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Starthilfe für Neuro-Krieger

Das amerikanische Verteidigungsministerium nutzt gezielt die neuesten Erkenntnisse und Techniken aus der Hirnforschung, um die US-Streitkräfte besser auf Kriege vorzubereiten. Dies ergibt sich aus mehreren Präsentationen beteiligter Wissenschaftler, die ihre Arbeiten kürzlich im Rahmen der Jahrestagung der Society for Neuroscience in Washington vorgestellt haben.

Bessere Soldaten Dank Neurowissenschaft? (Foto: DARPA)

Durch die Stimulation hinter der Stirn gelegener Hirnregionen mit Schwachstrom ist es einer Arbeitsgruppe um Andy McKinley am Luftwaffenforschungszentrum in Dayton (Ohio) bereits gelungen, die Zielanalyse von Luftbildern aus Aufklärungsflügen zu verbessern. “Angesichts des exponentiell steigenden Bedarfs für militärische Informationen, Überwachung und Aufklärung hat die Air Force Schwierigkeiten, genug qualifiziertes Personal auszubilden, um die gewaltigen Mengen an Bildmaterial auszuwerten, die dabei anfallen”, begründen die Wissenschaftler ihre Studie, die sie unter dem unauffälligen Titel “Nicht-invasive Hirnstimulation zur Beschleunigung des Lernens” vorstellten.

Eine Methode um die Schlagkraft der Aufklärer zu stärken, könnte die so genannte transkranielle Hirnstimulation sein, bei durch die Schädeldecke hindurch Strom- oder Magnetfelder wirken, glaubt McKinley. Zwar wird das Verfahren bisher hauptsächlich in der Grundlagenforschung eingesetzt und zunehmend auch bei Krankheiten wie Depressionen, Schmerzen oder zur schnelleren Rehabilitation nach einem Schlaganfall erprobt. McKinley aber möchte seine Kollegen überzeugen, dass die Hirnstimulation mindestens ebenso gut geeignet sein könnte, um Menschen “bei der Arbeit zu unterstützen und ihre Leistung zu verbessern”.

Diese Arbeit bestand für die 13 jungen Männer in der Studie darin, auf monotonen Radarbildern möglichst schnell die “richtigen” Bombenziele zu finden. Diejenigen, die durch spezielle Elektroden eine halbe Stunde lang schwachen Gleichstrom über der rechten Stirn erhalten hatten, erkannten danach durchschnittlich 6 bis 7 mal mehr richtige als falsche Ziele. Wurde die gleiche Ausrüstung während der halbstündigen Sitzung dagegen nur für 30 Sekunden aktiviert, war die Zielerkennung nicht einmal halb so gut, und die Probanden identifizierten im Mittel nur 3 richtige Ziele für jedes falsche. Wie lange der Nutzen der Hirnstimulation anhält und ob man die Methode auch über viele Wochen hinweg immer wieder anwenden kann, ohne die Aufklärer zu gefährden soll als nächstes erforscht werden, kündigte McKinley an.

Auf die Idee, dass man den Gehirnen der Spezialisten womöglich auf die Sprünge helfen könnte, hatte die Militärs eine Studie von Vince P. Clark und dessen Kollegen vom Mind Research Network in Albuquerque (New Mexico) gebracht. Dort hatte man bei 96 Freiwilligen ebenfalls 30 Minuten lang mit zwei Milliampere Gleichstrom die rechte Seite des Stirnhirns angeregt. Nur eine Stunde später hatte sich die Reaktionszeit halbiert, binnen derer die Versuchsteilnehmer in einer vom Computer geschaffenen virtuellen Umgebung bedrohliche Gegenstände ausfindig machten. Das Geld für die in der Fachzeitschrift Neuroimage veröffentlichte Studie kam von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), der Forschungsbehörde der US-Streitkräfte. Die DARPA hat auch McKinleys Arbeit finanziert sowie mindestens acht weitere Studien, die auf der Tagung in Washington präsentiert wurden.

Nach einer Hirnstimulation konnten Bombenziele schneller erkannt werden (Foto: DARPA)

Eine der Fragen, für die die Militärs sich interessieren, sind die “neuralen Mechanismen des Leistungsvermögens in extremen Umgebungen”, so der Titel einer weiteren Untersuchung durch das “OptiBrain Consortium” im kalifornischen San Diego, dem Hauptquartier der US-amerikanischen Pazifikflotte. In dem Forschungsverbund arbeiten Seite an Seite Wissenschaftler der Universität von Kalifornien (UCSD), des Gesundheitsforschungszentrums der Marine (Naval Health Research Center, NHRC) sowie von deren “Spezialzentrum für Kriegsführung”(Naval Special Warfare Center); beteiligt ist aber auch das Olympia-Trainingszentrum im nahe gelegene Chula Vista. Erklärtes Ziel des Teams um den emeritierten Psychiatrie-Professor Martin P. Paulus ist es, “die geistigen Prozesse besser zu verstehen, die unter extremem Stress Vorteile bringen”.

Dazu haben die Forscher elf Mitglieder der Navy-Seals – einer Elitetruppe der US-Marine – in den Hirnscanner gelegt, und deren Reaktion auf unterschiedliche Gesichtsausdrücke erfasst. Zum Vergleich dienten 23 gleichaltrige Geschlechtsgenossen sowie 10 Extremsportler, die bei einer Kombination aus Orientierungs- und Langstreckenlauf (”Adventure Racing”) zu den besten gehörten. Beim Erkennen der unterschiedlichen Gesichtsausdrücke wie Angst, Wut oder Glück erwiesen sich die Hirne der Elitesoldaten wie auch der Extremsportler als besonders zielgerichtet. Sie aktivierten genauer und stärker als bei den Zivilisten den Insellappen (Insula) auf der rechten Seite des Gehirns, dagegen weniger stark den linksseitigen Insellappen. Dieses Areal ist kaum größer als eine Euro-Münze und liegt verdeckt von Stirn- und Schläfenlappen ungefähr dort, wo man anderen Menschen den Vogel zeigt.

Was die nachgewiesenen Unterschiede in der Hirnaktivität zwischen Elite- und “Normalmenschen” zu bedeuten haben, ist angesichts der vielfältigen Funktionen der Insula jedoch nur schwer zu interpretieren. Dieses Areal vermittelt zum Beispiel Geschmack und Ekel sowie Fairness und Mitgefühl, und die Insula beeinflusst auch die Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen. Die Sponsoren der Studie mussten sich daher mit einer eher mageren Beschreibung des Gesehenen bescheiden und mit der Behauptung, man habe “die Reaktion der rechtsseitigen Insula als einen möglichen neuralen Mechanismus für optimale Leistungen unter extremen Umständen” identifiziert.

Kriegsentscheidene Durchbrüche sehen anders aus, und auf der Konferenz in Washington standen der Handvoll rein militärischer Projekte etwa 15000 weitere Präsentationen aus allen Bereichen der Hirnforschung gegenüber. Dass die überwiegende Mehrzahl der 32000 Teilnehmer politisch eher der Demokraten-Partei des US-Präsidenten Barack Obama zuneigt, als dessen Vorgänger George W. Bush, der das Land in zwei Kriege geführt hat, ist ein offenes Geheimnis. Dazu passt auch ein politischer Vorstoß, den bereits im Vorjahr in San Diego auf der gleichen Konferenz Curtis Bell vom Neurological Sciences Institute der Universität Oregon gewagt hatte. Bell präsentierte dort einen Aufruf, wonach Neurowissenschaftler sich öffentlich dazu verpflichten sollten, mit ihrer Arbeit weder Folter noch Angriffskriege jedweder Art zu unterstützen. Immerhin: Mehr als 200 Hirnforscher aus 18 Ländern haben diesen Aufruf bislang unterschrieben. “Auch die Neurowissenschaften haben eine gute und eine schlechte Seite”, so Bell. “Wir sollten die dunkle Seite schwächen und weiter daran arbeiten, den Nutzen der Hirnforschung zu stärken.”

