluierung“ von 30 Patienten mit einer Cerebralparese bei fast 70 Prozent der mit adulten Stammzellen behandelten Patienten eine Verbesserung ihrer Symptome festgestellt worden. Und weiter: „Bei 40 % der behandelten Patienten wurde eine Besserung der Sprachfähigkeit beobachtet. Bei 20 % der Fälle wurde ein signifikanter Rückgang oder ein komplettes Fernbleiben epileptischer Anfälle beobachtet.“ Ähnliche Stabdiagramme sollen die Ergebnisse einer Studie mit 19 Patienten mit Multipler Sklerose dokumentieren. Anderswo berichtet man über eine „Studie mit 53 unserer Patienten mit amyotropher lateraler Sklerose“.

Doch die vom XCell-Center gegen die ALS eingesetzten, unveränderten adulten Stammzellen halten die weltweit führenden Forscher auf diesem Gebiet für aussichtslos. So drehte sich zwar bei einem Symposium der Delambre Stiftung im kanadischen Quebec Ende September eine ganze Sitzung um Stammzellen – allerdings nur um solche, die aus Embryonen stammen oder die aus Patienten gewonnenen und anschließend mit Hilfe der Gentechnik „umprogrammierten“ so genannten induzierten, pluripotenten Stammzellen („Ipsen)“. Sie sollen für Tierversuche und für Medikamententests erprobt werden (englischsprachiger Bericht dazu bei Alzforum.org).

Die weltweit erste Sicherheitsstudie, bei der ALS-Patienten im Labor veränderte Stammzellen erhalten sollen, hatte die US-Zulassungsbehörde FDA eine Woche zuvor genehmigt. Nun sollen zunächst 12 von 18 Freiwilligen unter der Leitung von Eva Feldmann an der Emory-Universität in Atlanta behandelt werden, sofern das dortige Ethik-Kommittee den Versuch genehmigt. Dann erst dürfen die Ärzte den Patienten die geplanten fünf bis zehn Injektionen mit aus dem Rückenmark gewonnenen und im Labor veränderten „neuralen Stammzellen“ verabreichen. Die Probanden würden dann in regelmäßigen Abständen nach der Therapie untersucht und die Daten abschließend nach zwei Jahren beurteilt, kündigte der Hersteller der patentierten Zellen, die Firma Neuralstem an.

In den USA braucht die Therapie eine Genehmigung, in Deutschland nicht

Der Genehmigung durch die FDA waren mehrmonatige Prüfungen voran gegangen, bei denen die Zulassungsbehörde von Neuralstem auch Änderungen des Studienprotokolls verlangt hatte, um die Sicherheit des Experiments zu erhöhen. In Deutschland dagegen sind sich die Juristen noch uneins, ob die am XCell-Center angebotenen Therapien mit der jüngsten Änderung des Arzneimittelgesetzes am 23. Juli dieses Jahres genehmigungspflichtig wurden. Falls dem so wäre, könnte man sich in Düsseldorf immer noch auf eine Übergangsregelung berufen. Sie gilt EU-weit bis Ende 2012.

Skeptisch macht, dass die hauseigenen „Studien“ auf der Webseite des Unternehmens allesamt ohne Vergleichsgruppe sind. Ohne aber zu wissen, wie es vergleichbaren Patienten mit einer Scheinbehandlung (Placebo) ergangen wäre,  kann niemand sagen, wie wirksam die Stammzellkur gegenüber herkömmlichen Therapien tatsächlich ist. Die Berichte einzelner Patienten über eine Besserung ihrer Beschwerden könnten angesichts des schwankenden Verlaufs etwa der Multiplen Sklerose oder der Parkinson-Krankheit durchaus auf zufälligen Veränderungen beruhen.

Parkinson-Experte Wolfgang Oertel (Foto: DGN)

Parkinson-Experte Wolfgang Oertel (Foto: DGN)

XCell-Beirat: Keine Publikationen zu Stammzellen

Auffällig ist, dass keiner der XCell-Mitarbeiter sich bislang mit Publikationen über Stammzellen hervor getan hat. Denn wer unter Wissenschaftlern etwas gelten will, dokumentiert seine Leistungen am besten dadurch, dass er seinen Kollegen in anerkannten Fachzeitschriften die Ergebnisse seiner Arbeit zum nachlesen präsentiert. In diesem Fall fördert eine kurze Literatursuche bei Pubmed für den XCell-Kritiker Jaenisch 154 Publikationen über Stammzellen zutage. Dagegen findet sich für die drei laut X-Cell-Center „internationalen Experten“ des eigenen wissenschaftlichen und medizinischen Beirats zu diesem Thema keine einzige Veröffentlichung. Wolfgang Oertel hat über 450 Originalpublikationen vorzuweisen – die meisten davon über die Parkinson-Krankheit – und auch hier geht der XCell-Beirat leer aus.

