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Gentherapie bei Parkinson-Krankheit erfolgreich

Die Injektion gentechnisch veränderter Viren in das Gehirn von Parkinsonkranken hat zu einer deutlichen Besserung des Leidens geführt, berichteten Wissenschaftler auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Gesellschaft für Neurowissenschaften (Society for Neuroscience) in Atlanta.

Auf einer Skala, die den Schweregrad der Bewegungsstörungen misst, verbesserten sich alle zwölf freiwilligen Teilnehmer der Studie binnen eines Jahres nach dem Eingriff um mindestens 25 Prozent. Bei vier Probanden besserten sich die Bewegungsstörungen um mindestens 37 Prozent und bei fünf der Patienten sogar zwischen 40 und 65 Prozent. Entsprechend sei auch die Lebensqualität aller Studienteilnehmer gestiegen, sagte Matthew During, Studienleiter und Mitbegründer der Firma Neurologix, die die Studie finanziert hat.

Der Eingriff, bei dem ein haarfeiner Katheter tief in das Gehirn eingeführt wird, habe zu keinerlei Nebenwirkungen geführt und alle Patienten seien binnen zwei Tagen nach der Operation aus dem Krankenhaus entlassen worden, so During. Die Versuchsteilnehmer, deren Leiden zuvor als „mittelschwer“ eingestuft worden war, waren alle seit mindestens fünf Jahren von der Parkinson-Krankheit betroffen gewesen. Das Standardmedikament L-Dopa war bei ihnen kaum noch wirksam gewesen oder es hatte zunehmend Nebenwirkungen hervorgerufen, als die Kranken einwilligten, an dem Experiment teilzunehmen.

Dem Gentherapie-Experiment mit Parkinsonkranken, über das jetzt in Atlanta berichtet wurde, waren mehrjährige Versuche mit Ratten und Rhesusaffen vorangegangen. Gegen Ende des Jahres 2003 hatte es Michael Kaplitt vom Weill Cornell Medical College in New York dann gewagt, etwa 3,5 Milliarden gentechnisch veränderte Viren in das Gehirn des ersten Patienten zu spritzen.

Die von Kaplitt genutzten, so genannten Adeno-assoziierten Viren (AAV) waren speziell für diese Aufgabe konstruiert worden. Sie tragen in ihrem Inneren die Erbinformation für ein Enzym, das an der Produktion des Botenstoffes GABA beteiligt ist. GABA wiederum wirkt wie ein Bremssignal auf Nervenzellen. AAV gelten als sicher, weil sie keine Krankheiten hervorrufen können. Sie werden deshalb zurzeit auch als Gentherapie-Vehikel für andere Hirnerkrankungen erprobt.

Als Injektionsort wählten die Forscher den so genannten Nucleus subthalamicus, eine Ansammlung von Nervenzellenkernen tief im Inneren des Gehirns, die Bewegungsimpulse hemmt und deren Beschädigung das Zittern und die plötzlich einsetzende Steifheit bei der Parkinson-Krankheit auslöst. Ziel der Virusinjektion war es, an dieser kritischen Schaltstelle mehr des beruhigenden Botenstoffes GABA zu produzieren und damit die Überaktivität der Nervenzellen zu hemmen. Dies ist offenbar gelungen, wie Aufnahmen belegen, die den Stoffwechsel im Gehirn der Patienten sichtbar machen.

Um die Wirksamkeit der Methode beurteilen zu können, waren die Viren jeweils nur auf einer Seite des Gehirns injiziert worden. Auf dieser Seite nahm die Überaktivität der Nervenzellen deutlich ab, während die unbehandelte Seite sich weiter verschlechterte. „Vor der Operation war ich ein zitternder Haufen Fleisch”, sagte der 58-jährige Nathan Klein, der als erster behandelt wurde, gegenüber dem Nachrichtendienst WebMD. „Jetzt fühle ich mich 80 bis 90 Prozent besser und ein Fremder würde nicht einmal merken, dass ich Parkinson habe.“

Allerdings warnte Studienleiter During vor verfrühtem Jubel. Frühere Experimente haben nämlich gezeigt, dass bereits die Erwartungshaltung der Patienten zu einer Linderung des Leidens führen kann. Um ganz sicher zu sein, dass die gemessene Verbesserung der Bewegungsfähigkeit nicht auf solch einem „Placeboeffekt“ beruht, wolle man eine größere Studie durchführen, bei der einige der Patienten zwar operiert werden, aber zum Vergleich keine gentechnisch veränderten Viren erhalten.

