Dass Techniker und Erfinder mit ihrem Know-how aus einem Haufen Bauteile Taschenmesser und Uhren, Staudämme und Solaranlagen, Flugzeuge, Smartphones und andere Wunder erschaffen können, gilt vielen als selbstverständlich. Zunehmend aber entdecken Ingenieure die Natur als Baukasten – und sie lernen schnell, lebende Systeme nach ihren eigenen Vorstellungen umzugestalten.
Einen Meilenstein auf diesem Gebiet der „Synthetischen Biologie“ haben nun Schweizer Wissenschaftler um Professor Martin Fussenegger am Department of Biosystems Science and Engineering der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Basel erreicht. Wie die Forscher in der Fachzeitschrift Science berichten ist es ihnen gelungen, menschliche Zellen so zu verändern, dass sie bei Bestrahlung mit blauem Licht das Hormon GLP-1 bilden, welches eine zentrale Rolle beim Zuckerstoffwechsel spielt
In einem zweiten Schritt verschlossen die Bioingenieure jeweils etwa zehn Millionen der lichtempfindlichen Zellen in durchsichtigen Mikrokapseln und implantierten diese bei sorgfältig ausgewählten Mäusen unter die Haut.
Die Versuchstiere hatten zunächst, ebenso wie menschliche Diabetiker, zu wenig körpereigenes Insulin gebildet. Als die Wissenschaftler jedoch die Haut der Mäuse mit blauem Licht beschienen, wurde der in den implantierten Zellen eingebaute Genschalter aktiviert. Wie geplant stieg dadurch die Produktion von GLP-1 an, es wurde mehr Insulin gebildet und der Zuckerstoffwechsel der diabetischen Mäuse normalisierte sich.
Der Triumph des Teams um Fussenegger und den Erstautor Professor Haifeng Ye baut auf einer Methode, die unter dem Namen Optogenetik seit Jahren Furore macht und die vor allem in den Neurowissenschaften sehr beliebt ist. Die Erbinformationen lichtempfindlicher Algen-Eiweiße werden dafür zusammen geschaltet mit künstlichen „Reporter-Genen“, die aktivierte Zellen aufleuchten lassen.
Mit Laserlicht, das durch eine Glasfaser in derartig manipulierte Hirnregionen geschickt wird, kann man dann Nervenzellen und -Schaltkreise nicht nur aufleuchten lassen, sondern gezielt aktivieren oder stilllegen. Häufig resultieren daraus Verhaltensänderungen, aus denen sich wichtige Informationen über die Funktion der manipulierten Nervenschaltkreise ableiten lassen.
Die Schweizer Bioingenieure haben nun als erste die Optogenetik erfolgreich genutzt, um eine Stoffwechselerkrankung bei Säugetieren zu behandeln, bemerkt Professor Edward Boyden, einer der Pioniere dieser Forschungsrichtung und Leiter der Arbeitsgruppe Synthetische Neurobiologie am Massachusetts Institute of Technology in Boston. „Sie haben auf beeindruckende Weise gezeigt, dass man die körperlichen Funktionen mit dieser Technik verändern kann – und das eröffnet eine ganze Reihe von Möglichkeiten.“ Als Beispiel nannte Boyden eine Präzisierung der Gentherapie.
Näher liegend ist es jedoch, die Produktion von Arzneimitteln und hochwertigen Biomolekülen mit Hilfe von Lichtschaltern zu optimieren. Bei ihren Vorversuchen am 250 Mitarbeiter starken Departement der ETH hatten die Basler Forscher bereits gezeigt, dass sie bei ihren gentechnisch veränderten menschlichen Zellen in Bioreaktoren die Produktion hochwertiger Proteine durch die Dauer und Intensität der Beleuchtung steuern können.