Womöglich floriert das Unternehmen auch deshalb, weil die dort beworbenen „adulten“, also „erwachsenen“ Stammzellen hierzulande von vielen Politikern als Königsweg aus einem ethischen Dilemma gesehen werden: Als James Thomson an der Universität von Wisconsin 1998 erstmals menschliche embryonale Stammzellen (ES) isoliert hatte,  glaubte die überwiegende Mehrzahl der Experten, das diese ES-Zellen die besten Kandidaten für eine Therapie am Menschen seien (siehe Hintergrund: Stammzellen – Hoffnungsträger mit Risiken). Diese Zellen hatte Thomson jedoch aus wenige Tage alten, „überzähligen“ menschlichen Embryonen gewonnen, die in amerikanischen Kliniken mit einer künstlichen Befruchtung gezeugt und dann nicht mehr benötigt wurden, weil sich der Wunsch der Eltern nach einem Kind bereits erfüllt hatte. Nun gilt Thomson zwar mittlerweile als Kandidat für den Nobelpreis, in Deutschland würde seine Art der „Fremdnutzung“ menschlicher Embryonen jedoch mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.

Kein Wunder, dass auch viele Forscher jubilierten, als in angesehenen Fachzeitschriften Berichte erschienen, die den Anschein erweckten, dass Stammzellen erwachsener Menschen – etwa aus dem Knochenmark – sich ebenfalls durch Zugabe bestimmter Proteine und Wachstumsfaktoren umformen und fast unbegrenzt vermehren ließen. Das Ethik-Problem schien gelöst, als auch noch erste Erfolgsberichte aus der klinischen Forschung kamen. „Man muss keine Embryonen töten, um kranken Menschen zu helfen“, folgerte etwa der CDU-Vize und frühere Forschungsminister Jürgen Rüttgers aus dem Schicksal eines einzigen Herzinfarktpatienten. Heute ist Rüttgers Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, eben jenes Bundeslandes, wo das XCell-Center seinen Sitz hat. Ende August gab das Ordnungsamt der Landeshauptstadt Düsseldorf dem XCell-Center die Erlaubnis zum Betrieb einer Privatkrankenanstalt nach § 30 der Gewerbeordnung. Seitdem darf man sich auch offiziell „Klinik“ nennen.

Doch die Berichte über die Wandlungsfähigkeit und die Heilkraft der adulten Stammzellen seien „nicht glaubwürdig“ und „überholt“, ärgert sich Jaenisch. „Wenn man sich das genau anschaut, gibt es längst andere Interpretationen, die Daten sind einfach nicht überzeugend“. Adulte Stammzellen seien zwar „unglaublich wichtig“, es müsse aber vor deren Anwendung bei menschlichen Patienten noch sehr viel mehr gelernt werden. „Ich weiß, dass dies auch bei Herzerkrankungen hier in Deutschland in großem Stil gemacht wird – aber ich würde es bei mir nicht machen lassen“, urteilte Jaenisch in Berlin. In Nürnberg schlug Oertel in die gleiche Kerbe und appellierte an den Gesetzgeber, derartigen Behandlungsangeboten einen eindeutigen Riegel vorzuschieben.

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Stammzellen – Hoffnungsträger mit Risiken

Was jeder über Stammzellen wissen sollte, findet sich in einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Ich gebe sie hier nur leicht verändert wieder, habe noch einige Informationen und Links hinzu gefügt und mir vorgenommen, diesen Text aktuell zu halten, damit Sie auf dem Laufenden bleiben:

(Letzte Aktualisierung am 6. Oktober 2009) Nur wenige wissenschaftliche Entdeckungen werden in der Öffentlichkeit derart kontrovers diskutiert und teilweise auch mit großen Hoffnungen betrachtet, wie die Möglichkeit, Stammzellen zur Therapie menschlicher Erkrankungen zu nutzen. Viele Patienten, aber auch unabhängige Forscher sowie zahlreiche Biotechnologie-Unternehmen und deren Aktionäre erhoffen sich, Stammzellen in ihrer Entwicklung so zu lenken, dass daraus eine unerschöpfliche Quelle für Ersatzgewebe wird – seien es Insulin-produzierende Zellen für Zuckerkranke, neue Herzmuskeln für Infarktgeschädigte oder speziell in der Neurologie: Nervenzellen für Schlaganfall-, Parkinson- oder Alzheimerpatienten.