Sollten die in Atlanta vorgetragenen Ergebnisse sich in weiteren Studien bestätigen, wäre die Gentherapie ähnlich wirksam wie die Tiefe Hhirnstimulation. Bei dieser relativ neuen Methode für Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung werden haarfeine Elektroden zumeist in einem tief gelegenen Nervenknoten namens Nucleus subthalamicus (STN) implantiert. Eine Art „Hirnschrittmacher“ unter dem Schlüsselbein erzeugt dann winzige Stromstöße, um die überaktiven Nervenzellen zu dämpfen. Erst vor wenigen Wochen hatten Wissenschaftler um Professor Günther Deuschl von der Neurologischen Klinik der Universität Kiel dazu eine Studie im renommierten „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht. Während eine Vergleichgruppe unbehandelter Patienten sich während eines halben Jahres leicht verschlechtert hatte, waren die Bewegungsstörungen der Patienten mit dem Hirnschrittmacher um durchschnittlich 40 Prozent verringert und ihre Lebensqualität war um 20 Prozent gestiegen. Dieser Fortschritt wurde jedoch mit relativ schweren Nebenwirkungen bei jedem achten Patienten erkauft und ein Patient war nach der Operation an einer Hirnblutung verstorben.

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Parkinson-Krankheit: Neurologen ziehen Bilanz

Die Kenntnisse über Entstehung und Diagnose der Parkinsonschen Krankheit sind in den letzten Jahren enorm angewachsen, erklärten Experten auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Aachen. Zwischen 150 000 und 240 000, meist ältere Menschen leiden nach Schätzungen unter der Krankheit, deren wichtigste Merkmale verlangsamte Bewegungen, Zittern und Muskelstarre sind. Gegen diese Beschwerden stehen nicht nur eine Vielzahl von Medikamenten zur Verfügung, sondern neuerdings auch die Methode der Tiefen Hirnstimulation zur Behandlung besonders schwerer Fälle, betonten die in Aachen versammelten Spezialisten.

Ein vom Bundesforschungsministerium mit 17 Millionen Mark gefördertes „Kompetenznetzwerk“ steckt allerdings auch nach zwei Jahren noch in der Startphase. Mehr als die Hälfte der bislang verausgabten Gelder sind alleine für die Planung und Erstellung einer vielfach gesicherten Datenbank für standardisierte wissenschaftliche Untersuchungen verbraucht worden, sagte Projektkoordinator Professor Wolfgang Oertel von der Universität Marburg. Die Abstimmung mit den zuständigen 13 Datenschutzbeauftragten habe 18 Monate gedauert. Im Prinzip könne jetzt aber „jeder Doktor von jedem Internet-Cafe der Welt“ zu dem Projekt beitragen, so Deutschlands bekanntester Parkinson-Experte. Oertel erwartet, dass die Investitionen sich langfristig auszahlen und das Datenbanksystem innerhalb von zwei Jahren EU-weit übernommen wird.

Erklärtes Ziel des „Kompetenznetz Parkinson-Syndrom“ ist es, die Versorgung der Patienten zu verbessern und den Wissenstransfer von der Forschung in die Praxis zu beschleunigen. Zu den acht Forschungsschwerpunkten gehören Studien zur Früherkennung sowie zur Wirksamkeit neuer Medikamente und Operationsverfahren ebenso wie Kosten-Nutzenrechnungen und der Aufbau von Datenbanken mit Gewebeproben und genetischen Informationen.

Durch Vergleiche zwischen den Erbinformationen Betroffener und gesunder Menschen haben Wissenschafter in aller Welt mittlerweile sieben Gene gefunden, die mit den Parkinson-typischen Krankheitszeichen in Zusammenhang stehen. Eines dieser Gene – es enthält den molekularen Bauplan für das Eiweiß Alpha-Synuklein – könnte vielleicht den Tod spezialisierter Nervenzellen in einem winzigen Teil des Kleinhirns erklären. Diese Zellen, die mit Hilfe des Botenstoffes Dopamin Bewegungssignale übertragen, beginnen bereits viele Jahre vor dem Ausbruch der Krankheit zu sterben. Bei Gewebeuntersuchungen Verstorbener fanden Pathologen in den Zellen immer wieder Klümpchen aus Alpha-Synuklein. Bei einer Handvoll Familien, die unter einer erblichen Form von Parkinson leiden, sind die fatalen Klümpchen offensichtlich die Folge eines Defekts im Gen für Alpha-Synuklein.