Wie lange es dauern wird, bis mit der neuen Methode die ersten menschlichen Patienten behandelt werden, darüber mag Fussenegger nicht spekulieren. Theoretisch wäre es zwar vorstellbar, Diabetikern, Rheumatikern, Schmerzpatienten oder Hämophilen ein Implantat mit entsprechend konstruierten Zellen unter die Haut zu setzen und diese Stelle mit einem Pflaster abzuschirmen, das ein paar LED-Lämpchen enthält. Per Knopfdruck ließen sich diese Lämpchen dann anschalten, so dass die gewünschten Substanzen frei gesetzt würden. „Aber das ist noch Science Fiction“, dämpft Fussenegger die Erwartungen.
erschienen in der SonntagsZeitung (Zürich). Einen weiteren Artikel aus meiner Feder zu diesem Thema finden sie im Nachrichtenmagazin „Focus“ (Ausgabe vom 7. November) unter dem Titel „Heilen mit Licht“.
Gefeiert wird er meist als Bioingenieur und als Pionier der Optogenetik, der dieser neuen und mächtigen Methode zu Untersuchung neuronaler Schaltkreise binnen weniger Jahre zum Durchbruch verhalf. Doch als Psychiater ist Karl Deisseroth auch in der medizinischen Praxis tief verwurzelt. Mindestens einmal in der Woche sieht er Patienten, die unter Depressionen leiden, unter Schizophrenie und anderen bislang kaum verstandenen Gemütskrankheiten. „Erst allmählich kommen wir über den Punkt hinaus, wo wir psychiatrische Erkrankungen als biochemische Probleme begreifen, die durch das Ungleichgewicht bestimmter Botenstoffe entstehen“, sagt Deisseroth. Er hält diese Vorstellung für grob und ungenau und er vermutet, dass die Ursachen vielmehr in der Art und Weise liegen könnten, wie spezifische Nervenschaltkreise miteinander verbunden sind. In der Optogenetik, sieht Deisseroth deshalb auch ein neues Instrument, um die Funktion dieser Nervenschaltkreise aufzuklären und Störungen durch gezielte Stimulierung zu beseitigen.
Zwar ist die tiefe Hirnstimulation mit implantierten Elektroden bei fortgeschrittenen Parkinsonpatienten bereits ein etabliertes Verfahren, und es gibt auch erste Erfolgsberichte zur Behandlung von Depressionen mit dieser Methode. Charles Nemeroff von der Emory University School of Medicine etwa löste damit bei seinen Patienten eine „plötzliche Leichtigkeit“ aus. Sie berichteten vom „Verschwinden der Leere“ oder einem „plötzlichen Aufhellen des Raumes mit schärferen Details und intensiveren Farben“. Diese Ansätze seien aber zu ungenau und mit zu vielen Nebenwirkungen behaftet, meint Deisseroth. Ganze Hirnregionen oder Nervenknoten mit Elektroden zu stimulieren sei „wie ein Dirigent, der gleichzeitig das gesamte Orchester antreibt, anstatt die Flöten zu fordern und die Pauken zu dämpfen. Elektroden sind schnell, aber dumm.“
Dass es auch anders geht, hat Herbert Covington im Labor des renommierten Psychiaters Eric Nestler an der Mount Sinai School of Medicine in New York bereits im Tierversuch mit Mäusen demonstriert. Er erzielte mithilfe der Optogenetik bei gestressten Nagern mit Lichtblitzen eine ähnliche Wirkung wie mit Antidepressiva. Die Tiere, die vorher soziale Kontakte verweigert hatten, erlangten wieder ihr normales Artverhalten, nachdem Covington und dessen Kollegen Neuronen des präfrontalen Cortex stimuliert hatten.
