Zum Hauptinhalt springen

Schwachstrom schmilzt Fett weg

San Diego. Erstmals ist es Wissenschaftlern gelungen, durch die elektrische Stimulation des Vestibularnervs den Anteil des Körperfetts beim Menschen zu senken. Dabei hätten die Studienteilnehmer weder ihre Ernährung verändert, noch ihre körperlichen Aktivitäten, berichtete der Erstautor der Studie, Jason McKeown vom Center for Brain and Cognition der University of California San Diego auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience.

Zehn übergewichtige Freiwillige trugen dafür bis zu vier Mal pro Woche eine Stunde lang Kopfhörer-ähnliche Geräte, die so konstruiert waren, dass sie hinter den Ohren durch die Haut den Vestibularnerv reizten. Während sieben Personen jeweils für eine Stunde einen schwachen Wechselstrom von 0,5 Hertz und maximal 2 Milliampere erhielten, bekamen drei weitere lediglich eine Scheinstimulation. Mit dieser Methode der „Galvanisch-Vestibulären Stimulation“ (GVS) verloren die sieben tatsächlich behandelten Freiwilligen im Vergleich zur Kontrollgruppe durchschnittlich etwas mehr als acht Prozent Körperfett. Maximal waren es während der 15-wöchigen Studie sogar 16 Prozent, so McKeown.

Das sogenannte Labyrinth im Innenohr des Menschen hilft nicht nur das Gleichgewicht zu bewahren. Es ist womöglich auch an der Regulation des Körperfettes beteiligt (Zeichnung von Henry Gray aus Anatomy of the Human Body. Via Wikipedia. Public Domain)

Ausgangspunkt des ungewöhnlichen Experiments waren Beobachtungen, wonach Ratten und Mäuse unter dauerhaft erhöhter Schwerkraft ihren Körperfettanteil von etwa 20 auf 5 Prozent reduzieren. Dass die veränderte Körperzusammensetzung keine unspezifische Folge der erhöhten Schwerkraft ist, zeigen ähnliche Beobachtungen bei Mausmutanten, denen das otolitische Organ im Innenohr fehlt, welches Informationen zur Beschleunigung des Körpers an den Vestibularnerv sendet. Der wiederum läuft zum Hirnstamm und hat von dort aus eine Verbindung zum Hypothalamus, einer Hirnregion, die unter anderem die Fettspeicher des Körpers mitreguliert.

McKeown, der diese Studie als Gastwissenschaftler  im Labor von Vilayanur Ramachandran durchgeführt hat, schloss daraus, dass die Veränderung der Körperzusammensetzung durch einen Signalweg unter Beteiligung des Vestibularnervs und des Hypothalamus vermittelt wird.  Sein GVS-Gerät, dem er den Namen „Stimu Slim“ gegeben hat, sollte diese Hypothese testen.

In einer zweiten Studie mit sechs Übergewichtigen schalteten die Forscher ihren Stimulator jeweils eine Stunde vor dem Frühstück an. Noch während der Stimulation änderten sich daraufhin die Mengen der Hormone Insulin (es reguliert die Aufnahme von Zucker in die Zellen) und Leptin (signalisiert Hunger) derart, als ob die Probanden gerade eine Mahlzeit zu sich genommen hätten. Als die Forscher nach einer echten Stimulation und nach einer Scheinstimulation nach dem Hungergefühl fragten, blieb der Hunger unter der GVS gleich, bei einer Scheinbehandlung allerdings wurde er immer größer.

„Schon lange gibt es die Idee, dass der Hypothalamus eine Art Fixpunkt einstellt, der bestimmt, wie viel Fett der Körper speichern soll“, erklärt McKeown. Dieser Mechanismus sollte eigentlich vor Fettleibigkeit schützen, könne aber womöglich durch lange Zeiten im Übergewicht entgleisen. „An diesem Punkt wird es dann zunehmend schwieriger, durch eine Diät das Körperfett dauerhaft zu reduzieren, weil der Fixpunkt nun so eingestellt ist, dass zusätzliches Fett gespeichert wird“, sagt McKeown. Dass man durch die GVS das Körperfett beim Menschen reduzieren könne sei nun erstmals gezeigt worden, sagen die Forscher. „Angesichts der globalen Gesundheitskrise durch die Zunahme von Übergewicht könnte eine weitere Erkundung der Vestibularnerv-Stimulation einen möglichen Weg zur Therapie bieten“, lautete ihre Schlussfolgerung in San Diego.

Wie weitere Recherchen ergaben, ist McKeown mit seinem Kollegen Paul McGeoch schon einen Schritt weiter: Die beiden haben die in Irland ansässige Firma NeuroValens gegründet. Sie soll Stimu Slim ab dem kommenden Jahr produzieren und das Gerät an Übergewichigte wie auch Normalgewichtige verkaufen, die damit ihren Körper mühelos „entfetten“ wollen. Einem Pressebericht zufolge hätte die Markteinführung bereits in 2016 erfolgen sollen, auf der Webseite wurde sie nun für 2017 angekündigt.

Quelle:

McKeown J et al. Modulation of body mass composition using galvanic vestibular stimulation. Abstract 95.07, Society for Neuroscience 46th annual meeting, San Diego, 12. November 2016

Neues Werkzeug für die Hirnforscher

San Diego. US-amerikanische Neurowissenschaftler haben aus dem Erbgut eines Fisches ein Gen isoliert, mit dem die Tiere elektromagnetische Felder erspüren können. Außerdem ist es den Forschern gelungen, das Gen in Rattenhirne einzupflanzen und damit epileptische Anfälle zu unterdrücken. Über ihre Entdeckung berichtete die Arbeitsgruppe um Galit Pelled von der Radiologischen Abteilung der Johns Hopkins Universität (Baltimore) auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience.

indische-glaswelse-wikipedia

Aus Indischen Glaswelsen – hier im Aquarium des Frankfurter Zoos – haben Hirnforscher ein Gen isoliert, das es den Tieren ermöglicht, auf elektromagnetische Felder zu reagieren (Foto: Martin Fisch via Wikipedia [CC BY-SA 2.0])

Zwar hat es in den vergangenen Jahren große Fortschritte darin gegeben, Nervenzellen in lebenden Organismen und ausgewählten Schaltkreisen des Gehirns nach Belieben an- und auszuschalten. „Diese Methoden erfordern jedoch den Einsatz von Glasfaserkabeln, Medikamenten, Radiowellen oder Ultraschall“, sagt Jineta Banerjee, die in San Diego eine der beiden Arbeiten aus Pelleds Gruppe präsentiert hat. Die Entdeckung von Genen, die auf nicht-invasive elektromagnetische Felder reagieren, sei noch ganz am Anfang, so Banerjee.