  Quellen:

McKinley A et al. Acceleration of Air Force image analyst training using transcranial direct current stimulation (TDCS). Program No. 830.14. 2011 Neuroscience Meeting Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2011. Online.

Clark VP et al. TDCS guided using fMRI significantly accelerates learning to identify concealed objects, NeuroImage, 59 (1): 117-128.

Thom N. et al. Neural mechanisms of performance in extreme environments: Emerging evidence from warfighters and elite athletes. Program No. 830.14. 2011 Neuroscience Meeting Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2011. Online.

Paulus MP et al. Differential brain activation to angry faces by elite warfighters: neural processing evidence for enhanced threat detection. PLoS One, 5(4):e10096.

Bell, CC. Pledge of refusal to participate knowingly in applications of neuroscience to torture and aggressive war. Program No. 28.6. 2010 Neuroscience Meeting Planner. San Diego, CA: Society for Neuroscience, 2010. Online.

Weitere Informationen:

Die Zeitschrift “Synesis” hat dem Thema eine Schwerpunktausgabe gewidmet. Unter dem Titel “Neurotechnology in National Security, Intelligence and Defense” finden sich (auf englisch) neun Beiträge im Volltext online.

Kein Wunschdenken: Alter Körper – frischer Geist

Wer so wie ich ständig über Alzheimer und anderer Gedächtniskrankheiten (Demenzen) schreibt, könnte leicht verzweifeln: Fast jede Veröffentlichung zu diesem Thema verweist auf die mehr als eine Million alter Menschen, die bereits heute in Deutschland an Alzheimer leiden. Ohne einen echten Durchbruch bei der Entwicklung neuer Arzneien sagen Statistiker eine Verdoppelung dieser Zahl in naher Zukunft voraus. Und schon bei meiner ersten Geschichte zu diesem Thema (vor nunmehr 20 Jahren) sagte mir der damals hierzulande führende Forscher, Professor Konrad Beyreuther, resignierend: „Wenn wir alt genug werden, kriegen wir alle Alzheimer“. Da kommt mir eine Geschichte mit dem Titel „Alter Köper – frischer Geist“ gerade recht, die ich dem Magazin amPuls Online der Universität Freiburg entnehme. Vier von fünf Senioren beiben demnach von der gefürchteten Krankheit verschont.

Professor Michael Hüll, Demenz-Experte am dortigen Klinikum sieht die Sache positiv und betont: Das Nachlassen des Gedächtnisses jenseits der 60 muss nicht sein. Bei bestimmten Fähigkeiten nimmt die Leistung sogar zu. „80 Prozent der über 80-jährigen haben keine Demenz“, sagt Hüll, Demenz-Experte des Universitätsklinikums Freiburg, wenn er auf die Gefahren der Altersdemenz angesprochen wird. Keinesfalls will er, dass diese ernsthafte Krankheit unterschätzt wird.

Doch vier von fünf Menschen werden im hohen Alter keine größeren Probleme mit dem Merken von Neuem, Erinnern von Erlebtem und Wiedererkennen vertrauter Gesichter haben. „Beim normalen Altern verliert der Mensch keine Nervenzellen“, sagt der Leiter der Sprechstunde für Gedächtnisstörungen. Die Zusammenhänge zwischen Alter und Gedächtnis seien nämlich weniger beunruhigend, aber deutlich komplizierter, als allgemein angenommen. Mit dem Alter macht der Körper Veränderungen durch, die sich auf manche Fähigkeiten positiv, auf andere negativ auswirken. So sind Sportler in den meisten Disziplinen mit 25, spätestens 30 Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.

Danach nehmen Kraft und Ausdauer aber auch die Reaktionsgeschwindigkeit nachweisbar ab. „Wenn Michael Schuhmacher mit 40 Jahren doch nicht wieder Rennen fahren will, wird das auch an seiner Reaktionsfähigkeit liegen“, ist sich Gedächtnis-Experte Hüll sicher. Während die Fähigkeit zu hören und zu sehen abnimmt, können wir nicht mehr so schnell so viele Informationen aufnehmen und verarbeiten wie in jungen Jahren. Die Folge: Das Gehirn hat es schwerer, die zum Teil unvollständigen Informationen zu verarbeiten. Der Mensch reagiert langsamer, braucht mehr Zeit um Sachverhalte zu erkennen – er wird aber nicht unbedingt vergesslicher.

Der Versuch einem Gespräch zu folgen kann zum Beispiel schlicht am schlechten Hören scheitern. Beobachter denken hingegen, dass viele Einzelheiten vergessen wurden. „Große Schriftsteller haben ihre besten Werke meistens im Alter geschrieben“, nennt Hüll den Gegenpol zur abnehmenden körperlichen Leistungsfähigkeit. Während diese sinkt, und mit ihr die Möglichkeit Informationen schnell zu verarbeiten, reifen im Alter soziale Fähigkeiten und das Verständnis für Zusammenhänge erst richtig heran.

Altersweisheit ist daher kein bloßes Gerücht. „Welt- und Erfahrungswissen können zusammen mit einer zunehmenden sprachlichen Gewandtheit die Abnahme unserer Verarbeitungsgeschwindigkeit kompensieren“, ist sich der Experte sicher. Bei der Frage, wie sich das Gehirn nun bis ins hohe Alter fit halten lässt, scheiden sich jedoch die Geister. Ein Patentrezept gibt es ohne Zweifel nicht. Dafür mehren sich Hinweise, was sich positiv auf die Gedächtnisleistung auswirken kann. „Das Gehirn lässt sich nicht trainieren wie ein Muskel“, sagt Experte Hüll. Aber vielfältige Anregungen von Geburt an steigern sehr wahrscheinlich die Chance, auch im hohen Alter geistig fit zu sein. Viele Sozialkontakte und vielfältige Interessen halten das Denkorgan am Laufen.

Die besten Grundlagen für die „graue Masse“ legen sich dabei in jungen Jahren: „Eine gute schulische und berufliche Ausbildung gibt Hirnreserven im Alter“, so Hüll. Auch wichtig: Es gibt Hinweise, dass die sogenannte „mediterrane Ernährung“ mit wenig Fleisch und regelmäßigem Fischkonsum sich auf den Erhalt unseres Denk-Organs auswirkt. Andererseits gibt es Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer Demenz steigern. Wenig körperliche Bewegung, einseitige Ernährung oder Depressionen mitsamt sozialer Zurückgezogenheit gelten unter Experten als Risiko-Faktoren. Die meisten dieser Faktoren lassen sich durch unsere Lebensführung beeinflussen. Eine Garantie gegen Alzheimer ist das sicher nicht, aber doch ein erneuter handfester Hinweis, dass jeder selbst etwas tun kann, um seine Gefährdung zu verringern.

Weitere Informationen:

Strom bringt bei Ratten Gedächtnis zurück

Mit Elektroreizen haben amerikanische Wissenschaftler durcheinander geratene Hirnströme bei Ratten wieder in Einklang gebracht und dadurch einen vorübergehenden Gedächtnisverlust (Amnesie) kuriert. Die neuartige Methode könne vielleicht auch einmal bei Menschen eingesetzt werden, spekulierte Prasad R. Shirvalkar vom Mount Sinai Medical Center (New York) bei der Präsentation seiner Arbeit auf einem Fachkongress in Chicago.