Auch Garret Stuber und Antonello Bonci haben bereits einen optogenetischen Schalter in das Gehirn von Mäusen eingesetzt. Am Ernest Gallo Clinic and Research Center der University of California San Francisco untersuchten sie damit einen neuronalen Schaltkreis, der an der Regulation des Suchtverhaltens beteiligt ist. Dazu nahmen die Forscher eine anatomische Verbindung ins Visier, die sich tief im Hirn von der Amygdala entlang spezifischer Nervenfasern bis zu den Neuronen des Nucleus accumbens im Vorderhirn erstreckt. Als sie den Tieren die Gelegenheit gaben, mit der Nase auf einen Kopf zu drücken und damit einen Lichtstrahl zu erzeugen, der jene Neuronen im Nucleus accumbens aktivierte, begannen die Tiere wie wild sich selbst zu stimulieren. Das Experiment bestätigte somit die zentrale Bedeutung der Zielregion des optischen Schalters für das Suchtverhalten.
Mithilfe der Optogenetik, fasst Deisseroth zusammen, bewege sich die Psychiatrie in Richtung einer Netzwerk-Wissenschaft, die komplexe Hirnfunktionen inklusive des Verhaltens als Eigenschaften eines Systems interpretiert, die aus der elektrochemischen Dynamik der Zellen und Nervenschaltkreise erwachsen. „Als Arzt“, fügt er hinzu, „finde ich diese Entwicklung faszinierend.“
Dieser Artikel erschien in englischer Übersetzung im Magazin Futura, dem Magazin des Boehringer Ingelheim Fonds, Stiftung für Medizinische Grundlagenforschung
Man nehme: Die Standardausrüstung eines modernen, molekularbiologischen Labors und eine Handvoll technisch versierter Mitarbeiter der unterschiedlichsten Disziplinen. Dazu gebe man Erbanleitungen für lichtempfindliche Eiweiße aus Grünalgen und Archaebakterien sowie synthetische Gene, die aktivierte Nervenzellen leuchten lassen. Diese Genkonstrukte schleuse man mit Hilfe ausgewählter Viren und eines stereotaktischen Leitsystems punktgenau in die zu untersuchende Region des Gehirns einer Maus oder einer Ratte. Anschließend schiebe man in die gleiche Region eine Glasfaser und verbinde diese auf der Schädeloberfläche sorgfältig mit einem miniaturisierten, durch einen Signalgenerator kontrollierten Laser sowie mit einer Hochgeschwindigkeitskamera zum Nachweis veränderter optischer Signale…
Wie ein ausgefeiltes Kochrezept liest sich das Protokoll für Wissenschaftler, die mithilfe der Optogenetik die Nervenschaltkreise des Gehirns untersuchen wollen. Die gesamte Prozedur könne in nur vier bis fünf Wochen abgeschlossen sein, versprechen die Autoren um Karl Deisseroth in ihrer 18-seitigen Anweisung, die sie kürzlich über das Fachmagazin Nature Protocols allen Interessierten zur Verfügung stellen. Mehr als 700 Laboratorien aus aller Welt haben mittlerweile von deren Labor am Departement for Bioengineering der Stanford University die notwendigen Reagentien angefordert. Deisseroth war nicht nur der Namensgeber der von Nature zur „Methode des Jahres 2010“ gewählten Technik, er ist auch fest davon überzeugt dass sie „neue Landschaften für das Studium der Biologie eröffnen wird“.
Dieser Artikel ist erschienen in englischer Übersetzung im Magazin Futura des Boehringer Ingelheim Fonds, Stiftung für Medizinische Grundlagenforschung
Im schwarzen, aber lässigen Anzug und mit dem Charisma eines großen Entertainers betritt Sebastian Seung die Bühne. Eindringlich beschwört der Professor des Massachusetts Institute of Technology (MIT) seine Zuhörer, während im Hintergrund jene vier Buchstaben auf der Leinwand flackern, die längst zum Symbol des Genzeitalters geworden sind: A, T, C und G. Auf der Leinwand scheint die Abfolge dieser Buchstaben endlos und zufällig zugleich, doch jedes Kind lernt heute in der Schule, dass dieser Code Erbinformationen darstellt – Bauanleitungen für Biomoleküle, Regeln für Wachstum und Entwicklung, und immer wieder auch Schwachstellen und „Druckfehler“, die uns anfällig machen für Krankheiten aller Art.