Fündig wurden die Wissenschaftler im Indischen Glaswels (Kryptopterus bicirrhis), von dem man weiß, dass er wie einige andere Wasserbewohner auch sich mithilfe von elektromagnetischen Feldern orientiert. Beim Glaswels ist daran offenbar das bislang unbekannte „electromagnetic perceptive gene“ (EPG) beteiligt. Dieses Gen haben die Forscher nun isoliert, an ein zusätzliches Reportergen gekoppelt, und anschließend im Labor in Nervenzellen eingebaut.

Zwar gelang dies zunächst nur mit exakt neun Nervenzellen. Als die Forscher jedoch für jeweils 10 Sekunden elektromagnetische Felder auf die Zellkultur abstrahlten, öffnete das EPG Ionenkanäle in der Zellmembran. Dank des Reportergens konnten die Forscher beobachten, wie sich unmittelbar darauf im Zellinneren die Konzentration von Kalziumionen um etwa 20 Prozent erhöhte – ein typisches Verhalten für aktivierte Nervenzellen.

„Wir erwarten, dass diese Entdeckung das Potenzial hat, die Neurowissenschaften zu transformieren“, schreiben die Forscher eher unbescheiden in die Schlussfolgerungen ihrer Arbeit.

Zumindest im Tiermodell haben sie allerdings auch gleich gezeigt, wie die neue Technik eingesetzt werden kann, um Krampfanfälle zu verhindern: Sie nutzen dafür Ratten, denen man Kainsäure ins Nervensystem gespritzt hatte, sodass die Tiere regelmäßig epileptische Anfälle entwickelten.

Einem Teil der Tiere injizierten die Forscher dann Viren, die das EPG in die Hirnregion des Hippocampus einschleusten; eine zweite Gruppe bekam zum Vergleich die gleichen Viren ohne EPG. Zwei Wochen danach zählten die Wissenschaftler, wie häufig die Ratten Krampfanfälle bekamen. Bei Tieren mit dem EPG sank die Zahl von ursprünglich 17 am Tag um beinahe 50 Prozent auf 9, in der Kontrollgruppe dagegen ging die Zahl der Anfälle nur um 16 Prozent zurück. Möglicherweise hätte bereits die aufkommende elektrische Aktivität zu Beginn eines Krampfanfalls das EPG aktiviert, und so den Ausbruch unterbunden, spekulieren die Wissenschaftler.

Als sie nochmals zwei Wochen später ihr Experiment wiederholten und diesmal das EPG durch ein elektromagnetisches Feld aktivierten, sank die Zahl der Krampfanfälle erneut – und zwar um etwa 80 Prozent auf durchschnittlich nur noch 3,6.

„Diese vorläufigen Daten legen nahe, dass die drahtlose Aktivierung von EPG durch elektromagnetische Felder oder möglicherweise die elektromagnetischen Veränderungen durch die Krampfanfälle selbst die Attacken unterdrücken können“, sagte der Medizinstudent Benjamin Theisen, der bei diesem Experiment federführend war, im Namen seiner Kollegen. Und auch diese Präsentation endete mit einer sehr optimistischen Einschätzung: „Weitere Untersuchungen könnten zu einer neuen, nicht-invasiven Alternative zu den gegenwärtigen klinischen Standards führen.“

Quellen:

Beeinflussen Darmbakterien die Hirnleistung?

San Diego. Kleinkinder, die in ihrem Darm einen bestimmten Mix aus Bakterien tragen, sind Altersgenossen in ihren geistigen Fähigkeiten überlegen. Außerdem gibt es offenbar einen Zusammenhang zwischen der Darmflora und der Hirnentwicklung bis zum zweiten Lebensjahr, berichten Alex Carlson von der University of North Carolina in Chapel Hill und seine Kollegen auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Gesellschaft für Neurowissenschaften (SfN).

Unklar ist allerdings, ob die Bakterien die Hirnentwicklung direkt beeinflussen, oder ob sie lediglich eine Folge von Lebensumständen sind, die sich günstig auf die geistige Entwicklung auswirken. Auch Carlson lässt dies zunächst offen: „Unsere Forschung weist darauf hin, dass die Zusammensetzung der Mikroben im Darm die Entwicklung des menschlichen Gehirns beeinflussen könnte“, sagte er. Ziel der Arbeit sei es gewesen, den Zusammenhang zwischen der sich entwickelnden Darmflora und der kognitiven Entwicklung von Kleinkindern besser zu verstehen. Dies hielt den Neurobiologie-Studenten aber nicht davon ab zu spekulieren: „Letztlich könnte die gezielte Veränderung der Darm-Hirn-Achse neue Möglichkeiten für die Behandlung und Vermeidung von Hirnentwicklungsstörungen eröffnen.“

Durchgeführt wurde die Arbeit mit 89 Kleinkindern im Alter von einem Jahr, deren Darmbewohner mithilfe von DNA-Analysen aus Stuhlproben bestimmt wurden. Anhand der Häufigkeit bestimmter Bakterien in den Stuhlproben und der Verwandschaft dieser Bakterien untereinander teilten die Wissenschaftler die Kinder in drei Gruppen ein. Insbesondere die Gattungen Faecalibacterium, Bacteroides  und Clostridiales waren zwischen diesen drei Gruppen ungleich verteilt.