„Unsere Experimente zeigen, dass zwei Arten von Hirnströmen – Theta und Gamma – in Einklang gebracht werden müssen, damit wir uns an vergangene Ereignisse erinnern können“, erläuterte Shirvalkar auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience, der weltweit größten Tagung von Hirnforschern. „Hirnwellen sind elektrische Rhythmen, in denen sich die Erregung und Hemmung von Nervenzellen widerspiegelt. Wie die Noten eines Liedes sind die Hirnwellen aus verschiedenen Frequenzen zusammen gesetzt. Der Hippocampus, eine Hirnstruktur, die bei der Gedächtnisbildung eine wichtige Rolle spielt, hat zwei auffällige Rhythmen: Theta, mit sieben Schwingungen pro Sekunde, und Gamma, mit 30 Schwingungen pro Sekunde. Wenn die beiden Rhythmen zusammen geführt werden, harmonisieren sie sich etwa so, wie verschiedene Noten einen Akkord bilden können.“

Shirvalkar und seine Mitarbeiter haben nun bei Ratten heraus gefunden, dass Theta- und Gammawellen in Einklang waren, wenn Gedächtnisinhalte erfolgreich aufgerufen wurden; aber nicht, wenn die Erinnerung versagte. Den Gleichklang der Hirnwellen störten die Forscher bei ihren Versuchstieren mit der vorübergehenden Anwendung des Betäubungsmittels Musimol im Hippocampus. Anschließend konnten die Ratten sie sich nicht mehr erinnern, wo in einem Wassertank eine versteckte Plattform lag, auf der sie sich beim umher schwimmen ausruhen konnten. Den künstlich hervor gerufenen Gedächtnisverlust konnten die Wissenschaftler jedoch zumindest teilweise beheben, als sie bei den Nagern eine spezielle Hirnstruktur, den Fornix mit Strom stimulierten. Der Fornix ist eine Nervenbahn, die den Hippocampus mit anderen Regionen des Gehirns verbindet.

Mit speziellen Aufzeichnungsgeräten im Miniaturformat war es den Forschern gelungen, zu beobachten, wie die Hirnwellen sich beim Lernen des Ortes der versteckten Plattform zunächst synchronisiert hatten. Sie konnten zusehen, wie dieser Einklang von Theta- und Gammaband durch die Betäubung wieder verloren ging. Und als sie durch die gezielte elektrische Stimulation des Fornix den Einklang zwischen Theta- und Gammawellen wieder herstellten, erinnerten sich die Ratten und fanden die versteckte Plattform wieder.

„Diese Entdeckung ebnet den Weg zu möglichen neuen Behandlungen, die das Gedächtnis verbessern“, so Shirvalkar. Der Hirnforscher denkt dabei an eine Variante der elektrischen Tiefhirnstimulation. Dieses Verfahren wird bereits seit Jahren erfolgreich eingesetzt, um die Bewegungsstörungen von Parkinson-Patienten und anderen Kranken zu lindern. „Würde man mit der gleichen Methode Hirnregionen reizen, die am Abruf von Erinnerungen beteiligt sind, könnte das vielleicht den Gedächtnisverlust bei der Alzheimer-Krankheit oder bei anderen Demenzen verringern.“

Quelle:

  • Shirvalkar PR, Rapp PR, Shapiro ML. Hippocampal theta gamma coherence is required for episodic memory: Therapeutic effects of fornix stimulation on temporary amnesia. Abstract 100.9. des 2009 Neuroscience Meeting Planner. Chicago, IL: Society for Neuroscience, 2009. Online.

 

Buchbesprechung: Valentin Braitenberg erklärt die Welt

„In diesem Buch will ich versuchen, eine Weltanschauung – meine eigene – in ihrer Gesamtheit darzustellen“, verspricht Valentin Braitenberg im Vorwort seines neuen Werkes: „Das Bild der Welt im Kopf – Eine Naturgeschichte des Geistes„. In der Wikipedia wird Braitenberg als „Hirnforscher, Kybernetiker und Schriftsteller“ vorgestellt, außerdem als ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für Kybernetik in Tübingen. Weil diese Beschreibung zwar genau ist, aber doch verkürzt, und weil es ziemlich schwierig ist, diesem originellen Kopf gerecht zu werden, möchte ich lieber etwas weiter ausholen und zitiere dazu vom Einband des bereits genannten, 211 Seiten starken Bandes:

Lebt für die Lust am Verstehen: Professor Valentin Braitenberg (Foto: Schattauer Verlag)

Lebt für die Lust am Verstehen: Professor Valentin Braitenberg (Foto: Schattauer Verlag)

„Professor Dr. Dr. h. c. Valentin Braitenberg. In Bozen geboren – im selben Jahr wie die Quantenmechanik, die Königin von England und Fidel Castro. Italienisches humanistisches Gymnasium sowie Ausbildung als Geiger am Konservatorium in Bozen. Im letzten Kriegsjahr in Folge unbedachter Äußerungen Mitglied einer Strafkompanie, die mit dem Ausgraben unexplodierter Bomben in Innsbruck betraut wurde. Dann Bratschist im Tiroler Landesorchester in Innsbruck, Student der Physik, später der Medizin. Promotion und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Rom. Nach Forschungsjahren in Deutschland und in den USA Habilitation in Kybernetik und Informationstheorie… Autor von mehreren Sach- und Fachbüchern. Valentin Braitenberg lebt, mit einer New Yorkerin verheiratet, in Tübingen, Meran und Neapel.“

Zurück zum Vorwort, wo der sympathische Professor (ein Besuch in seinem Labor liegt nunmehr bald 20 Jahre zurück) erklärt, das Buch sei vor allen Dingen dem Wunsch entspungen, „das Gedankengebäude, in dem ich mich behaglich eingerichtet habe, auf seine Geschlossenheit zu überprüfen. Dahinter verbirgt sich keineswegs der Gedanke, dass meine Art, die Welt – und mich in ihr – zu sehen, etwa die bestmögliche oder gar die einzig mögliche sei. Eher schon verstehe ich sie als einen Köder, der mir Leute, die ähnlich denken, zuführen und vielleicht zu Freunden machen könnte. Doch sind mir die anderen, die gute Gründe haben, anders zu denken, genau so lieb.“ Und weiter stichelt Braitenberg: „In der sicheren Erwartung, dass mich die Philosophen nicht zitieren werden, zitiere ich sie auch nicht.“

Auf das Vorwort folgt noch ein Beipackzettel – eine kleine Gebrauchsanweisung, in der Braitenberg seinen Lesern empfiehlt, die Dosis von einem Kapitel pro Tag nicht zu überschreiten. Von der Lektüre nach den Mahlzeiten wird abgeraten. Kapitel 1 könne Widerwillen auslösen und solle dann übersprungen werde, in Kapitel 3 droht Schwindelgefühl, „besonders, wenn man sich nicht genug Zeit für Meditation nimmt“, andere Passagen könnten allergische Reaktionen hervorrufen oder Ermüdungserscheinungen, doch seien Unverträglichkeiten mit anderen Weltanschauungen bisher nicht beobachtet worden.

So weit, so gut. Wir sind gewarnt. Überfliegen noch schnell ein Vorwort des Hirnerklärers und -forschers Manfred Spitzer und stürzen uns hinein in das Lesevergnügen. Die Lust am Verstehen sei der Grund für seine Mühe gewesen, sagt Braitenberg und zieht uns wie versprochen mit erstaunlicher Leichtigkeit hinein in seine Welt. Erklärt ´mal eben, warum Mensch, Tier und Pflanze am Leben hängen und läßt durchblicken, dass diese Erklärung ihm fast schon hinreicht, um auch den Sinn des Lebens zu erklären – oder jedenfalls das, was uns alle antreibt. Im Abschnitt „Verstehen“ geht es um Wissenschaft und ihre Spielregeln, um Menschen, die geistige Kataloge erstellen und solche, die aus Sucht oder aus Faulheit nach Regeln suchen.