Stammzell-Typen

Stammzellen sind Zellen der Körpers, die sich selbst vermehren und aus denen andere Zelltypen hervorgehen können. Je nach Art der Stammzelle (SZ) und je nachdem, welche Einflüsse auf sie wirken, können sie jegliche Art von Gewebe bilden (totipotente SZ) oder ihre Entwicklung ist auf bestimmte, festgelegte Gewebetypen beschränkt (pluripotente SZ).

Stammzellen lassen sich gemäß ihrer Herkunft unterscheiden in: embryonale (aus dem Embryo), fetale (aus dem Fötus, also ab der neunten Schwangerschaftswoche) und adulte (von Säuglingen, Kindern, Erwachsenen) Stammzellen. Auch in den Organen erwachsener Menschen finden sich nämlich teilungsfähige Zellen, die Nachschub für verbrauchte Zellen oder Ersatz bei Verletzungen liefern, seien es blutbildende Stammzellen im Knochenmark, Keimzellen im Hoden oder neuronale Stammzellen im Gehirn.

Zehn Jahre intensive Forschung – und ethische Barrieren

James Thomson von der Universität von Wisconsin gelang es 1998 erstmals, menschliche embryonale Stammzellen (ES) zu isolieren und über mehrere Jahre hinweg glaubte die überwiegende Mehrzahl der Experten, das die ES-Zellen die besten Kandidaten für eine Therapie am Menschen seien. Denn es galt die Faustregel: Je früher in der Entwicklung Stammzellen gewonnen werden, desto wandlungs- und anpassungsfähiger sind sie auch. Die Herkunft von Thomsons ES-Zellen stellt indes für viele ein ethisches Problem dar, denn sie wurden aus wenige Tage alten, „überzähligen“ menschlichen Embryonen gewonnen, die in amerikanischen Kliniken mit einer künstlichen Befruchtung gezeugt und dann nicht mehr benötigt wurden, weil sich der Wunsch der Eltern nach einem Kind bereits erfüllt hatte. In Deutschland ist diese „fremdnützige“ Erzeugung menschlicher Embryonen gesetzlich verboten und in den USA hatte der damalige Präsident George W. Bush die staatliche Förderung für die Erforschung menschlicher embryonaler Stammzellen stark beschränkt. Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma eröffnete im Jahr 2006 der Japaner Shinya Yamanaka, dem es gelang, Hautzellen der Maus genetisch so zu verändern, dass daraus unterschiedliche Zelltypen heran gezüchtet werden konnten. 2007 gelang das Kunststück dann auch mit menschlichen Hautzellen. Seitdem ist die Herstellung dieser so genannten Ipse (ein Kunstwort für induzierte pluripotente Zellen) immer weiter perfektioniert worden.

Risiken von Stammzellen

Ein Risiko bei der „Umprogrammierung“ von SZ mit fremden Genen oder Viren ist, dass dies die Stammzellen entarten, unkontrolliert zu wachsen beginnen und dadurch eine Krebserkrankung entstehen könnte. In Tierversuchen wurde dies wiederholt beobachtet und Wissenschaftler haben deshalb verschiedene Systeme entwickelt, um mit möglichst wenig „Programmierschritten“ auszukommen. Erst vor wenigen Wochen gelang es Beispielsweise dem Team um Professor Hans Schöler am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster, adulte menschliche Zellen mit einem einzigen eingeschleusten Gen in ethisch wie juristisch unbedenkliche Ipse zu verwandeln.

Trotz der rasanten Fortschritte auf diesem Gebiet halten die meisten Fachleute eine Anwendung am Menschen noch für verfrüht. Dessen ungeachtet haben weltweit mehrere Firmen ein regulatorisches Vakuum genutzt, um „Stammzelltherapien“ anzubieten, darunter auch das XCell-Center mit Sitz in Köln und Düsseldorf, das nach eigenen Angaben bereits Tausende von Patienten behandelt hat – ein Vorgehen das von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie angesichts der noch nicht evaluierten Therapiesicherheit heftig kritisiert wird.