Anhand der „Mullen Skala für frühes Lernen“ vermaßen Carlson und dessen Kollegen dann die Wahrnehmungsfähigkeit, die Sprachentwicklung und die motorischen Fähigkeiten der Kinder im Alter von zwei Jahren. „Die Kinder in der Gruppe mit vielen Bakterien der Gattung Bacteroides hatten gegenüber den anderen beiden Gruppen bessere geistige Leistungen“, so Carlson.

Überraschend für die Wissenschaftler war auch, dass Kinder mit einer besonders vielfältigen Darmflora schlechter abschnitten als diejenigen, mit weniger unterschiedlichen Mikroben im Darm. „Eigentlich hatten wir vorhergesagt, dass die Kinder mit vielfältiger Darmflora bessere Leistungen bringen würden, denn andere Studien haben gezeigt, dass dies sich positiv auf die Gesundheit auswirkt – etwa auf die Entwicklung von Asthma und Diabetes. „Unsere Arbeit unterstreicht die Tatsache, dass ein optimales Mikrobiom bezüglich der Kognition und der Psyche anders aussehen könnte, als wenn man nach anderen körperlichen Merkmalen fragt.“, so Carlson.

Die Ergebnisse hätten „wichtige Implikationen“ für Interventionen die auf die Darmflora zielen, wie beispielsweise die Gabe von Probiotika. Bei Kleinkindern hätte man damit womöglich mehr Erfolg, weil dort die Darmflora leichter zu verändern wäre. Direkter ginge dies, wenn man die Moleküle identifieren könnte, welche die mikrobiellen Effkte auf das Gehirn vermitteln. Sein Labor arbeite gegenwärtig an diesem Projekt, so Carlson, denn „diese Moleküle könnten neue Therapeutika für komplexe psychiatrische Erkrankungen darstellen, oder Ziele sein für die Medikamente der Zukunft.“

Bei all dem geht Carlson als Sprecher seines Teams wie selbstverständlich davon aus, dass es tatsächlich die Präsenz bestimmter Bakterienarten ist, die sich günstig auf die frühkindliche Hirnentwicklung auswirkt. Eine alternative Erklärung wäre, dass Eltern, die sich intensiver mit ihren Kindern beschäftigen, diese auch anders ernähren, wodurch sich natürlich auch die Darmflora anders entwickelt. Ihre bessere geistige Entwicklung würden diese Kinder dann allerdings nicht der Babykost verdanken oder den von Geburt an vorhandenen Bakterien, sondern ganz klassisch der elterlichen Zuneigung.

Stammzellen gegen ALS?

San Diego. Tschechische und italienische Wissenschaftler haben in unkontrollierten Studien der Phase I insgesamt 44 Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) Stammzellen ins Rückenmark implantiert, um den Verlauf der Krankheit zu bremsen. Etwa 25 weitere Patienten sind zudem außerhalb von Studien, aber mit Genehmigung der Behörden in der Tschechischen Republik behandelt worden, sagte Prof. Dr. Eva Sykova vom Institut für Experimentelle Medizin ASCR und der Karls-Universität in Prag auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience.

Fortschreitende Lähmungen machen die Verständigung für ALS-Patienten immer schwieriger (Foto; Fezcat / Wikipedia , CC BY-SA 4.0)

„Die Zelltherapie könnte neue Möglichkeiten eröffnen die ALS zu heilen, indem sie neurotrophische Unterstützung für die Motorneuronen  und dysfunktionalen Gliazellen bereitstellt und das Immunsystem beeinflusst“, glaubt Sykova. Mit ihrem Team hatte sie zunächst menschliche mesenchymale Stammzellen (MSC) ins Gehirn von Ratten gespritzt. Die Tiere waren gentechnisch so verändert worden, dass sie ALS-ähnliche Krankheitszeichen entwickelt hatten und waren nach dem Eingriff eindeutig beweglicher und besser in der Lage zu greifen, als nicht behandelte Artgenossen.

Ziel der anschließenden offenen, nicht randomisierten Studie der Phase I/IIa, die von der Firma Bioinova finanziert wurde, war es „die Sicherheit und Wirksamkeit autologer, multipotenter mesenchymaler Stammzellen aus dem Knochenmark bei der Behandlung der ALS zu testen“. Jeweils etwa 15 Millionen dieser MSC wurden bei einer Lumbalpunktion im Bereich der Lendenwirbel in das Nervenwasser gespritzt, und anschließend die Kraft, Beweglichkeit und Gehfähigkeit der Patienten über 18 Monate hinweg verfolgt. Vier verschiedene Bewertungsskalen kamen dabei zur Anwendung, darunter die ALS Functional Rating Scale. Hier fanden sich sowohl nach drei, als auch nach sechs Monaten statistisch signifikante Verbesserungen im Vergleich zum natürlichen Verlauf der Krankheit.

Im gleichen Zeitraum stabilisierte sich auch die forcierte Vitalkapazität, ein Maß für die Funktion der Lunge. Ernsthafte Nebenwirkungen des Eingriffs wurden nicht beobachtet. Die Patienten litten lediglich vorübergehend an Kopfschmerzen, was infolge einer Lumbalpunktion als normal gilt. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die intrathekale Injektion von mesenchymalen Knochenmarksstammzellen bei ALS-Patienten sicher ist, und dass sie – zumindest vorübergehend – das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen kann“, sagte Sykova.

Mit dem gleichen Ergebnis sind durch Sykovas Arbeitsgruppe etwa 25 weitere Patienten außerhalb der Studie behandelt worden, berichtete sie in San Diego. Auch ausländische Patienten interessierten sich für die Prozedur, beispielsweise aus den Niederlanden. Hier sei man in Verhandlungen mit der Krankenkasse, damit diese die Kosten für den Eingriff übernimmt.

Problematisch ist allerdings, dass die injizierten Zellen nicht lange überleben und auch nicht vor Ort bleiben. Man habe deshalb angefangen, statt einer Injektion drei zu verabreichen, sagte Sykova.