„Im Grunde bin ich aber in mein eigenes Denken verliebt“, entschuldigt sich Braitenberg verschmitzt und verweist wie zur Entschuldigung darauf, dass diese Lust am Verstehen, die ihn durchs Leben trägt, keine Sättigung kennt. Außerdem habe diese Lust anderen Lüsten vieles voraus: „Anders als beim Raffen von Geld und Macht oder beim Sammeln von Liebestrophäen nimmt das,was ich gewinne, wenn ich der Lust am Verstehen nachgehe, keinem Menschen etwas weg“. Es folgt eine umwerfende Utopie für die Satzung einer Republik mit zehn Regeln, darunter einer Schulpflicht bis ins Rentenalter. Am besten gefällt mir Paragraph zehn, wonach die Satzung der Republik vom Volk mit 6/7Mehrheit geändert werden kann. „Das Volk in diesem Sinne besteht aus allen Bürgern im Alter zwischen 40 und 50 Jahren, die überdurchschnittliche schulische Leistungen nachweisen können. Ausgenommen sind Geisteskranke, Millionäre, Betreiber von Fernsehanstalten, Designer, Stars im Sport- oder Showgeschäft oder Berufspolitiker.“ Ist diese Utopie ernst gemeint oder nicht? Wie kam der Mann auf diese zehn Regeln?

Zu Schade, dass an diesem Punkt, am Ende des ersten Kapitels, weitgehend Schluss ist mit lustig. Bitte Herr Braitenberg – lassen Sie uns (in ihrem nächsten Buch?) teilhaben an jenen Gedanken, die ihrer utopischen Republik zugrunde lagen. Denn von nun an ging es mit dem Lesevergnügen für mich leider bergab. Der scharfe Intellekt des Autors und seine Gabe, Zusammenhänge aufzuzeigen, blitzt zwar immer wieder auf und auch im zweiten Kapitel – dem Blick nach innen – komme ich nicht umhin, immer wieder zustimmend-anerkennend-überrascht-erfreut zu nicken, und meine Notizen an den Rand zu kritzeln.

Vielleicht liegt es an meinem Beruf als Wissenschaftsjournalist, vielleicht an meiner Spezialisierung auf die Hirnforschung, jedenfalls erschienen mir restlichen Kapitel weitaus weniger spannend und einleuchtend. Zwar sind auch die Meditationen über die physikalische Welt sowie über die Entstehung und Vermehrung von Lebewesen durchaus lesenswert und durchzogenen von originellen Gedanken und Erläuterungen. Spätestens wenn Braitenberg jedoch zu seinem eigentlichen Spezialgebiet kommt, dem Gehirn als Ebenbild der Welt, seinem Gebrauch und dem darin verankerten Sinn für Ästhetik, hätte ich mir etwas mehr Zurückhaltung bei der Erläuterung der Anatomie und Physiologie unseres Denkorgans gewünscht.  In seinem Beipackzettel hatte Braitenberg zwar fairerweise vor Emüdungserscheinungen bei diesen Kapiteln gewarnt. Dennoch erlaube ich mir zu sagen: Weniger wäre hier mehr gewesen.

Hier konnte Braitenberg, der wohl an die vierzig Jahre lang Hirnschnitte durch das Mikroskop angeschaut hat, sich weniger gut in den Leser hinein versetzen. Dem Buch schadet es jedenfalls, dass nach dem furiosen Auftakt peu a peu der Anteil an Erklärungsbedürftigem zu- und die Spannung dadurch abnimmt. Wer wie bei einem Kriminalroman auf den letzten Seiten eine Auflösung erwartet, die den Leser für seine Geduld belohnt, muss sich auf eine Enttäuschung einstellen. Wer sich von dieser  Aussicht nicht abschrecken läßt, wird jedoch auch jenseits des dritten Kapitels noch einigen Rosinen finden, die der Mühe wert sind. Mit dieser kleinen Einschränkung möchte ich mich dem Urteil Manfred Spitzers anschließen: Die cartesianischen Meditationen á la Braitenberg geraten jedem denkenden Menschen zu einem ganz privaten Vergnügen der besonderen Art.

Interview: Gewalt durch neue Medien?

F: Herr Professor Beutel: Wenn Journalisten über Gewaltverbrechen berichten – erhöht sich dadurch die Gefahr für weitere Amokläufe? Immerhin haben „Trittbrettfahrer“ in einem halben Dutzend Städten nach dem Amoklauf von Winnenden mit ähnlichen Taten gedroht.

A: Das kommt auf die Art der Berichterstattung an, aber auch auf das Medium. Jugendliche werden heute sehr stark von Bildern, Filmen und Videos geprägt. Diese Art der Berichterstattung regt vielleicht mehr zum Mit- und Nachmachen an, während Printmedien eher die Reflektion fördern.

F: Nach dem Amoklauf von Winnenden wird wieder einmal über einen möglichen Zusammenhang zwischen Computerspielen – speziell den „Ego-Shootern“ und Ausbrüchen von Gewalt diskutiert. Gibt es denn harte wissenschaftliche Beweise für solch einen Zusammenhang oder muss die Spieleindustrie als Sündenbock für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung herhalten?

Nicht alle Medien sind gleich gefährlich, sagt Prof. Manfred Beutel

Nicht alle Medien sind gleich gefährlich, sagt Prof. Manfred Beutel

A: Aus der Medienforschung wissen wir, dass das Anschauen gewalttätiger Bilder unmittelbar zu aggresivem Verhalten und teilweise auch furchtsamen Verhalten führt. Das gilt auch für Spiele und das kann man messen. Freiwillige Versuchspersonen zeigen unmittelbar nach solchen Spielen eine erhöhte Erregung, mehr gewalttätige Gefühle und eine erhöhte Neigung zu gewalttätigen Handlungen. Besonders ausgeprägt sind diese Veränderungen, wenn in dem Spiel gewalttätiges Verhalten belohnt wird.

F: Eine kurzfristige Erregung, könnte man argumentieren…

A: Es gibt auch erste Hinweise, dass die Einstellungen der Spieler sich langfristig verändern – allerdings sind die Daten hier weniger aussagekräftig, weil bisher kaum Studien vorliegen, die über mehrere Jahre hinweg das Verhalten beobachtet haben.

F: In Diskussionen behaupten leidenschaftliche Spieler gerne, dass diese Effekte nur einige „Verrückte“ betreffen, dass die große Mehrheit friedlich ihrem Hobby nachgeht und sehr wohl zwischen Realität und Simulation unterscheiden kann.

A: Hier kommen in der Tat viele Faktoren zusammen, die nur schwer voneinander zu trennen sind. Die Persönlichkeit des Spielers spielt ebenso eine Rolle wie soziale Einflüsse – also Eltern und Erziehung, Schule und Freundeskreis. Es gibt Gruppen, die ein erhöhtes Risiko haben, gewalttätig zu werden: Menschen mit einem aggressiven Temperament und solche die weitgehend gefühllos sind, die wenig Einfühlungsvermögen für Andere haben und denen es an klaren und stabilen Moralvorstellungen fehlt, etwa weil Gewalt in der Familie zum Alltag gehört. Diese Gruppen bevorzugen denn auch eindeutig gewalttätige Spiele und Filme.

F: Was ist mit Filmen wie dem Tatort, der uns gebührenfinanziert jeden Sonntag die Leichen frei Haus liefert?

