Zum Hauptinhalt springen

Jeder Dritte krank im Kopf?

514 Millionen Menschen leben in Europa und jeder Dritte davon leidet mindestens einmal im Jahr an einer psychischen Störung. Diese Botschaft haben Experten um den Mediziner und Psychologen Hans-Ulrich Wittchen vergangenen Montag in Paris auf der Jahrestagung des European College of Neuropsychopharmakology  (ECNP) verbreitet. Sie berufen sich dabei auf die „bislang umfassendste und  zuverlässigste“ Studie zu diesem Thema. Mit einbezogen wurden sämtliche psychischen Erkrankungen sowie mehrere neurologische Leiden bei Kindern, Erwachsenen und älteren Menschen. Noch niemals zuvor habe man das gesamte Spektrum von Hirnerkrankungen in allen Altersgruppen gleichzeitig und in einer einzigen Studie derart gründlich erfasst, heißt es in der zugehörigen Pressemitteilung. Der 25-seitige Bericht wurde zeitgleich mit der Jahrestagung im Verbandsblatt European Neuropsychopharmacology veröffentlicht.

Erschreckend viele Europäer leiden an psychischen Krankheiten

„Es ist schlimmer als wir dachten“, kommentierte Studienleiter  Wittchen, Vize-Präsident des ECNP und Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden. Psychische Erkrankungen seien zur größten gesundheitlichen Herausforderung Europas im 21. Jahrhundert geworden, und mehr als ein Drittel (38,2 Prozent) der EU-Bevölkerung mindestens einmal im Jahr davon betroffen. Das entspricht 164,8 Millionen Menschen in Europa. Die häufigsten Leiden sind der neuen Statistik zufolge Angststörungen bei 14 Prozent der Bevölkerung, gefolgt von Schlaflosigkeit (7 %), Depressionen (6,9 %) sowie somatoformen Störungen, also körperlichen Leiden als Ausdruck einer psychischen Störung (6,3 %).

Mehr als vier Prozent aller Europäer sind außerdem abhängig von Alkohol und/oder Drogen. Bei Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 17 Jahren wurde mit fünf Prozent besonders häufig eine Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) festgestellt. Außerdem leidet jeder Hunderste zwischen 60 und 65 Jahren an einer Demenz, und bei den Senioren über 85 Jahren sind es sogar 30 Prozent.

Im Vergleich mit einer ähnlichen Erhebung aus dem Jahr 2005 haben geistige Erkrankungen deutlich zugenommen – von damals 27,4 % auf jetzt 38,2 %. Allerdings wurden für die neue Auswertung auch zahlreiche zusätzliche Quellen genutzt und 14 Diagnosen hinzu gefügt, sodass „die neuen Daten nun das wahre Ausmaß geistiger Erkrankungen in allen Altersgruppen besser beschreiben“, heißt es in der Fachpublikation.

Die bereits 2005 festgestellten „notorisch niedrigen“ Behandlungsraten haben sich Angaben der ECNP zufolge nicht verbessert. Europaweit erhalte nur jeder Dritte psychisch Kranke eine angemessene Therapie und selbst in Deutschland mit einem der besten Gesundheitssysteme werde nur jeder zweite Patient „einigermaßen gut“ behandelt, sagte Wittchen.  Er forderte eine frühzeitige, zielgerichtete Behandlung junger Patienten und eine engere Zusammenarbeit zwischen Psychiatern und Neurologen. „Die Krankheiten in beiden Bereichen haben viele Mechanismen gemeinsam und sie beeinflussen sich gegenseitig. Deshalb wird nur eine gemeinsame Vorgehensweise beider Disziplinen das Verständnis und die Therapie dieser Leiden verbessern.“

Erkrankungen des Gehirns würden weiterhin zu wenig beachtet und auch das mangelnde Wissen darüber stehe weiteren Fortschritten im Wege. „Deshalb brauchen wir dramatisch mehr Geld für die Erforschung der Ursachen und möglicher Therapien“, forderte Wittchen. Auch wirtschaftliche Gründe sprächen dafür: Gemessen an der Zahl verlorener Lebensjahre und unter Berücksichtigung der Lebensqualität (sog. DALYs) sind Krankheiten des Gehirns nämlich zur größten Belastung in der EU geworden. Sie verursachen mittlerweile mehr als ein Viertel aller Verluste, vor allem durch Depressionen und Demenz sowie durch die Folgen von Alkoholmissbrauch und Schlaganfällen.

 

Originalartikel: Wittchen HU et al. The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655-679

Pressemitteilung: The Size and Burden of Mental Disorders and Other Disorders of the Brain in Europe…

Internet-Therapie gegen Schlaflosigkeit

Auch ohne den Gang zum Arzt oder Psychologen können bestimmte Formen der Schlaflosigkeit wirksam bekämpft werden, berichtet ein Team von Wissenschaftlern um Lee M. Ritterband, Professor am University of Virginia Health System im US-amerikanischen Charlottesville in der Fachzeitschrift Archives of General Psychiatry. Zusammen mit seinen Kollegen hat Ritterband dafür eine bewährte Methode – die kognitive Verhaltenstherapie – aus der Praxis ins Internet übertragen.