Zeitgleich präsentierte auch eine 30-köpfige italienische Arbeitsgruppe die Ergebnisse einer Phase I-Studie mit 18 ALS-Patienten, denen man embryonale Stammzellen injiziert hatte, die aus fötalen Fehlgeburten stammten. Für ihre Kollegen berichtete Dr. Daniele Ferrari von der Abteilung Biotechnologie und Biowissenschaften der Universität Bicocca, Mailand über den Ausgang des Experiments, das man in Zusammenarbeit mit  dem Neurochirurgen Dr. Nicholas Boulis von der Emory-University im amerikanischen Atlanta durchgeführt hatte: Jeder Patient hatte drei Injektionen mit jeweils etwa 50 Millionen neuronalen Stammzellen erhalten – bei einem Drittel der Patienten im Bereich von Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule, und bei zwei Dritteln an der Halswirbelsäule.

Danach erhielten alle Studienteilnehmer sechs Monate lang Medikamente zur Unterdrückung der Immunantwort gegen die fremden Zellen. Auch bei diesem Versuch gab es keine ernsthaften Nebenwirkungen, stellen die Wissenschaftler fest. Lediglich an der Einstichstelle verspürten die Patienten bis zu vier Tage lang leichte Schmerzen.

Allerdings vermochte die Prozedur den Krankheitsverlauf kaum zu beeinflussen. „Wir haben eine geringfügige Verlangsamung des Verfalls festgestellt im Zeitraum von zwei bis vier Monaten nach dem Eingriff“, sagte Ferrari. Elf der 18 Patienten hatten in diesem Zeitraum etwas mehr Kraft in Armen und Beinen, als man erwarten durfte. Allerdings sind insgesamt neun der Patienten seit dem Eingriff an ALS gestorben, sodass es wohl keine positiven Überraschungen mehr aus dieser Studie geben wird. Dennoch gab sich Ferrari optimistisch: „Wir werden eine Studie der Phase II beginnen und diesmal größere Mengen an Zellen transplantieren“, kündigte sie in San Diego an.

In Deutschland wurden Stammzelltherapien gegen neurologische Erkrankungen bisher noch kaum erprobt. Für negative Schlagzeilen hatte dabei vor allem das Düsseldorfer XCell-Center gesorgt, wo man Zelltransplantationen gegen eine Vielzahl von Erkrankungen auf Selbstzahlerbasis angeboten hatte. Mehrfach hatten Wissenschaftler und Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Neurologie die Erfolgschancen dieser Angebote bezweifelt und die mangelnde wissenschaftliche Grundlage kritisiert. Nach dem Tod eines 18 Monate alten Jungen im Rahmen einer dieser „Therapien“ wurde das XCell-Center schließlich im Jahr 2011 geschlossen.

Prof. Dr. Albert Ludolph, Leiter der Neurologie an der Universitätsklinik Ulm steht deshalb verfrühten Versuchen zur Stammzelltherapie bei ALS kritisch gegenüber. Das seien oftmals „Geschäfte in der Grauzone“, sagte er gegenüber der Webseite Medscape. „Betroffenen werden viel zu häufig falsche Hoffnungen gemacht.“

Quellen:

  • Abstract 45.01 Syka M et al. Stem cells for treatment of Amyotrophic lateral sclerosis. Preclinical and clinical study. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
  • Abstract 45.04 Jendelova P et al. The effect of different applications of mesenchymal stem cells in the treatment of amyotrophic lateral sclerosis. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
  • Abstract 45.13 Mazzini L et al. Data from pre-clinical and completed phase I clinical studies with intraspinal injection of human neural stem cells in amyotrophic lateral sclerosis. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.

Politik vernachlässigt psychisch Kranke

San Diego. Mit einem leidenschaftlichen Playdoyer für mehr Unterstützung und Forschung zugunsten psychisch kranker Menschen wurde gestern die 46. Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience (SfN) eröffnet. Vor mehreren Tausend Zuhörern appelierte Shekhar Saxena, Leiter der Abteilung Geistige Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), an die Neurowissenschaftler, ihren Beitrag zu leisten und die Interessen der Patienten bei der Forschung immer im Blick zu behalten.

Das Kongresszentrum in San Diego ist alle drei Jahre Veranstaltungsort für die weltweit größte Versammlung von Hirnforschern. (Foto Bernard Gagnon / Wikipedia CC BY-SA 3.0)

Im Vergleich zu anderen Krankheiten würden psychische Erkrankungen weltweit massiv vernachlässigt, kritisierte Saxena. So begeht alle 40 Sekunden ein Mensch Selbstmord, jährlich sind es weltweit 800000. „Das sind mehr als durch Kriege, Malaria oder Brustkrebs“, verdeutlichte Saxena. Suizid sei inzwischen die häufigste Todesursache junger Menschen. Generell verkürzen demnach schwere psychiatrische Erkrankungen die Lebenserwartung um 15 bis 20 Jahre. „Solch ein Leiden zuzulassen ist ein Skandal für eine moderne Gesellschaft“, sagte der WHO-Funktionär.

Global gesehen arbeiten nur ein Prozent aller Angestellten im Gesundheitswesen mit und für psychisch Kranke. Hier gebe es eine gewaltige Lücke zwischen der Belastung einerseits und dem Budget andererseits. Selbst die reichen Länder verwenden nur etwa fünf Prozent ihres Gesundheitsetats auf psychische Leiden, und in den armen Ländern sinkt dieser Anteil auf bis zu 0,5 Prozent, berichtete Saxena.

„Viele Menschen bemessen die Kosten lediglich danach, wie viele Dollar verloren gehen“, sagte Saxena. „Aber auch nach diesem Maßstab ist es ein gewaltiges Problem.“ Weltweit wurden die Kosten für die Behandlung und die verminderte Produktivität der Betroffenen im Jahr 2010 auf 2,5 Billionen Dollar geschätzt. Den Hochrechnungen der WHO zufolge wird sich dieser Betrag bis zum Jahr 2030 auf 6 Billionen Dollar mehr als verdoppeln.