A: Im Gegensatz zum Tatort zeichnen sich Video- und Computerspiele mit ihren modernen Technologien dadurch aus, dass man in diese Kunstwelten eintaucht und mitmacht. Dadurch werden unbewusste Lernvorgänge ausgelöst, was unter anderem dazu führt, dass sich das Koordinationsvermögen und die Konzentrationsfähigkeit der Spieler verbessert. Vorstellungskraft und kritisches Denken werden aber geschwächt und das sind leider Eigenschaften, die man braucht, um Gewalt zu vermeiden oder ihr aus dem Weg zu gehen. Solche Effekte wurden noch nicht ausreichend erforscht und deshalb wissen wir letztlich nicht, welchen Auswirkungen die neuen Medien auf die Reifung, das Sozialverhalten und die persönliche Entwicklung der Jugendlichen haben.

Prof. Martin E. Beutel ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.

Das Interview wurde geführt am 19. März 2009 am Rande der gemeinsamen Jahrestagung des Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM) und der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) in Mainz

Blau macht kreativ, Rot macht aufmerksam

An Theorien, Vermutungen und Behauptungen zur Wirkung unterschiedlicher Farben auf den Menschen gibt es keinen Mangel . Fragt man jedoch nach Beweisen, so geraten auch Experten leicht ins Wanken. Selbst das wohl angesehenste Nachschlagewerk, die Encyclopaedia Britannica, flüchtet sich ins Ungefähre, wenn sie zur Farbpsychologie erklärt, dieser wichtigste Aspekt der Farbe im täglichen Leben sei „wahrscheinlich am schlechtesten definiert und höchst variabel“, zudem kulturell und geschichtlich geprägt und überdies noch abhängig vom Alter, der Stimmung und der geistigen Gesundheit des Betrachters.

Prof. Juliet Zhu von der UBC Sauder School of Business

Prof. Juliet Zhu von der UBC Sauder School of Business

Licht ins Dunkel bringen nun zwei Fachleute für Marktforschung: Die Privatdozentin Rui (Juliet) Zhu und ihr Kollege Ravi Metha von der Sauder School of Business im kanadischen Vancouver konnten in einer ganzen Reihe von Experimenten zeigen, dass die Farbe Rot bei Denkaufgaben die Aufmerksamkeit erhöht und zu einem besonders sorgfältigen Arbeiten anregt. Die Farbe Blau dagegen veranlasste die freiwilligen Versuchspersonen, ihre Denkaufgaben entspannter anzugehen. Sie konzentrierten sich weniger auf die Details, bewiesen dafür aber größere Kreativität und mehr Überblick.

Ausgangspunkt der Experimente waren die bisher oft widersprüchlichen Ergebnisse anderer Wissenschaftler, die sich mit der Auswirkung von Farben auf die Denkleistung beschäftigt haben, schreiben Zhu und Mehta im ScienceExpress, der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Science. „Einige Versuche haben nahe gelegt, dass Blau oder Grün für die Denkleistung besser wäre als Rot; andere Versuche haben das Gegenteil gezeigt“, so die beiden Wissenschaftler.

Zhu und Mehta entwarfen daher sechs Versuchsreihen, bei denen die Freiwilligen meist am Computer vor einem blauen, roten oder neutralem Hintergrund unterschiedliche Aufgaben bewältigen mussten. So ging es unter anderem darum, Ideen für Kinderspielzeuge zu entwickeln, durch die Umstellung von Buchstaben aus einem Wort ein anderes Wort zu schaffen, oder sich möglichst viele Wörter von einer Liste zu merken.

Vor einem roten Hintergrund erinnerten die Versuchspersonen dabei eindeutig mehr Worte aus einer Liste mit 36 Einträgen. Präsentierte man den Probanden dagegen eine Liste von Worten mit ähnlicher Bedeutung, von denen aber nur eines auf der ursprünglichen Liste stand, so war die Fehlerquote vor einem blauen Hintergrund deutlich höher. Die Versuchsteilnehmer – so scheint es – ließen ihrem Geist hier eher freien Lauf und erzielten ein schlechteres Resultat, weil sie sich weniger auf die Details konzentriert hatten.

In einem anderen Wortspiel ging es darum, aus Hinweisen wie „Regal“ und „lesen“ ein bestimmtes Zielwort (hier: „Buch“) zu finden. Diesen Test benuzten Psychologen gerne, um Kreativität zu messen und hier erwies sich ein blauer Hintergrund eindeutig als der bessere. Besonders aufschlussreich war ein Experiment, bei dem die Versuchsteilnehmer aus 20 Bauteilen Kinderspielzeuge basteln sollten, deren Wert anschließend von unabhängigen Gutachtern beurteilt wurde. Hatte man den Probanden die Bauteile zuvor in roter Farbe präsentiert, so schufen diese nach Meinung der Gutachter eher praktisches Spielzeug, waren die Bauteile dagegen blau, so schufen die Versuchsteilnehmer zwar nicht mehr Spielzeuge, doch waren diese laut Urteil der Jury origineller und kreativer, als jene, die aus roten Vorlagen zustande kamen.

„Mit unseren Ergebnissen können wir die bisherigen Widersprüche auflösen“, behaupten Zhu und Mehta. Die Farben Rot und Blau bringen uns demnach in unterschiedliche Grundstimmungen und wirken sich deshalb bei verschiedenen Aufgaben unterschiedlich aus. Der Zusammenhang zwischen diesen Grundstimmungen (Motivationen) und den Farben beruhe auf Erfahrung und Lernvorgängen, erklären die Marktforscher:

Rot werde mit Gefahr und Fehlern in Verbindung gebracht, weil beispielsweise Fehler in Hausarbeiten mit roter Farbe markiert werden, weil die gleiche Farbe auch für Warnhinweise gebraucht wird oder weil Verkehrsschilder, die Autofahrer alarmieren sollen wie „STOP“ oder „Vorfahrt gewähren“ ebenfalls häufig in Rot gehalten sind. Die Farbe Blau dagegen werde von den meisten Menschen mit dem Wasser oder dem Himmel in Verbindung gebracht und löse daher Gefühle von Offenheit, Frieden und Ruhe aus. In solch einer Stimmung sei man eher bereit, neue Strategien zu erproben.

Die gegensätzlichen Stimmungen könnten sich entweder als Vorteil oder als Nachteil erweisen, je nachdem welche Fähigkeiten zu Lösung einer Aufgabe gerade gebraucht werden, argumentieren Zhu und Mehta. Rot führe demnach eher zu einer Denkweise, die das Vermeiden von Fehlern begünstigt und bringt deshalb bessere Ergebnisse bei Aufgaben, bei denen es auf die Details aufkommt. Wer sich Namen, Zahlen und andere Fakten merken oder andere vor Gefahren warnen will, sollte sich deshalb mit einem Rotstift bewaffnen.

„Wenn für die Aufgabe jedoch Kreativität und Fantasie gebraucht werden, wäre blau die nützlichere Farbe“, raten Zhu und Mehta. Allerdings habe man die Versuche an einer nordamerikanischen Universität durchgeführt und es sei ihnen durchaus bewusst, dass die gleiche Farbe in unterschiedlichen Kulturen verschiedene Assoziationen haben könne. Deshalb müssten die Experimente auch anderswo wiederholt werden, bevor man die Ergebnisse verallgemeinern könne.