Kurze Geschichte der Stammzellforschung (mit ausgewählten Links)

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Virusfreie Stammzellen aus dem Hoden

Der Hoden ist ein empfindliches Organ und ein erstaunliches dazu.

Selten habe ich einer Pressemitteilung einen schöneren Einstieg gelesen, als in dieser Veröffentlichung der Max-Planck-Gesellschaft. Die Kollegen weisen damit auf einen bemerkenswerten Artikel hin, der soeben in der Fachzeitschrift Cell Stem Cell (die heißt wirklich so!) erschienen ist und mit dem wieder einmal dokumentiert wird, dass auch deutsche Stammzellforscher international in der ersten Liga mitspielen.

Die Leistung, um die es hier geht, besteht darin, dass ein Team um Kinarm Ko und Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster erstmals „einen klar definierten Zelltyp aus dem Hoden erwachsener Mäuse gezüchtet und diesen ohne eingeschleuste Gene, Viren oder Reprogrammierungsproteine in pluripotente Stammzellen umgewandelt“ hat. Stammzellen, dies zur Erinnerung, sind jene Tausendsassas, von denen sich viele Experten eine unerschöpfliche Quelle von Ersatzgeweben versprechen – seien es Insulin-produzierende Zellen für Zuckerkranke, neue Herzmuskeln für Infarktgeschädigte oder spezialisierte Nervenzellen für Parkinson- oder Alzheimerpatienten.

Sichere Stammzellen aus Mäusehoden: Kinarm Ko (Foto: MPI Münster / Jeanine Müller-Keuker) Züchtete „sichere“ Stammzellen aus Mäusehoden: Dr. Kinarm Ko (Foto: MPI Münster / Jeanine Müller-Keuker)

Natürlich ist das noch Zukunftsmusik. Und obwohl Kliniken wie das umstrittene XCell-Center mit Sitz in Köln und Düsseldorf nach eigenen Angaben bereits Tausende von Patienten behandelt haben, halten renommierte Forscher wie Schöler den Einsatz dieser Technik am Menschen zum jetzigen Zeitpunkt noch für verfrüht. Zu groß seien die Risiken und noch immer sei viel zu wenig bekannt über das Verhalten transplantierter Stammzellen für derartige Menschenexperimente.

Zurück zum Hodem, dem gleichermaßen empfindlichen wie erstaunlichen Organ: Männer bilden dort bis ins hohe Alter neue Spermien, mit denen unter Mitwirkung einer hinreichend willigen (mehr oder weniger jungen) Frau Kinder gezeugt werden können. Dies nahmen Forscher als Hinweis dafür, dass Zellen aus dem Hoden ein ähnlich großes Potential haben, wie Stammzellen aus Embryonen und dass die Hodenzellen womöglich ebenfalls jeden der mehr als 200 Zelltypen des menschlichen Körpers bilden können.

Tatsächlich hatten in den vergangenen Jahren gleich mehrere Forschergruppen ihren Erfolg verkündet. Allerdings – so Schölers Kritik – seien die betreffenden Studien heftig umstritten, die vorgelegten Daten widersprüchlich und die wahre Herkunft der Zellen unklar. In Münster wollte man deshalb auf Nummer Sicher gehen, weshalb Kinarm Ko mit seinem Team zunächst aus dem Hoden erwachsener Mäuse einen genau definierten Typ von Zellen züchtete, die so genannten Keimbahn-Stammzellen. Die können in ihrem natürlichen Umfeld ausschließlich Spermien bilden oder sich selbst vermehren. Als die Münsteraner Forscher die Keimbahn-Stammzellen jedoch auf neue Kulturschalen verteilten, wo sie mehr Platz hatten, führte dies bei einigen wenigen unter ihnen zu einer Art Neustart: Sie hatten sich selbst reprogrammiert. Weder hatten Ko und seine Mannschaft dafür fremde Gene einschleusen müssen, noch hatten sie Viren als Helfer benötigt oder einen der anderen Tricks benutzt, mit denen Molekularbiologen die Entwicklung von Stammzellen zu steuern versuchen.