Die kognitive Verhaltenstherapie zielt darauf ab, „falsche“ Gedanken und Verhaltensweisen durch wiederholte Übungen zu korrigieren. Obwohl es mehrere Studien gibt, denen zufolge das Verfahren bei Schlafstörungen ebenso gute – aber länger anhaltende – Ergebnisse erzielt, wie die Einnahme von Medikamenten, wird diese psychologische Behandlungsform noch immer verhältnismäßig selten angewandt. Neben einem Mangel an qualifizierten Therapeuten machen Ritterband und seine Kollegen dafür auch die hohen Kosten verantwortlich, die in den USA meist gar nicht und in Deutschland längst nicht immer durch die Krankenkassen erstattet werden.

Für ihren Versuch entwickelten die US-Forscher daher ein interaktives Programm für das Internet (genannt SHUTi), bei dem die gleichen Prinzipien wie in „echten“ Therapiesitzungen umgesetzt wurden. Von 44 freiwilligen Erwachsenen, deren Schlafprobleme im Mittel schon länger als zehn Jahre anhielten, wurden nach dem Losverfahren 22 für die Internet-Therapie ausgewählt und die anderen zum Vergleich auf eine Warteliste gesetzt. Neun Wochen lang trainierten die Probanden dann am Computer mit Hilfe von Texten und Graphiken, Animationen, Frage-und-Antwort-Spielen oder ähnlichen Elementen. So lernten sie beispielsweise, im Schlafzimmer nicht zu lesen oder fern zu sehen, tagsüber keine Nickerchen abzuhalten und nicht ständig über die gesundheitlichen Folgen ihrer Schlaflosigkeit zu grübeln.

Anhand von Schlaf-Tagebüchern und Selbstbeurteilungen über die gesamte Studiendauer hinweg konnten die Forscher verfolgen, wie wirksam ihre Methode war. Auf dem so genannten Schlaflosigkeitsindex, der von 0 (keine Symptome) bis 28 (schwere Schlaflosigkeit) reicht, verbesserten sich die Teilnehmer am Internet-Training von durchschnittlich 15,73 auf 6,59 Punkte. Dieser Erfolg hielt über mindestens sechs Monate an, wie die Wissenschaftler in einer Nachuntersuchung feststellten.  Die Freiwilligen auf der Warteliste erfuhren dagegen einerlei Besserung.

„Ein Internet-basiertes Verfahren könnte den großen, unbefriedigten Bedarf der Bevölkerung nach einer Behandlung stillen“, folgern die Wissenschaftler in ihrem Fachartikel und sie glauben außerdem: „Solch eine wirksame und billige Intervention würde die Behandlungsmöglichkeiten für eine große Anzahl von schlaflosen Erwachsenen erweitern.“ Besonders für jene, die weit entfernt von spezialisierten Zentren leben, könnte dieses Verfahren zu einer stichhaltigen Therapie der ersten Wahl werden, werben die US-Forscher schließlich für ihre Neuerung.

Der Bedarf für solch eine Therapie scheint jedenfalls vorhanden: Unterschiedlichen Quellen zufolge klagt etwa ein Viertel der Bevölkerung über Schlafstörungen und bei 80 Prozent der Betroffenen dauern die Beschwerden länger als ein Jahr. Die Ursachen sind überwiegend psychosozialer Nature, sei es in Form aufwühlender Tagesereignisse, Problemen an Arbeitsplatz und in der Familie oder von Umweltgeräuschen, die als Belästigung empfunden werden. Daneben gibt es aber auch eine Vielzahl so genannter organischer Schlafstörungen, die im wesentlichen auf Fehlfunktionen des Gehirns beruhen. In diese Kategorie fallen zum Beispiel die Schlafapnoe,  die Narkolepsie und das Restless-Legs-Syndrom. Neben dem unermesslichen menschlichen Leid verursachen Schlafstörungen auch gewaltige wirtschaftliche Schäden. Alleine für die USA schätzt man die Produktivitätsverluste auf umgerechnet 30 Milliarden Euro jährlich und eine kanadische Studie kam kürzlich zu dem Schluss, dass Schlafstörungen etwa ein Prozent des Bruttosozialproduktes auffressen.

Quelle:

Lee M. Ritterband, Frances P. Thorndike, Linda A. Gonder-Frederick, Joshua C. Magee, Elaine T. Bailey, Drew K. Saylor, Charles M. Morin:  Efficacy of an Internet-Based Behavioral
Intervention for Adults With Insomnia. Arch Gen Psychiatry. 2009; (667) :692-698

Tipp:

Ein großes Angebot von Ratgebern zum Thema „Gesunder Schlaf“ finden Sie bei meinem Werbepartner Amazon. Umsonst im Internet gibt es den Patientenratgeber „Schlafstörungen und ihre Behandlungsmethoden“ der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Noch besser gefallen hat mir allerdings die gut verständliche und übersichtliche Webseite schlafgestoert.de. Sie wird von drei engagierten ÄrztInnen betrieben, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Behandlung von Schlafstörungen ohne Medikamente zu fördern.