Quelle:

Hintergrund Farbpsychologie:

 

Goethes Farbenkreis zur Idealisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens

Goethes "Farbenkreis zur Idealisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens"

„Die Erfahrung lehrt uns, dass die einzelnen Farben besondere Gemütsstimmungen geben“ dozierte bereits Johann Wolfgang von Goethe. Seine 1810 erschienene Schrift „Zur Farbenlehre“ betrachtete der Dichterfürst selbst als sein wichtigstes Werk und scheute sich nicht, dem englischen Universalgenie Isaac Newton zu unterstellen: „Alle aufgestellten Experimente sind falsch oder falsch angewendet.“ Zwar irrte Goethe in vielen Punkten, doch gilt sein Werk gleichwohl als einer der Grundsteine der modernen Farbpsychologie.

Den meisten Menschen vertraut ist die Wahrnehmung, dass Rot, Orange, Gelb und Braun als „warm“ empfunden werden, Blau, Grün und Grau dagegen als „kalt“. Warme Farbtöne sollen Aufregung, Freude, Erregung, aber auch Aggressionen hervor rufen; Blau und Grün werden mit Sicherheit, Ruhe und Frieden in Verbindung gebracht; Braun, Grau und Schwarz schließlich mit Trauer und Melancholie.

In anderen Kulturkreisen ist die Bedeutung der Farben jedoch manchmal anders belegt. Während bei uns in Schwarz getrauert wird, steht dafür in Indien die Farbe Weiß. Viele Psychologen glauben, aus dem Farbgebrauch eines Menschen und dessen Reaktion auf verschiedene Farben Informationen über dessen Seelenleben gewinnen zu können.

Besonders populär ist ein Persönlichkeitstest, den der Schweizer Psychologe Max Lüscher entwickelt hat. Seine Bücher wurden in 29 Sprachen übersetzt und noch heute ist Lüscher als Berater für Firmen und für die Werbung tätig. Seine Mitwirkung bei der Gestaltung der Trikots für die Schweizer Fussballnationalmannschaft zeigte allerdings keinen besonderen Erfolg – bekanntlich kam das Team bei der letzten Europameisterschaft im eigenen Land nicht über die erste Runde hinaus.

Weiter noch als Lüscher gehen manche Psychologen, die behaupten, mittels einer Farbtherapie (auch Colortherapie oder Chromotherapie genannt) ließen sich Ängste, Schlafstörungen, Erschöpfungszustände oder Rheuma lindern oder gar heilen. Dagegen warnt die AOK vor dem Versuch, ernsthafte Krankheiten mit solch einer Farbtherapie zu behandeln. „Wenn dadurch eine fachgerechte medizinische Therapie unterbleibt, können gravierende Folgen entstehen“, heißt es auf der Webseite der größten deutschen Krankenkasse, die außerdem betont, dass die Kosten solch einer Therapie nicht erstattet werden.

Doping fürs Gedächtnis

Ob Eric Kandel sich erinnert? Eine „Gedächtnispille“ sei in greifbarer Nähe behauptete der Medizinnobelpreisträger von der New Yorker Columbia University gegenüber dem Wissenschaftsmagazin New Scientist. Das war vor acht Jahren. Und entlockte den meisten Hirnforschern bestenfalls ein müdes Lächeln. Schließlich hatte Kandel sich seinen hervorragenden Ruf größtenteils mit Hilfe der Meeresschnecke Aplysia erworben, wo er die Veränderungen einzelner Nervenzellen und Zellbestandteile durch primitive Lernprozesse aufgezeigt hatte. Dass das jahrzehntelange Studium der schleimigen Weichtiere dem Grundlagenforscher Kandel die Pool-Position beim Rennen um eine Gedächtnispille verschafft haben sollte, war indes schwer zu glauben.

Doch der inzwischen 75-jährige, in Wien geborene Neuroforscher hat es offensichtlich geschafft, auf den Zug der Zeit aufzuspringen: Als Mitbegründer und Aushängeschild ist er hauptverantwortlich für den kommerziellen Erfolg der US-amerikanischen Firma Memory Pharmaceuticals, die in diesem Frühjahr an die Börse ging und derzeit einen Wert von fast 160 Millionen Dollar hat. Auch der Schweizer Pharmariese Roche investierte 37 Millionen Dollar in Memory Pharmaceuticals. Zusätzlich werden bis zu 248 Millionen fällig, falls die in Kandels Firma entwickelten Substanzen spezifische „Meilensteine“ erreichen und – das ultimative Ziel – als Arzneimittel auf den Mark kommen. Dabei ist ausgerechnet der am weitesten fortgeschrittene Arzneimittelkandidat bei Memory Pharmaceuticals keine Eigenentwicklung. MEM1003, so der Codename der Substanz, wurde von der Firma Bayer lizensiert, die sich bereits vor Jahren aus dem Rennen um neue Alzheimer-Präparate verabschiedet hat. Mit MEM1003 wechselte 1998 auch der Bayer-Forscher Axel Unterbeck die Fronten, der heute Wissenschaftlicher Direktor von Memory Pharmaceuticals ist.

MEM1003 dämpft den Einstrom von Kalzium-Ionen in Nervenzellen, sodass diese empfindlicher auf eingehende Signale reagieren. Dies soll angeblich die im Alter verringerte Aktivität der Neuronen kompensieren. Was MEM1003 wirklich kann, ist jedoch unklar, da es bislang lediglich an 185 Freiwilligen auf seine Sicherheit getestet wurde, und nicht auf die Wirkung.

Kandel ist kein Einzelfall: Viele Forscher, die sich in der Gedächtnisforschung einen Namen gemacht haben, verlassen ihre akademischen Wirkstätten und wollen die Wissensexplosion auf ihrem Fachgebiet ausnutzen, um neue Medikamente auf den Markt zu bringen. So startete Garry Lynch von der University of California Irvine schon in den 1980ger Jahren sein Unternehmen Cortex Pharmaceuticals – und brachte sich bald darauf selbst in die Schlagzeilen.

Lynch hatte gleich mehrere kleine Moleküle entdeckt, welche die Signalübertragung im Gehirn durch die Stimulation bestimmter Empfangsmoleküle auf den Nervenzellen erhöhen, der AMPA-Rezeptoren. Lynchs Spitzenkandidat, das „Ampakin“ CX-516, verhalf gesunden Senioren zwischen 65 und 73 Jahren binnen 75 Minuten zur gleichen Merkleistung, wie der von Studenten unter 30 Jahren, die als Kontrollgruppe dienten. Ohne CX-516 konnten sich die Alten aus einer Liste von zehn bedeutungslosen Silben nach fünf Minuten durchschnittlich nur noch an eine Silbe korrekt erinnern, mit dem Gedächtnisbooster waren es vier Silben. Laut Lynch „stellt die Modulation der AMPA-Rezeptoren eine völlig neue Strategie der Kognitions-Verbesserung (cognitive enhancement) dar (Current Opinion in Pharmacology, Bd 4(1), S. 4, 2004). Von der Hoffnung, CX-516 zur kurzfristigen Steigerung des Erinnerungsvermögens einsetzen zu können, musste sich Lynch dennoch verabschieden. Der Wirkstoff war so schwach, dass die Probanden davon enorme Mengen einnehmen mussten. Jetzt setzt er seine Hoffnungen auf ein verbessertes Ampakin, CX-717. Es solle „schon bald“ in klinischen Versuchen getestet werden, sagte Lynch gegenüber dem Wissenschaftsmagazin Science (Bd. 304, S. 36, 2004).