Zwar haben die weitaus meisten Parkinson-Kranken das Leiden nicht geerbt, doch könnten zufällige Mutationen auch bei ihnen eines der bekannten oder unbekannten „Parkinson-Gene“ beschädigt haben. Außerdem halten es viele Wissenschaftler es für wahrscheinlich, dass normales Alpha-Synuklein sich in Gegenwart bestimmter, Drogen, Medikamente oder anderer Umwelteinflüsse in die giftige, klümpchenbildende Variante umwandelt.

Die Suche nach Substanzen, welche die Klümpchenbildung verhindern könnten, ist bereits in vollem Gange. In Verbindung mit einer verbesserten Früherkennung könnte diese Strategie den Ausbruch der Krankheit verzögern oder gar verhindern. Denn noch immer vergehen zwischen fünf und zehn Jahren zwischen dem Beginn des Nervenzerfalls und der Diagnose der Krankheit, berichtete Oertels Mitarbeiter Günter Höglinger. Zu diesem Zeitpunkt sind etwa achtzig Prozent der Dopamin bildenden Nervenzellen im Bereich der so genannten Substantia nigra untergegangen. Ob die viel diskutierten Stammzellen den Verlust ersetzen können, wird man erst in vielen Jahren beurteilen können, räumt einer der prominentesten Verfechter dieser Forschungsrichtung ein, Otmar Wiestler vom Institut für Neuropathologie der Universität Bonn.

Helfen können die Ärzte ihren Patienten derzeit nur mit Arzneien, die den Verlust des Botenstoffes Dopamin vorrübergehend ausgleichen. Zusätzlich verschreibt man oft Psychopharmaka gegen Schlafstörungen, Depressionen und anderer Gemütsschwankungen, die sowohl eine Folge der Krankheit sein können als auch eine Nebenwirkung der Dopamin-Behandlung.

Probleme bereitet die Ersatztherapie auch deshalb, weil ihre Wirksamkeit mit zunehmender Krankheitsdauer nachlässt. Das Zittern wird immer stärker, kontrollierte Bewegungen sind mitunter kaum mehr möglich. Mehr noch fürchten viele das „OFF“, einen Starrezustand, der völlig unberechenbar eintritt und bis zu zwei Stunden anhalten kann.

Die einzige verbleibende Möglichkeit für diese Patienten sind komplizierte Operationen am Denkorgan. Mit millimetergenauen Eingriffen schalteten Neurochirurgen früher die betroffenen Hirnregionen unwiderruflich durch Hitzeeinwirkung aus (Pallidotomie). Heute bevorzugt man das Verfahren der Tiefen Hirnstimulation (auch Tiefhirnstimulation), bei dem in spezialisierten Kliniken eine Elektrode samt programmierbarem Minicomputer implantiert wird. Der lässt sich dann per Knopfdruck vom Patienten aktivieren, um die zappelnden Gliedmaßen binnen Sekunden zu beruhigen. Videoaufnahmen, die den dramatischen Effekt der Tiefen Hirnstimulation dokumentieren, wurden auch in Aachen gezeigt und gehören sicher zu den eindrucksvollsten Belegen für die Fortschritte der Neurologie. Um durchschnittlich 80 bis 90 Prozent ließen sich die Bewegungsstörungen verringern, berichtete beispielsweise Jens Volkmann von der Neurologischen Klinik der Universität Kiel. Der Medikamentenverbrauch sinke nach dem Eingriff im Mittel um 60 Prozent. Etwa jeder zehnte Parkinson-Patient könnte durch die Tiefhirnstimulation von seinem Leiden befreit werden, schätzt Professor Volker Sturm, der solche Operationen an der Kölner Universitätsklinik durchführt.

Wunder können allerdings auch die Neurologen nicht vollbringen: Die Wirkung der Tiefen Hirnstimulation hält zwar über mindestens neun Jahre an, wie die Daten der ersten Patienten belegen. Die Lebensqualität scheint aber nicht im gleichen Maße zuzunehmen, fand die Arbeitsgruppe um Volker Tronnier an der Universität Heidelberg heraus. Die Ärzte beobachteten vermehrte Sprech- und Schluckstörungen und notierten außerdem häufige Depressionen bei gleichzeitiger Abnahme von Initiative und Motivation. Damit werde „ein Teil des Zugewinns aufgewogen“, mussten die Experten in Aachen bekennen.