Aber Seung ist kein Genetiker. Und er glaubt auch nicht daran, das Schicksal des Menschen liege in seinen Genen, wie das der Nobelpreisträger James Watson einstmals im Überschwang formuliert hat, bald nachdem er zusammen mit Francis Crick die Struktur und Funktionsweise des Erbmoleküls DNS erkannt hatte.
„Ich bin nicht meine Gene“, lässt Seung stattdessen sein Publikum skandieren. Und nochmal, aber lauter: „Ich bin nicht meine Gene“. Dem Laborleiter an der Abteilung Brain and Cognitive Sciences des MIT und Chef von bald 20 hochtalentierten Wissenschaftlern der verschiedensten Disziplinen macht es offenbar großen Spaß, seine Zuhörer auf der TED-Konferenz im kalifornischen Long Beach zu verblüffen. In jeweils nur 18 Minuten sollen „die faszinierendsten Denker und Macher der Welt“ hier ihre Ideen präsentieren und „den besten Vortrag ihres Lebens“ halten – so lautet die Spielregel der gemeinnützigen Organisation. Seungs Idee lautet: „Ich bin mein Konnektom“. Und um zu erklären, was dies bedeutet, ist er hierhergekommen.
So wie die Summe aller Gene eines Lebewesens dessen Genom darstellt, entspricht das Konnektom der Summe aller Verbindungen zwischen dessen Nervenzellen. Sie definieren, davon ist Seung fest überzeugt, die menschliche Persönlichkeit mit all ihren Eigenheiten, Stärken wie Schwächen. Ich bin mein Konnektom, also definiert mein Konnektom mein „Ich“.
Schon in den 1960er Jahren hatte der Nobelpreisträger Eric Kandel bei Versuchen mit der Meeresschnecke Aplysia gezeigt, dass Erfahrungen und Lernvorgänge die Stärke der Verbindungen zwischen Nervenzellen verändern. 50 Jahre später sind die meisten Wissenschaftler davon überzeugt, dass auch unsere Erfahrungen sich in so genannten neuronalen Schaltkreisen niederschlagen – in der Zahl und Art der beteiligten Nervenzellen und in der Stärke der Verbindungen zwischen diesen Zellen. Hunderte von Labors versuchen inzwischen unter Einsatz der modernsten Techniken eine Brücke zu schlagen zwischen den Vorgängen in diesen Schaltkreisen und Phänomenen wie Wahrnehmung, Erkenntnis und Verhalten. Das Thema ist heiß, wie auch die 103. Titisee-Konferenz des Boehringer Ingelheim Fonds, Stiftung für medizinische Grundlagenforschung beweist. Mehr als 50 Experten aus den führenden Laboren der Welt hatten dabei im März 2011 vier Tage lang die neuesten Erkentnisse ausgetauscht.
Das letzte erfolgreiche wissenschaftliche Großprojekt war die Entzifferung des menschlichen Genoms mit seinen drei Milliarden „Genbuchstaben“ und 30000 Genen. Zehn Jahre hat es gedauert und drei Milliarden Dollar gekostet für einen ersten Entwurf, dessen Vollendung der frühere US-Präsident Bill Clinton mit einer Sondersendung aus dem Weißen Haus zelebrierte. Gleichwohl verblasst das Humangenomprojekt ebenso wie die Mondlandung gegenüber den Herausforderungen, denen Seung mit seinen Kollegen gegenüber steht: 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) enthält unser Denkorgan, und jede dieser Zellen kann bis zu 10000 Kontakte zu ihren Nachbarzellen aufnehmen. Dass „unsere Gehirne aussehen wie Spagetti“, wie Seung seinen Zuhörern in Long Beach mit dem Bild eines großen Tellers voller Pasta veranschaulicht, macht die Sache nicht leichter. Das menschliche Gehirn ist die komplexeste Struktur im bekannten Universum.