Auch die Konkurrenz hat bislang kaum mehr vorzuweisen als eindrucksvolle Tierversuche. So gelang es Timothy Tully vom Cold Spring Harbor Laboratory östlich von New York, Fruchtfliegen per Genmanipulation zu einem perfekten Gedächtnis zu verhelfen. Der Eingriff hatte die Konzentration des Eiweißes CREB in den Nervenzellen erhöht, wonach die Fruchtfliegen sich den Weg zu einer Futterquelle schon im ersten Anlauf merken konnten. Normale Artgenossen brauchten dafür ein Dutzend Wiederholungen. Inzwischen weiß man, dass CREB auch bei Mäusen das Langzeitgedächtnis maßgeblich beeinflusst und dass geistig behinderte Patienten mit dem Rubinstein-Taybi-Syndrom eine fehlerhafte Version von CREB bilden. „Eine revolutionäre Entdeckung“, so Tully. Man habe geistige Behinderungen bisher auf unumkehrbare Entwicklungsstörungen zurückgeführt. „Nun wissen wir, dass sie auch biochemische Ursachen haben können, die sich vielleicht behandeln lassen.“ Es sind auch solche Visionen, die Tully zusammen mit seinem Kollegen Jerry Yin bewogen, den Sprung vom Forscher zum Manager zu wagen und die Firma Helicon Therapeutics zu gründen, die auf der Basis von CREB neue Arzneien entwickeln will.

Mindestens 40 Kandidaten für Gedächtnispillen sind derzeit in Entwicklung; etwa ein Dutzend Pharmafirmen investieren dafür jährlich rund 1,5 Milliarden Dollar.

Schon heute gibt es eine Handvoll von Medikamenten, die den geistigen Zerfall von Alzheimer-Patienten nach Angaben der Hersteller um ein bis zwei Jahre verzögern können. Allerdings tauchen immer wieder Zweifel auf, ob die in klinischen Studien erzielten Resultate mit diesen so genannten Cholinesterasehemmern auch einen echten Nutzen im Alltag „gewöhnlicher“ Patienten, ihrer Angehörigen und Pfleger bedeuten. Gerade erst veröffentlichte eine englische Arbeitsgruppe das niederschmetternde Ergebnis einer Langzeituntersuchung an 565 Alzheimer-Patienten. Demnach ist das Präparat Donepezil als typischer Vertreter dieser Arzneimittelklasse nicht kosteneffektiv und sein Nutzen nicht relevant (Lancet, Bd. 363, S. 2105, 2004) „Wir brauchen wirksamere Behandlungen gegen die Alzheimer-Krankheit als die Cholinesterasehemmer“, fordern die Studienautoren.

Vergleichsweise gering sei der Unterschied zwischen den Cholinesterasenhemmern und einem Scheinmedikament (Placebo), kritisiert auch Hans-Joachim Markowitsch, Neuropsychologe an der Universität Bielefeld. Und für die frei verkäuflichen Ginkgo-Extrakte, die ebenfalls zur Stärkung der geistigen Leistungsfähigkeit angepriesen werden, sei die Bilanz nochmals schlechter. „Gedächtnispillen der Art, wie Kandel sie ankündigt, erwarte ich erst in 15 bis 20 Jahren“, sagt Buchautor Markowitsch („Dem Gedächtnis auf der Spur„). Er selbst verzichtet auf die Hilfe aus der Apotheke und setzt auf Vernetzung, um sich zu erinnern. „Wer viel weiß hat auch viele Anknüpfungspunkte, um etwaige Lücken aufzufüllen oder sich Vergessenes durch Assoziationen neu zu erschliesen.“

Trotzdem beträgt der jährliche, weltweite Umsatz der Industrie mit Medikamenten gegen das Vergessen (Anti-Dementiva) rund 10 Milliarden Dollar. Und selbst diese gigantische Zahl könnte sich noch vervielfachen, wenn die nächste Generation von Gedächtnispillen tatsächlich so gut verträglich sein sollte, dass sie auch für gesunde Menschen in Frage kommen. In den heutigen, auf Rezept erhältlichen, Arzneien sehen viele Experten nur die schwache Vorhut einer ganzen Armada von Substanzen, die Jedermanns Gedächtnis bei Bedarf beflügeln könnten.

Die Grenzen sind fliessend. So steigerte die Alzheimer-Arznei Donepezil der Firma Pfizer in einer kleinen Studie die Leistung von über 50 Jahre alten Piloten (Neurology, Bd. 59, S. 123, 2002). Die Untersuchung wurde nicht von dem Unternehmen selbst angestellt, sondern von Wissenschaftlern der Stanford University unter der Leitung von Dr. Jerome Yesavage, stellt Pfitzer-Pressesprecherin Franziska Theobald klar. Im Flugsimulator erhielten 18 Männer alle drei Minuten neue Angaben über die Flugrichtung, Höhe und Funkfrequenz, die sie sich merken und anschließend in ein Bordgerät eintippen sollten. Nach sieben Flügen nahm die Hälfte der Probanden 30 Tage lang Donepezil – und sie schnitten danach deutlich besser ab, als die Kollegen, die nur ein Scheinmedikament erhalten hatten. Laut Theobald plant Pfizer aber nicht, mit Donepezil auf dem Markt der Life-Style-Medikamente einzusteigen.

Vor allem in den USA nehmen jedoch stressgeplagte Managern und Studenten unter Leistungsdruck immer häufiger Pillen, um ihre Aufgaben zu bewältigen und im Konkurrenzkampf vermeintlich entscheidende Vorteil zu erringen. Neben Donepezil schlucken sie zum Beispiel Ritalin – ein Medikament, das zur Behandlung hyperaktiver Kinder entwickelt wurde. Und die US-Armee förderte nicht nur die Entwicklung von Ampakinen durch Gary Lynchs Firma Cortex Pharmaceuticals. Seit mindestens sechs Jahren experimentiert auch das Walter Reed Army Institute of Research offen mit Substanzen, die Soldaten trotz schlafloser Nächte wach und konzentriert halten. Als ideal dafür erschien den Militärs vorübergehend Modafinil, ein Präparat zur Behandlung der Einschlafkrankheit Narkolepsie. Obwohl sich Modafinil im direkten Vergleich mit einer hohen Dosis Koffein nicht als wirksamer erwies, wird es von vielen US-Psychiatern an kerngesunde Menschen verschrieben, wie das online-Magazin Slate berichtete.

Allmählich entdecken auch Ethiker die Brisanz dieser Entwicklung. Alarmiert notierte der Moralphilosoph Leon R. Kass, Leiter des Konzils für Bioethik des US-Präsidenten: „Es sieht nach Betrug aus, wenn hervorragende Leistungen, die bisher nur mit Disziplin und Arbeit erreichbar waren, nun durch Pillen, Genmanipulation oder implantierte Geräte möglich werden“. Auch Donald Kennedy, Herausgeber des Wissenschaftsmagazins Science macht sich Sorgen (Bd. 304, S. 17, 2004). Andererseits provozierte er kürzlich seine Zuhörerschaft mit der Frage: „Wenn die Leute Probleme damit haben, die Hirnleistung zu erhöhen, warum schicken sie dann ihre Kinder auf die Schule?“

Die Grenze verläuft da, wo Menschen unter Druck geraten und die „kognitiven Verstärker“ gegen ihren Willen einnehmen, antwortet Hans Förstl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie am Klinikum rechts der Isar in München.  Dass es viele Möglichkeiten gibt, dem Gehirn auch ohne Pillen auf die Sprünge zu helfen, davon ist der Gedächtnisexperte überzeugt.

Förstl hat gleich mehrere Tipps parat, die die Aufmerksamkeit verbessern, die Merkfähigkeit erhöhen oder den Abruf und die Umsetzung des gespeicherten Wissens erleichtern: So ist ausreichend Schlaf eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Gelerntes auch „hängen bleibt“. Physiologen haben herausgefunden, dass Gedächtnisinhalte sich während den so genannten REM-Schlafphasen, in denen die meisten Träume ablaufen, verfestigen. „Diese Erkenntnis sollte man nutzen, indem man vorzugsweise vor dem Einschlafen lernt, zeitnah zur Konsolidierungsphase des Gedächtnisses“, rät Förstl.