Unter Sicherheitsaspekten ist dies ein großer Vorteil, denn es wird befürchtet, dass fremde Gene oder Viren bei einer Anwendung am Menschen zu einer Entartung der Stammzellen und damit zu Krebs führen könnten. Dass die umgewandelten Hoden-Keimbahn-Stammzellen (engl. „germline-derived pluripotent stem cells“, gPS) sowohl Herz- als auch Nerven oder Gefäßwandzellen bilden können, haben die Max-Planck-Forscher mittlerweile bewiesen. Und im Tierexperiment konnten sie zudem zeigen, dass die aus dem Hoden gewonnen Zellen ihr Erbgut in die nächste Generation übertragen können.  Einen Schönheitsfehler hat der jüngste Fortschritt aber doch: Noch ist noch völlig offen, ob das Verfahren sich von Mäusen auch auf Menschen übertragen läßt, betonen die Wissenschaftler. Vieles spreche jedoch dafür, „dass die gPS-Zellen hinsichtlich der Einfachheit ihrer Herstellung und ihrer Sicherheit alle bisher künstlich reprogrammierten Zellen übertreffen“.

Quelle: Kinarm Ko, Natalia Tapia, Guangming Wu, Jeong Beom Kim, Marcos J Araúzo-Bravo, Philipp Sasse, Tamara Glaser, David Ruau, Dong Wook Han, Boris Greber, Kirsten Hausdörfer, Vittorio Sebastiano, Martin Stehling, Bernd K. Fleischmann, Oliver Brüstle, Martin Zenke, und Hans R. Schöler. Induction of pluripotency in adult unipotent germline stem cells. Cell Stem Cell, 02. Juli 2009, doi:10.1016/j.stem.2009.05.025

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Stammzellen ohne Viren

Mit neuen Techniken ist es britischen und kanadischen Forschern gelungen, Hautzellen umzuprogramieren, sodass diese die Eigenschaften embryonaler Stammzellen angenommen haben, berichtet das Wissenschaftsmagazin „Nature“ in seiner Online-Ausgabe (K. Kaji et. al Nature doi:10.1038/nature07864; 2009, K. Woltjen et al. Nature doi:10.1038/07863; 2009). Weil die Wissenschaftler dabei ohne den Einsatz von Viren auskamen, wächst nun erneut die Hoffnung auf sichere Therapien für bislang unheilbare Krankheiten, ohne dass dafür menschliche Embryonen geopfert werden müssten.

Ihren Fortschritt erzielte eine Gruppe von Wissenschaftlern am Zentrum für Regenerative Medizin des Medical Research Council der Universität Edinburgh in Schottland, indem sie zunächst vier ausgewählte Gene aneinander klebte. Diese „Kassette“ verfrachteten die Forscher dann in Hautzellen von Menschen und Mäusen, wonach diese Zellen sich zurück entwickelten in ein Stadium wie am Anfang der Embryonalentwicklung. Zumindest im Mausversuch, nicht aber mit den menschlichen Zellen ist es den Wissenschaftlern des zweiten Teams an der Universität Toronto (Kanada) zudem gelungen, die eingeschleusten Genkassetten nach getaner Arbeit mit einem Enzym (Transposase) wieder restlos zu entfernen. Dies sei ein bedeutender Schritt nach vorne, allerdings befinde man sich noch am Anfang der Entwicklung, warnten die Experten vor verfrühten Hoffnungen.

Die Pioniere der Stammzellforschung hatten seit 1998 zunächst mit Material gearbeitet, das aus wenige Tage alten Embryonen gewonnen wurde. Diese waren vorwiegend in US-amerikanischen Befruchtungskliniken „übrig geblieben“ und von den Eltern für die Forschung gespendet worden, nachdem deren Kinderwunsch in Erfüllung gegangen war. Von Kritikern wird die Arbeit mit menschlichen embryonalen Stammzellen jedoch als unethisch betrachtet, während Wissenschaftler in Deutschland und – durch Gesetze, die der Ex-Präsident George W. Bush erließ – auch in den USA, sich durch allzu strenge gesetzliche Auflagen behindert sehen.

Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma eröffnete im Jahr 2006 der Japaner Shinya Yamanaka, dem es gelang, Hautzellen der Maus genetisch so zu verändern, dass daraus unterschiedliche Zelltypen heran gezüchtet werden konnten. 2007 gelang das Kunststück dann auch mit menschlichen Hautzellen. Seitdem ist die Herstellung dieser so genannten Ipse (ein Kunstwort für induzierte pluripotente Zellen) immer weiter perfektioniert worden, bis zuletzt das renommierte Wissenschaftsmagazin „Science“ die vielen kleinen Fortschritte zum „Durchbruch des Jahres 2008“ wählte.

Yamanaka hatte unter 30 verschiedenen Genen, die bei der Entwicklung von Säugetieren eine wichtige Rolle spielen, eine Kombination von nur vier Genen gefunden, die genügten, um die Hautzellen scheinbar in einen früheren Entwicklungszustand zurück zu versetzen. Allerdings hatte Yamanaka wie auch seine Kollegen in anderen Ländern so genannte Retroviren gebraucht, um die fraglichen Gene in die Hautzellen hineinzubringen. Diese Viren wiederum galten als Sicherheitsrisiko, denn man befürchtete, dass sie sich in den Hautzellen an den falschen Stellen festsetzen und dort Gene aktivieren könnten, die Krebs auslösen. Auch als es dem Österreicher Konrad Hochedlinger im Vorjahr an der Universität Harvard gelang, die Retroviren zunächst bei Mäusen durch vergleichsweise harmlose Schnupfenviren zu ersetzen, war die ideale Lösung noch nicht gefunden.

Nicht einmal er selbst habe daran geglaubt, dass man Ipsen ohne Viren herstellen könne, gestand der Leiter des Teams aus Edinburgh, Keisuke Kaji. „Dies ist ein Schritt vorwärts auf dem Weg zum Einsatz reprogrammierter Zellen in der medizinischen Praxis, der vielleicht sogar den Einsatz menschlicher Embryonen als Quelle für Stammzellen überflüssig macht“, so Kaji. Allerdings müsse der Prozess noch effizienter werden. Kajis Mitautor Professor Andras Nagy von der Universität Toronto (Kanada) fügte hinzu, er hoffe, „dass diese Stammzellen die Grundlage bilden werden für die Behandlung zahlreicher Krankheiten, die heute noch als unheilbar gelten“. Nagy gab sich zuversichtlich, dass es seinem Team auch noch gelingen wird, die Spuren der Manipulation bei menschlichen Zellen komplett zu beseitigen.

Ursprünglich hatten Kaji und Nagy unabhängig voneinander nach einer besseren Methode gesucht, um Ipsen herzustellen. Bei einer zufälligen Begegung stellten sie jedoch fest, dass jeder bereits eine Hälfte des Rätsels gelöst hatte, und so beschlossen sie, die beiden Ansätze miteinander zu kombinieren. Kajis Verdienst ist es, die vier Entwicklungsgene für die Reprogrammierung zu einem Fragment vereinigt zu haben, das sich in die Zellen hineinbringen und wieder entfernen lässt. Nagy hingegen hatte eine Methode gefunden, um die Spuren dieses Eingriffes anscheinend komplett zu beseitigen – allerdings war es ihm nicht gelungen, die vier Gene zu einer Einheit zu bündeln.

Denkbar ist es, dass selbst der Gentransfer zur Herstellung von Ipse irgendwann überflüssig wird. Dazu müsste es gelingen, die Neuprogrammierung beispielsweise mit Hilfe einer Kombination von Wachstumsfaktoren in die Wege zu leiten, die man dem Nährmedium zugibt. Stammzellen embryonaler Herkunft lassen sich mit dieser Technik zu den verschiedensten Zelltypen weiterentwickeln; mit bereits ausgewachsenen (adulten) Zellen hat dies aber trotz ungezählter Versuche noch nicht geklappt.

Mit den beiden Gruppenleitern freute sich auch Professor Ian Wilmut, Direktor des Forschungszentrums in Edinburgh und „Vater“ des Klonschafes Dolly. Zwar werde es noch einige Zeit dauern, bis man die neuen Zellen an den ersten Patienten erproben kann und man müsse erst noch eine Methode finden, um aus den neuen Ipsen die gewünschten Zellarten herzustellen. „Aber ich glaube, das Team hat einen großen Fortschritt erzielt und wenn wir diese Arbeit mit der von anderen Gruppen kombinieren gibt es Hoffnung, dass das Versprechen der Regenerativen Medizin sich bald erfüllen könnte.“

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