Volkswirtschaftlich betrachtet seien Investitionen in die psychische Gesundheit ein gutes Geschäft. Für Depressionen liegen zum Beispiel Berechnungen vor, die einen Ertrag von 5,3 Dollar je investiertem Dollar annehmen.

Psychisch Kranke werden indes nicht nur gegenüber anderen Patienten benachteiligt, nicht selten werden auch noch ihre Menschenrechte missachtet. Der Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und auch die Verweigerung alltäglicher Annehmlichkeiten seien nicht hinnehmbar, so Saxena. „Und kann man ein Land fortschrittlich nennen, in dem eine Million psychisch kranker Menschen im Gefängnis sitzt?“, fragte er in offensichtlicher Anspielung auf die Zustände in den USA. „Denken Sie mal darüber nach!“

Starthilfe für Neuro-Krieger

Das amerikanische Verteidigungsministerium nutzt gezielt die neuesten Erkenntnisse und Techniken aus der Hirnforschung, um die US-Streitkräfte besser auf Kriege vorzubereiten. Dies ergibt sich aus mehreren Präsentationen beteiligter Wissenschaftler, die ihre Arbeiten kürzlich im Rahmen der Jahrestagung der Society for Neuroscience in Washington vorgestellt haben.

Bessere Soldaten Dank Neurowissenschaft? (Foto: DARPA)

Durch die Stimulation hinter der Stirn gelegener Hirnregionen mit Schwachstrom ist es einer Arbeitsgruppe um Andy McKinley am Luftwaffenforschungszentrum in Dayton (Ohio) bereits gelungen, die Zielanalyse von Luftbildern aus Aufklärungsflügen zu verbessern. “Angesichts des exponentiell steigenden Bedarfs für militärische Informationen, Überwachung und Aufklärung hat die Air Force Schwierigkeiten, genug qualifiziertes Personal auszubilden, um die gewaltigen Mengen an Bildmaterial auszuwerten, die dabei anfallen”, begründen die Wissenschaftler ihre Studie, die sie unter dem unauffälligen Titel “Nicht-invasive Hirnstimulation zur Beschleunigung des Lernens” vorstellten.

Eine Methode um die Schlagkraft der Aufklärer zu stärken, könnte die so genannte transkranielle Hirnstimulation sein, bei durch die Schädeldecke hindurch Strom- oder Magnetfelder wirken, glaubt McKinley. Zwar wird das Verfahren bisher hauptsächlich in der Grundlagenforschung eingesetzt und zunehmend auch bei Krankheiten wie Depressionen, Schmerzen oder zur schnelleren Rehabilitation nach einem Schlaganfall erprobt. McKinley aber möchte seine Kollegen überzeugen, dass die Hirnstimulation mindestens ebenso gut geeignet sein könnte, um Menschen “bei der Arbeit zu unterstützen und ihre Leistung zu verbessern”.

Diese Arbeit bestand für die 13 jungen Männer in der Studie darin, auf monotonen Radarbildern möglichst schnell die “richtigen” Bombenziele zu finden. Diejenigen, die durch spezielle Elektroden eine halbe Stunde lang schwachen Gleichstrom über der rechten Stirn erhalten hatten, erkannten danach durchschnittlich 6 bis 7 mal mehr richtige als falsche Ziele. Wurde die gleiche Ausrüstung während der halbstündigen Sitzung dagegen nur für 30 Sekunden aktiviert, war die Zielerkennung nicht einmal halb so gut, und die Probanden identifizierten im Mittel nur 3 richtige Ziele für jedes falsche. Wie lange der Nutzen der Hirnstimulation anhält und ob man die Methode auch über viele Wochen hinweg immer wieder anwenden kann, ohne die Aufklärer zu gefährden soll als nächstes erforscht werden, kündigte McKinley an.

Auf die Idee, dass man den Gehirnen der Spezialisten womöglich auf die Sprünge helfen könnte, hatte die Militärs eine Studie von Vince P. Clark und dessen Kollegen vom Mind Research Network in Albuquerque (New Mexico) gebracht. Dort hatte man bei 96 Freiwilligen ebenfalls 30 Minuten lang mit zwei Milliampere Gleichstrom die rechte Seite des Stirnhirns angeregt. Nur eine Stunde später hatte sich die Reaktionszeit halbiert, binnen derer die Versuchsteilnehmer in einer vom Computer geschaffenen virtuellen Umgebung bedrohliche Gegenstände ausfindig machten. Das Geld für die in der Fachzeitschrift Neuroimage veröffentlichte Studie kam von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), der Forschungsbehörde der US-Streitkräfte. Die DARPA hat auch McKinleys Arbeit finanziert sowie mindestens acht weitere Studien, die auf der Tagung in Washington präsentiert wurden.

Nach einer Hirnstimulation konnten Bombenziele schneller erkannt werden (Foto: DARPA)

Eine der Fragen, für die die Militärs sich interessieren, sind die “neuralen Mechanismen des Leistungsvermögens in extremen Umgebungen”, so der Titel einer weiteren Untersuchung durch das “OptiBrain Consortium” im kalifornischen San Diego, dem Hauptquartier der US-amerikanischen Pazifikflotte. In dem Forschungsverbund arbeiten Seite an Seite Wissenschaftler der Universität von Kalifornien (UCSD), des Gesundheitsforschungszentrums der Marine (Naval Health Research Center, NHRC) sowie von deren “Spezialzentrum für Kriegsführung”(Naval Special Warfare Center); beteiligt ist aber auch das Olympia-Trainingszentrum im nahe gelegene Chula Vista. Erklärtes Ziel des Teams um den emeritierten Psychiatrie-Professor Martin P. Paulus ist es, “die geistigen Prozesse besser zu verstehen, die unter extremem Stress Vorteile bringen”.