Förstls zweiten Trick haben die meisten Büroangestellten wohl schon parat: Starker Kaffee mit einigen Stücken Zucker hilft fast immer, wenn die Konzentration nachlässt. Inzwischen können Neurowissenschaftler auch erklären, warum dies so ist. Während der Zucker die Energiespeicher füllt, scheint das Koffein die Wirkung des „Lerntransmitters“ Acetylcholin zu verstärken.

Mit Markowitsch ist sich Förstl allerdings einig, dass sich die perfekte Balance, mit der ein gesundes Hirn seine Arbeit erledigt, nicht beliebig zugunsten eines besseren Gedächtnisses verschieben lässt, ohne dafür an anderer Stelle Einbußen zu erleiden. Welch hohen Preis man für ein perfektes Gedächtnis bezahlen müsste, vermittelt der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner Kurzgeschichte Funes el memorioso (dt.: Das unerbitterliche Gedächtnis): Nach einem Sturz vom Pferd kann Funes seine Erinnerungen nicht mehr vergessen. „Er kannte auswendig die Form der Wolken am südlichen Himmel des 30sten April 1882 und er konnte sie in seinem Gedächtnis vergleichen mit den gesprenkelten Streifen auf dem Einband eines spanischen Buches, das er nur ein einziges Mal gesehen hatte.“ Unter dieser vermeintlichen Gabe habe Funes zeitlebens gelitten, berichtet Borges: „Die Gegenwart in ihrer Fülle und Schärfe waren fast unerträglich und ebenso erging es ihm mit den entferntesten und trivialsten Erinnerungen.“

[Originalfassung eines Artikels für die Süddeutsche Zeitung und den Tages-Anzeiger, Zürich]

Nachtrag: Die Firma Memory Pharmaceuticals wurde im Jahr 2008 durch Roche übernommen.

Weitere Informationen:

In der Welt der elektrischen Düfte

Elektrische Düfte durchziehen das Labor von Garry Lynch an der University of California in lrvine bei Los Angeles. Elektrische Düfte? Dr. Ursula Stäubli, die vor Jahren aus der Schweiz hierhergekommen ist, um den Geheimnissen des Lernens auf die Schliche zu kommen, muß etwas weiter ausholen.

Bei trainierten Ratten war es ihr gelungen, die Erinnerung an einen gelernten Geruch wieder wachzurufen; und zwar indem sie mit einer feinen Elektrode im Gehirn der Tiere an bestimmten Stellen einen winzig kleinen Strom anlegte. Dies ist möglich, weil die Hirnstrukturen, die an der Geruchserkennung beteiligt sind, schon recht genau kartiert sind.

Der Geruch war ursprünglich in fast schon klassischen Versuchen erlernt worden: Eine Ratte, die in einem Labyrinth sitzt, hat die Wahl zwischen zwei Düften. Geht sie dem einen nach – Rosenwasser etwa -, so erhält sie als Belohnung am Ziel einen Schluck Wasser. Verfolgt das Tier dagegen den anderen Geruch – Schweizer Käse vielleicht – so wird es am Ende des Ganges mit Lichtblitzen „geärgert“.

Innerhalb von einigen Dutzend Durchgängen lernen die Ratten zwischen den beiden Gerüchen zu unterscheiden. Auch beim nächsten oder übernächsten Geruchspaar lernen die Tiere die Lektion nach der 20 oder 30 Wiederholungen. „Wenn die Ratte dann wieder im Labyrinth sitzt; kann man beispielsweise einen unbekannten Geruchsstoff einsetzen, und einen anderen, der einmal gelernt wurde, nur elektrisch simulieren. Die Ratte wird dann dem gelernten Geruch nachgehen, obwohl der eigentlich gar nicht ‚wirklich‘ vorhanden ist.“

Bis zu 180 verschiedene Gerüche können so im Gehirn der Tiere gespeichert werden. Interessanterweise erfolgt das Lernen dabei immer schneller. Schon nach kurzer Zeit genügen den Ratten weniger als fünf Versuche, um den Unterschied zwischen „guten“ und „bösen“ Düften zu begreifen. Das einmal Gelernte bleibt dann über Monate hinweg präsent und kann sogar mit einer Elektrode abgerufen werden, wie Stäublis Experimente zeigen.

Dabei kommt der Biologin zugute, daß die betroffenen Hirnregionen verhältnismäßig einfach organisiert sind. Der „olfaktorische Kortex“, wo die Wahrnehmung des Geruchs erfolgt, enthält „nur“ vier Schichten von Nervenzellen; die Geruchsrezeptoren in der Nase leiten ihre Signale über nur eine Zwischenstation hierher. Die – verhältnismäßig – einfache Verkabelung ermöglicht es nicht nur, einzelne Neurone zu reizen; sie erlaubt es auch, anderen Fragestellungen gezielt nachzugehen.

Wie Professor Lynch bemerkt, hat man zwar eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich bestimmte Verbindungen zwischen den beteiligten Nervenzellen beim Lernen „einschleifen“, das erklärt aber noch lange nicht alle Leistungen, die mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung gebracht werden. So ist es beispielsweise noch völlig ungeklärt, wie Erinnerungen in eine zeitliche und räumliche Ordnung gebracht werden, wie sie ins Gedächtnis „zurückgeholt“ werden (wo waren sie denn in der Zwischenzeit?), oder wie es möglich sein kann, dem einmal Gelernten ständig neues hinzuzufügen, ohne alte Gedächtnisinhalte zu zerstören.

„Wir beanspruchen, mit unserer Arbeit eine biologische Theorie des Lernens und des Gedächtnisses zu errichten, die wohl mit den bisher existierenden psychologischen Erklärungsversuchen nicht viel gemeinsam haben wird. Da wird zum Beispiel über Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis gesprochen, aber unsere Ergebnisse und die anderer Arbeitsgruppen zeigen, daß es für diese Konzepte vielleicht gar keine biologische Entsprechung gibt. Wahrscheinlich handelt es sich stattdessen um einen kontinuierlichen Prozeß, dessen einzelne Elemente wir noch nicht lokalisieren können, weil die hier verwirklichten Vorgänge unserer Intuition zuwieder laufen.

Das ist wie in der Quantenphysik. Viele der Dinge, die man dort gefunden hat, sind in unserer alltäglichen Umgebung nicht zu beobachten. Aber wenn man das immer weiterverfolgt, dann kommt man schließlich zu einer Art Offenbarung, die die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, völlig verändert. Wenn wir erst einmal am Ziel sind, werden wir nicht nur erkennen, wie Netzwerke von Nervenzellen miteinander arbeiten. Wir könnten ebenso eine Offenbarung erfahren. Vielleicht denken wir gar nicht, was wir denken.“

Diese tiefschürfenden Erkenntnisse hinderten Lynch allerdings nicht daran, zusammen mit dem Computerwissenschaftler Richard Granger die bei Ratten gefundenen Verschaltungsregeln in einem Computerprogramm zu simulieren. Wird dem Programm nun das elektronische Äquivalent eines neuen Duftes eingegeben, so können Lynch und Granger am Bildschirm verfolgen, wie die Software eine elektronische Antwort gibt, und immer wieder die gleichen Kunstneuronen aktiviert. Die große Überraschung kam, als das Programm begann, die Daten selbstständig in verschiedene Kategorien einzuordnen: die beiden hatten ihrer Software die Fähigkeit zur Erkenntnis mit auf den Weg gegeben…

(erschienen in „DIE WELT am 16. Oktober 1991)