Noch vor 50 Jahren erschien es den meisten Forschern geradezu frivol, auch nur die Aktivierung einiger kleiner Nervenschaltkreise im Detail verfolgen zu wollen oder gar – Gipfel der Anmaßung – eine Verbindung herzustellen zwischen den Erregungszuständen dieser Schaltkreise und komplexen Verhaltensweisen wie Nahrungsaufnahme, Partnersuche und dem Unterhalt sozialer Beziehungen.
Tatsächlich ist es bereits gelungen, sämtliche Verbindungen sämtlicher Nervenzellen zu kartieren – allerdings „nur“ bei einem winzigen Modellorganismus, dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Wie das Telefonnetz eines Dorfes sieht dessen Konnektom aus, mit immerhin 7000 Verbindungen zwischen den exakt 302 Nervenzellen des kleinen Wurms. Ungezählte Doktoranden, die den durchsichtigen, nur einen Millimeter kleinen Organismus durch ihre Mikroskope betrachteten, wurden während der 1970er und 1980er Jahre über dieser Arbeit zu Brillenträgen. Dann stieß man nicht nur an die Grenzen es menschlich Zumutbaren, sondern auch des technisch Möglichen.
An der Grenze des technisch Möglichen steht auch Seung, doch hat er diese Grenzen zusammen mit Jeff Lichtmann und Kenneth J. Hayworth vom Harvard Center for Brain Science bereits mehrmals verschoben. So konnten die Wissenschaftler mit einer mehreren Millionen Dollar teuren, von Hayworth entwickelten Schnittmaschine die Gehirne von Mäusen nicht nur in buchstäblich hauchdünne Scheiben von drei Nanometer Tiefe zerlegen. Sie nutzen vielmehr auch ein weitgehend automatisiertes Verfahren, um aus den seriellen Dünnschnitten im Computer wieder dreidimensionale Würfelchen zusammen zu setzen. Unverzichtbarer Teil der Ausrüstung sind dabei spezielle Elektronenmikroskope, die am Heidelberger Max-Planck-Institut für Biomedizinische Forschung von Winfried Denk und Heinz Horstmann entwickelt wurden. Sie erlauben es, jene Nervenschaltkreise darzustellen, die durch miteinander verbundene Neuronen charakterisiert sind. Schließlich hilft bei dieser Herkules-Aufgabe auch noch eine von Seungs Studenten Viren Jain und Srini Turaga entwickelte Software, die auf dem Prinzip der künstlichen Intelligenz basiert und die anhand der Vorgaben der Forscher dazulernen kann, bis sie viele Aufgaben ohne fremdes Zutun alleine erledigt.
Trotz dieser Erleichterungen liegen aber noch etliche Größenordnungen zwischen Seungs digitalisierten Miniwürfeln aus eng gepackten Nervenzellen mit ihren derzeit gerade einmal sechs Mikrometer Kantenlänge und einem vollständigen Gehirn – und sei es nur das einer Fliege.
Am Institut für Molekulare Pathologie in Wien rückt Barry Dickson der Schwarzbäuchigen Taufliege – besser bekannt unter ihrem lateinischen Namen Drosophila melanogaster – daher mit einem ganz anderen Bündel von Methoden auf den Leib. Dickson verwaltet die weltweit größte Sammlung von Drosophila-Mutanten. Es sind Tausende von Stämmen, bei denen jeweils ein einziges Gen mit molekularbiologischen Tricks ausgeschaltet oder verändert wurde. „Wir wollen verstehen, wie die Informationsverarbeitung in definierten neuralen Schaltkreisen zu komplexen Verhaltensmustern führt“, erklärt Dickson das Ziel seiner 30-köpfigen Arbeitsgruppe. Besonders interessiert sich der Australier dabei für das Paarungsverhalten der Fliege. Also für Sex.