Dazu haben die Forscher elf Mitglieder der Navy-Seals – einer Elitetruppe der US-Marine – in den Hirnscanner gelegt, und deren Reaktion auf unterschiedliche Gesichtsausdrücke erfasst. Zum Vergleich dienten 23 gleichaltrige Geschlechtsgenossen sowie 10 Extremsportler, die bei einer Kombination aus Orientierungs- und Langstreckenlauf (”Adventure Racing”) zu den besten gehörten. Beim Erkennen der unterschiedlichen Gesichtsausdrücke wie Angst, Wut oder Glück erwiesen sich die Hirne der Elitesoldaten wie auch der Extremsportler als besonders zielgerichtet. Sie aktivierten genauer und stärker als bei den Zivilisten den Insellappen (Insula) auf der rechten Seite des Gehirns, dagegen weniger stark den linksseitigen Insellappen. Dieses Areal ist kaum größer als eine Euro-Münze und liegt verdeckt von Stirn- und Schläfenlappen ungefähr dort, wo man anderen Menschen den Vogel zeigt.

Was die nachgewiesenen Unterschiede in der Hirnaktivität zwischen Elite- und “Normalmenschen” zu bedeuten haben, ist angesichts der vielfältigen Funktionen der Insula jedoch nur schwer zu interpretieren. Dieses Areal vermittelt zum Beispiel Geschmack und Ekel sowie Fairness und Mitgefühl, und die Insula beeinflusst auch die Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen. Die Sponsoren der Studie mussten sich daher mit einer eher mageren Beschreibung des Gesehenen bescheiden und mit der Behauptung, man habe “die Reaktion der rechtsseitigen Insula als einen möglichen neuralen Mechanismus für optimale Leistungen unter extremen Umständen” identifiziert.

Kriegsentscheidene Durchbrüche sehen anders aus, und auf der Konferenz in Washington standen der Handvoll rein militärischer Projekte etwa 15000 weitere Präsentationen aus allen Bereichen der Hirnforschung gegenüber. Dass die überwiegende Mehrzahl der 32000 Teilnehmer politisch eher der Demokraten-Partei des US-Präsidenten Barack Obama zuneigt, als dessen Vorgänger George W. Bush, der das Land in zwei Kriege geführt hat, ist ein offenes Geheimnis. Dazu passt auch ein politischer Vorstoß, den bereits im Vorjahr in San Diego auf der gleichen Konferenz Curtis Bell vom Neurological Sciences Institute der Universität Oregon gewagt hatte. Bell präsentierte dort einen Aufruf, wonach Neurowissenschaftler sich öffentlich dazu verpflichten sollten, mit ihrer Arbeit weder Folter noch Angriffskriege jedweder Art zu unterstützen. Immerhin: Mehr als 200 Hirnforscher aus 18 Ländern haben diesen Aufruf bislang unterschrieben. “Auch die Neurowissenschaften haben eine gute und eine schlechte Seite”, so Bell. “Wir sollten die dunkle Seite schwächen und weiter daran arbeiten, den Nutzen der Hirnforschung zu stärken.”

  Quellen:

McKinley A et al. Acceleration of Air Force image analyst training using transcranial direct current stimulation (TDCS). Program No. 830.14. 2011 Neuroscience Meeting Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2011. Online.

Clark VP et al. TDCS guided using fMRI significantly accelerates learning to identify concealed objects, NeuroImage, 59 (1): 117-128.

Thom N. et al. Neural mechanisms of performance in extreme environments: Emerging evidence from warfighters and elite athletes. Program No. 830.14. 2011 Neuroscience Meeting Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2011. Online.

Paulus MP et al. Differential brain activation to angry faces by elite warfighters: neural processing evidence for enhanced threat detection. PLoS One, 5(4):e10096.

Bell, CC. Pledge of refusal to participate knowingly in applications of neuroscience to torture and aggressive war. Program No. 28.6. 2010 Neuroscience Meeting Planner. San Diego, CA: Society for Neuroscience, 2010. Online.

Weitere Informationen:

Die Zeitschrift “Synesis” hat dem Thema eine Schwerpunktausgabe gewidmet. Unter dem Titel “Neurotechnology in National Security, Intelligence and Defense” finden sich (auf englisch) neun Beiträge im Volltext online.

Geld lindert Schmerzen

Menschen, die vor Gericht ein Schmerzensgeld zugesprochen bekommen, leiden wahrscheinlich weniger. Diesen Schluss legt zumindest eine Untersuchung der Psychologin Wiebke Gandhi vom Zentrum für Schmerzforschung der McGill Universität in Montreal nahe. „Unsere Studie zeigt, dass Menschen die eine finanzielle Belohnung erhalten, weniger Schmerz verspüren. Umgekehrt wurden Schmerzen unserer freiwilligen Versuchsteilnehmer aber auch schlimmer, nachdem sie zuvor Geld verloren hatten“, erklärte Gandhi in San Diego auf der weltweit größten Versammlung von Hirnforschern, der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience.

Gandhi wusste bereits, dass Schmerz und Belohnung im Gehirn in ähnlichen Systemen verarbeitet werden und wollte daher genauer untersuchen, wie die beiden Gefühle sich gegenseitig beeinflussen. Bekannt war bereits, dass Drogen, gutes Essen, schöne Musik und auch erotische Bilder Schmerzen beim Menschen zu lindern vermögen.

An dem Experiment hatten jeweils zwölf Männer und Frauen teilgenommen, die mit zwanzig Dollar Spielgeld darauf wetteten, ob ein Glücksrad auf den Farben Rot oder Blau zum Stillstand kommen würde. Gleichzeitig mit dem Ergebnis erhielten die Probanden mit einer Elektrode einen mehr oder weniger unangenehmen Hitzereiz am Bein. Als die Freiwilligen gebeten wurden, die Stärke ihrer Schmerzen zu bewerten, zeigte sich, dass verlorene Wetten die Schmerzen verschlimmerten, obwohl die Dauer und die Temperatur des Hitzereizes unverändert waren. Umgekehrt vermeldeten die Versuchsteilnehmer jeweils geringere Schmerzen, wenn sie gerade eine Wette gewonnen hatten.

„Geld hat demnach einen bedeutenden Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung gesunder Menschen“, sagte Gandhi. Als nächstes will die Hirnforscherin nun heraus finden, ob dies auch für Menschen gilt, die unter andauernden oder wiederkehrenden (chronischen) Schmerzen leiden. „Wenn wir das Verhältnis zwischen Schmerz und Belohnung besser verstehen, könnten davon auch diese Patienten profitieren“, hofft Gandhi.

  • Tiede, W, Elfassy N., Schweinhardt P. Monetary reward attenuates pain perception. Abstract 79.10. 2010 Neuroscience Meeting Planner. San Diego, CA: Society for Neuroscience, 2010. Online.

Besserer Sehchip für Blinde in Aussicht

Was für die meisten Menschen noch nach einem biblischen Wunder klingt, ist für eine wachsende Zahl von Neurowissenschaftlern längst zu einem ganz konkreten Projekt geworden: Weltweit arbeiten Hirnforscher zusammen mit Ingenieuren, Augenärzten und anderen Spezialisten daran, blinden Menschen mithilfe eines „Sehchips“ ihr verlorenes Augenlicht zurück zu geben.

Nun haben Wissenschaftler der Cornell University in New York  einen weiteren großen Fortschritt bekannt gegeben. Auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience in San Diego zeigte Sheila Nirenberg am Beispiel eines Baby-Bildes, dass Dank der neuen Technik ein sehr viel schärferes und detailreicheres Bild erzeugt werden kann, als dies mit normalen Sehchips möglich wäre. „Mit den heutigen Sehchips können Patienten nur sehr grobe Strukturen erkennen – etwa eine Türöffnung oder ein fahrendes Auto“, beschrieb Nirenberg das Problem. Um ein schärferes Bild zu erhalten, hatten die meisten Forscher versucht, ihre Sehchips mit immer mehr Elektroden auszustatten, die den Sehnerv elektrisch reizen. „Unsere Forschung zeigt jedoch, dass ein anderer Faktor genau so wichtig ist wie die Zahl der stimulierenden Elektroden“, so Nirenberg:  Man müsse auch den Code berücksichtigen, mit dem die Zellen des Sehnerves unter natürlichen Umständen stimuliert werden. In diesem Code sind zahlreiche Informationen über Kontraste, Linien und andere Formen enthalten, die das komplex verschaltete System aus Netzhautzellen im Hintergrund des Auges aus den einfallenden Lichtstrahlen errechnet.

In Versuchen mit blinden Mäusen haben die US-Forscher nun ein elektronisches Bauteil getestet, das Lichtreize ähnlich wie die Zellen der Netzhaut verarbeitet. Dieser Encoder verbesserte die Leistung des Systems so sehr, dass damit detailreiche Bilder von menschlichen Gesichtern, Tieren und Landschaften erzeugt werden konnten. „Zumindest für die Maus haben wir jetzt alle wesentlichen Bauteile zusammen, um die Probleme mit den heutigen Sehchips zu lösen“, sagte Nirenberg. Als nächstes wolle man das System in Zusammenarbeit mit anderen Arbeitsgruppen beim Menschen testen.

Auch in Deutschland wird intensiv an einem Sehchip gearbeitet. Erst vor wenigen Wochen hatte eine Arbeitsgruppe um Professor Eberhard Zrenner von der Universität Tübingen in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society B die Resultate von drei Patienten veröffentlicht, die an Retinitis pigmentosa erkrankt waren, einer bislang unheilbaren erblichen Erkrankung, die zur Zerstörung der Netzhaut des Auges führt. Einem dieser Patienten namens Miikka war ein Sehchip direkt unter der Netzhaut am Ort des schärfsten Sehens (dem Gelben Fleck) eingepflanzt wordken. Der zuvor blinde Patient hatte danach 16 etwa daumengroße Buchstaben unterscheiden und ganze Wörter erkennen können. Dies ist das bislang beste Ergebniss, das Wissenschafftler mit einem Sehchip beim Menschen erzielt haben. Mittelfristig soll die von Zrenner gegründete Firma retina implant derartige Sehchips weiter verbessern und schließlich zur routinemäßigen Behandlung blinder Menschen auf den Markt bringen.

Die US-Wissenschaftler, die ihre neue Strategie zur Verbesserung eines Sehchips in San Diego vorgestellt haben, werden jedoch voraussichtlich nicht mit der Firma retina implant zusammenarbeiten. Statt dessen haben sie angekündigt, dass mit den neuen Erkenntnissen zunächst die Sehchips der US-Firma Second Sight verbessert werden sollen.

Quelle:

  • Nirenberg S., Pandarinath C. A retinal prosthetic strategy with the capacity to restore normal vision. Abstract 20.1 2010 Neuroscience Meeting Planner. San Diego, CA: Society for Neuroscience, 2010. Online.

Weitere Informationen:

Hirnscans zeigen das Kühlsystem im Kopf

Jeder kennt sie, die faszinierenden bunten Bilder von der „Aktivität“ unseres Denkorgans. Doch was genau mit der zugrunde liegenden Methode der funktionellen Kernspintomographie (fMRI, auch Kernspinresonanz genannt) dargestellt wird, ist unter Experten umstritten. Nun glauben japanische Hirnforscher, das Rätsel gelöst zu haben: Dort, wo der Computer Hirnregionen in rot oder anderen warmen Farbtönen darstellt, fließt besonders viel Blut, weil dort die Wärme abgeleitet werden muss, die von aktiven Nervenzellen produziert wird, schließen die Professoren Tsutomu Nakada und Kiyotaka Suzuki von der japanischen Niigata-Universität aus Modellrechnungen, die sie kürzlich auf einem Fachkongress in Chicago vorgestellt haben.