Wie bei anderen Verhaltensweisen auch erhält das Gehirn dabei Signale aus der Innen- und Außenwelt durch eine Vielzahl von Sensoren. Signale, die sowohl untereinander als auch mit früheren Erfahrungen in Einklang gebracht werden müssen. Wenn das Fliegenmännchen also die Dame seiner Wahl umtanzt und mithilfe seiner vibrierenden Flügel ein „Liebeslied“ vorträgt, wenn sie sich ziert und er sich müht, und wenn dieses Spiel schlussendlich zur Vermählung führt, dann – so glaubt nicht nur Dickson – sind dabei zumindest auf der Ebene der Gene und der Zellen die gleichen Mechanismen und Prinzipien zugange, wie bei anderen Vertretern des Tierreiches. Bis hin zum Menschen.
„Es geht um komplexe Entscheidungen die von komplexen Gehirnen getroffen werden“, erklärt Dickson. An Fliegen jedoch kann man, anders als beim Menschen, eine Vielzahl genetischer Werkzeuge einsetzen, um die beteiligten Neuronen zu identifizieren und zu manipulieren. Molekulargenetik und Elektrophysiologie treffen sich hier mit ausgefeilten Computeranalysen und der Optogenetik, die Lichtstrahlen benutzt um neurale Schaltkreise zu aktivieren und zu vermessen.
Die komplexen Wechselwirkungen zwischen Erbanlagen und Nervenzellen hat Dicksons Team besonders intensiv an dem Gen fruitless untersucht. Obwohl bei Männchen und Weibchen die gleichen Erbinformationen vorliegen, erstellt die Maschinerie der Zellen daraus unterschiedliche Blaupausen. Zwingt man Männchen, weibliche Transkripte von fruitless zu erstellen, so verhalten die Tiere sich eher wie Weibchen. Auch die spiegelbildliche genetische Manipulation haben Dicksons Mitarbeiter schon vorgenommen – und den Fliegenweibchen dadurch das Paarungsverhalten des anderen Geschlechts aufgezwungen.
Getrieben wird das unterschiedliche Verhalten von Männlein und Weiblein offenbar von 2000 Nervenzellen, in denen fruitless abgelesen wird und deren „Schaltplan“ mittlerweile vollständig und dreidimensional kartiert wurde. Die fruitless-Neuronen indes unterscheiden sich in etwa 100 verschiedene Typen. Eine der nächsten Aufgaben, die Dickson mit seinem Team in Angriff nehmen will, ist deshalb die gezielte Manipulation einzelner Subpopulationen in dem Schaltkreis. Ziel ist es herauszufinden, welchen Anteil am Paarungsverhalten die unterschiedlichen Neuronen haben, welche biochemischen und elektrischen Signale hier verarbeitet werden und ob sich dabei Unterschiede zwischen Fliegenweibchen und –Männchen dingfest machen lassen. Schon haben die Wissenschaftler elf anatomische Dimorphismen im fruitless-Schaltplan gefunden: Subtypen von Nervenzellen, die entweder ausschließlich oder gehäuft bei Männchen vorkommen oder deren Verzweigungen bei Männchen und Weibchen unterschiedlich aussehen.
Die anfängliche Verarbeitung von Umweltreizen und die Steuerung der Bewegungen sind bei den Drosophila-Geschlechtern offenbar sehr ähnlich organisiert. Dank der neuen Techniken aber konnte Dicksons Team womöglich zeigen, warum Männchen und Weibchen sich dennoch unterschiedlich verhalten: Die entscheidende Rolle spielen dabei offenbar dimorphische neurale Schaltkreis im Gehirn, die einkommende Signale mit den Befehlen zur Bewegungssteuerung verbinden. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern in diesen Schaltkreisen erklärt vermutlich, warum Männchen und Weibchen unterschiedliche Dinge tun, wenn sie die gleichen Signale empfangen.
Maximal 150 000 Nervenzellen birgt das Fliegenhirn, immerhin 700 000 Mal so viele das unsrige. Die Zahl der Verbindungen im menschlichen Denkorgan wird sogar auf eine Billion geschätzt. Ist es da nicht fahrlässig, von Fliegen auf Menschen zu schließen?“ Ich weiß, dass Menschen komplizierter sind als Fliegen“, antwortet Dickson diplomatisch. „Aber einige Gesetzmäßigkeiten in der Funktion der Nervenzellen haben wir wahrscheinlich mit ihnen gemeinsam. Unser Ziel ist es, diese gemeinsamen Prinzipien zu enträtseln.“
Auch das Gedächtnis funktioniert bei Fruchtfliegen und Mäusen wohl nicht anders als bei Menschen. Viel Aufmerksamkeit erntete deshalb Michael Häusser vom Wolfson Institute for Biomedical Research des University College London, als er Beweise für eine lange gehegte Vermutung präsentierte: Beim Lernen werden Gedächtnisinhalte in Form spezifischer Gruppen aktivierter Neurone kodiert, die zusammen ein Netzwerk bilden.
In seinem Experiment hatte Häusser Mäusen beigebracht, einem Ton mit einem darauf folgenden leichten Stromschlag in Verbindung zu bringen, sodass die Nager anschließend schon beim Erklingen des Geräuschs aus Angst regelrecht erstarrten. In die Gehirne der Tiere hatten die Forscher zuvor ein synthetisches Gen eingeschleust. Es wird nur in aktivierten Zellen eingeschaltet und bildet dann gleichzeitig ein lichtempfindliches Eiweiß sowie ein weiteres, grün leuchtendes Eiweiß als „Reporter“ für dieses Ereignis. Mit blauem Laserlicht, das die Forscher durch eine Glasfaser in die Hirnstruktur des Hippocampus lenkten, gelang es anschließend, jene Neurone zu aktivieren, die an der Gedächtnisbildung beteiligt waren. Auch ohne das Angst-auslösende Tonsignal erstarrten nun die Mäuse.
„Nur mit einem Lichtblitz ist es uns gelungen, das Gedächtnis der Tiere wieder zu aktivieren“, freut sich Häusser über die Leistungsfähigkeit der Optogenetik. Etwa zwei Millionen Neuronen liegen im Gyrus dentatus, jener Region des Hippocampus, die Häusser untersucht hat. Ungefähr 200 000 werden aktiviert, wenn die Mäuse Angst bekommen und lernen, dass dem Tonsignal ein Stromstoß folgt. Dennoch reichte es aus, weniger als 100 Neuronen und in manchen Experimenten sogar nur 20 mit dem Laser zu bestrahlen, um die gelernte Lektion abzurufen und die totale Erinnerung zu erreichen.
In Gedanken und vor Publikum spielt auch Sebastian Seung mit der „Totalen Erinnerung“. Allerdings denkt der Konnektomics-Pionier dabei an Menschen und nicht an Mäuse. Und für sein Gedankenspiel nimmt er den Begriff „Totale Erinnerung“ wörtlich: Der ultimative Test für seine Theorie könnte der Versuch sein, die vollständigen Erinnerungen aus einem menschlichen Gehirn auszulesen. „Wir lachen über die Leute, die ihren toten Körper einfrieren lassen in der Hoffnung, die Medizin der Zukunft werde ihre Persönlichkeit zu neuem Leben erwecken. Aber wer weiß – vielleicht stehen diese Leute ja eines Tages an unseren Gräbern und lächeln über uns?“
Dieser Artikel ist erschienen in englischer Übersetzung in Futura, dem Magazin des Boehringer Ingelheim Fonds (Ausgabe 26, 1/2011).
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