Hirnaktivität beim Tippen mit dem linken Zeigefinger (Foto: Wikipedia)

Hirnaktivität beim Tippen mit dem linken Zeigefinger (Foto: Wikipedia)

„Was immer wir tun erfordert Arbeit vom Gehirn“, erklären die Forscher. Welche Teile des Denkorgans dabei aktiv werden, hängt von der Art der Arbeit ab – sei es ein Fußball- oder ein Schachspiel. Bekannt ist, dass dann auch der Blutfluss in den beteiligten Hirnregionen zunimmt und dass die fMRI diese Veränderung anhand der Menge der von roten Blutkörperchen transportierten Sauerstoffmoleküle sichtbar machen kann. Die bisherige Vermutung, dass dies den Nährstoffverbrauch der Nervenzellen widerspiegelt, sei jedoch falsch, beteuern Nakada und Suzuki. Deren Berechnungen zufolge wäre im Blutstrom nämlich etwa sechs Mal mehr Energie in Form von Zucker- und Sauerstoffmolekülen enthalten, als die Nervenzellen für ihre Aktivitäten benötigen. „Dieser Unterschied war für Hirnforscher bislang ein ärgerliches Rätsel“, sagen die Japaner, und sie verweisen darauf, dass solch riesigen Unterschiede zwischen Verbrauch und Bedarf in der Natur äußerst ungewöhnlich seien.

Ihre Forschung zeige nun, dass die bei der fMRI gemessene Zunahme des Blutflusses ein Mechanismus ist, mit dem das „Überhitzen“ von Nervenzellen verhindert wird. Der Blutfluss, der in nicht aktiven Hirnregionen – also im „Ruhezustand“ – statt findet, würde nämlich nur drei Viertel der Wärme abtransportieren können, die von aktiven Teilen des Denkorgans erzeugt wird. „Unser Modell hat bestätigt, dass die Zunahme des Blutflusses bei der Aktivierung von Hirnregionen genau den nötigen Umfang hat, um die zusätzliche Wärme abzuführen“, rechen die Neurowissenschaftler vor.

Quelle:

  • Nakada T, Suzuki K, Kwee I.L.: Excess heat removal is likely to be the main role of increase in regionla blood flow associated with brain activation. Abstract 406.3 des 2009 Neuroscience Meeting Planner. Chicago, IL: Society for Neuroscience, 2009. Online.

Weitere Informationen:

Strom bringt bei Ratten Gedächtnis zurück

Mit Elektroreizen haben amerikanische Wissenschaftler durcheinander geratene Hirnströme bei Ratten wieder in Einklang gebracht und dadurch einen vorübergehenden Gedächtnisverlust (Amnesie) kuriert. Die neuartige Methode könne vielleicht auch einmal bei Menschen eingesetzt werden, spekulierte Prasad R. Shirvalkar vom Mount Sinai Medical Center (New York) bei der Präsentation seiner Arbeit auf einem Fachkongress in Chicago.

„Unsere Experimente zeigen, dass zwei Arten von Hirnströmen – Theta und Gamma – in Einklang gebracht werden müssen, damit wir uns an vergangene Ereignisse erinnern können“, erläuterte Shirvalkar auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience, der weltweit größten Tagung von Hirnforschern. „Hirnwellen sind elektrische Rhythmen, in denen sich die Erregung und Hemmung von Nervenzellen widerspiegelt. Wie die Noten eines Liedes sind die Hirnwellen aus verschiedenen Frequenzen zusammen gesetzt. Der Hippocampus, eine Hirnstruktur, die bei der Gedächtnisbildung eine wichtige Rolle spielt, hat zwei auffällige Rhythmen: Theta, mit sieben Schwingungen pro Sekunde, und Gamma, mit 30 Schwingungen pro Sekunde. Wenn die beiden Rhythmen zusammen geführt werden, harmonisieren sie sich etwa so, wie verschiedene Noten einen Akkord bilden können.“

Shirvalkar und seine Mitarbeiter haben nun bei Ratten heraus gefunden, dass Theta- und Gammawellen in Einklang waren, wenn Gedächtnisinhalte erfolgreich aufgerufen wurden; aber nicht, wenn die Erinnerung versagte. Den Gleichklang der Hirnwellen störten die Forscher bei ihren Versuchstieren mit der vorübergehenden Anwendung des Betäubungsmittels Musimol im Hippocampus. Anschließend konnten die Ratten sie sich nicht mehr erinnern, wo in einem Wassertank eine versteckte Plattform lag, auf der sie sich beim umher schwimmen ausruhen konnten. Den künstlich hervor gerufenen Gedächtnisverlust konnten die Wissenschaftler jedoch zumindest teilweise beheben, als sie bei den Nagern eine spezielle Hirnstruktur, den Fornix mit Strom stimulierten. Der Fornix ist eine Nervenbahn, die den Hippocampus mit anderen Regionen des Gehirns verbindet.

Mit speziellen Aufzeichnungsgeräten im Miniaturformat war es den Forschern gelungen, zu beobachten, wie die Hirnwellen sich beim Lernen des Ortes der versteckten Plattform zunächst synchronisiert hatten. Sie konnten zusehen, wie dieser Einklang von Theta- und Gammaband durch die Betäubung wieder verloren ging. Und als sie durch die gezielte elektrische Stimulation des Fornix den Einklang zwischen Theta- und Gammawellen wieder herstellten, erinnerten sich die Ratten und fanden die versteckte Plattform wieder.

„Diese Entdeckung ebnet den Weg zu möglichen neuen Behandlungen, die das Gedächtnis verbessern“, so Shirvalkar. Der Hirnforscher denkt dabei an eine Variante der elektrischen Tiefhirnstimulation. Dieses Verfahren wird bereits seit Jahren erfolgreich eingesetzt, um die Bewegungsstörungen von Parkinson-Patienten und anderen Kranken zu lindern. „Würde man mit der gleichen Methode Hirnregionen reizen, die am Abruf von Erinnerungen beteiligt sind, könnte das vielleicht den Gedächtnisverlust bei der Alzheimer-Krankheit oder bei anderen Demenzen verringern.“

Quelle:

  • Shirvalkar PR, Rapp PR, Shapiro ML. Hippocampal theta gamma coherence is required for episodic memory: Therapeutic effects of fornix stimulation on temporary amnesia. Abstract 100.9. des 2009 Neuroscience Meeting Planner. Chicago, IL: Society for Neuroscience, 2009. Online.