Quelle:

  • 74. Kongress Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Aachen

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Tiefe Hirnstimulation bei Parkinson erfolgreich

Das Zittern und Zappeln seiner Patienten kann Andries Bosch hervorragend imitieren: Wie eine Marionette an den Fäden eines ungeschickten Puppenspielers bewegt sich der Neurochirurg durch den Raum, um plötzlich wieder in einen normalen, entspannten Gang zu verfallen. „So sieht es aus, wenn ich den Schalter umlege und das Gehirn elektrisch stimuliere”, beschreibt der Niederländer das spektakuläre Ergebnis des Eingriffes, den er schon Dutzende Male an der Universität Amsterdam durchgeführt hat.

Meist sind es ältere Menschen im fortgeschrittenem Stadium der Parkinson-Krankheit, die von der sogenannten Tiefhirnstimulation profitieren, erklärte Bosch auf dem 8. Kongress der Europäischen Gesellschaft für Stereotaktische und Funktionale Neurochirurgie, der kürzlich in Freiburg stattfand. Etwa ein Viertel aller Vorträge waren der Tiefhirnstimulation und ähnlichen Techniken gewidmet. Das starke Interesse überrascht Bosch nicht im geringsten: „Bis zu 80 Prozent aller Patienten könnten von diesen Eingriffen profitieren, wenn sechs bis acht Jahre nach Beginn des Leidens die Medikamente ihre Wirkung verlieren.” Probleme gibt es allerdings noch mit den Krankenkassen. In den Niederlanden ebenso wie in Deutschland weigern sie sich derzeit noch, die Kosten von etwa 15000 Mark zu erstatten. Doch das wird sich ändern, wenn Bosch mit seiner derzeit laufenden Studie Erfolg hat. Videoaufnahmen, die 70 Patienten, mit „Zitterkrankheiten”, Parkinson oder Multipler Sklerose jeweils vor und nach der Operation zeigen, sollen zusammen mit verschiedenen Bewertungssystemen den Beweis erbringen, daß die Tiefhirnstimulation auch unter finanziellen Gesichtspunkten eine sinnvolle Methode darstellt.

Die Chancen dafür stehen gut, weiß Bodo-Christian Kern, Oberarzt am Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) der Freien Universität Berlin. Zwar wurde die High-Tech-Operation, bei der dem Patienten eine Elektrode ins Gehirn implantiert wird, erst kürzlich von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA genehmigt. In Europa hat man damit jedoch schon seit 1989 Erfahrungen gesammelt.

Allein acht Zentren in Deutschland verfügen über das nötige Know-how, darunter die Universitätskliniken in Heidelberg, Köln, Homburg an der Saar und München. Weltweit, schätzt Kern, wurden bisher rund tausend Parkinsonkranke mit der neuen Methode behandelt. 50 bis 60 dieser Patienten erhielten die Therapie in Berlin an der Neurochirurgischen Klinik des UKBF, die Kerns Chef, Mario Brock, leitet. Die Erfolgsquote des neuen Verfahren, berichtet Kern, liegt bei 80 bis 85 Prozent. Bei anderen Zitterkrankheiten seien es sogar 90 Prozent.

Durch ein kleines Loch in der Schädeldecke schieben die Ärzte während der Operation vorsichtig eine Elektrode in eines jener Nervenzentren, deren Schädigung Zittern, Zuckungen und Muskelsteife verursachen kann. Anders als beim einfachen Zittern (Tremor), bei dem in der Regel das Zwischenhirn Ziel der Operation ist, steuern die meisten Arbeitsgruppen bei ihren Parkinsonpatienten tiefer liegende Hirnregionen an. Zu diesen zählen der sogenannte Globus pallidus im Endhirn sowie der Nucleus subthalamicus. Die erbsengroßen Nervenknoten sind beide an der Feinsteuerung von Bewegungen beteiligt.

Während der Operation müssen sich die Chirurgen quasi blind zu ihrem Ziel vortasten. Zwar kartieren Neuroradiologen das Operationsgebiet zuvor mit Hilfe modernster bildgebender Verfahren. Die Feinortung im Hirn des Patienten können die Mediziner jedoch nur gemeinsam mit dem Kranken vornehmen: Bei vollem Bewußtsein muß er während des Eingriffs auf Zuruf einen Finger, die Hand oder den Arm bewegen, bis die Ärzte zum richtigen Hirnareal vorgedrungen sind. Unter Vollnarkose wird schließlich ein Stimulator vom Format eines größeren Feuerzeugs unterhalb des Schlüsselbeins implantiert und mit der Elektrode im Kopf verbunden. Nach der Operation stellt der Arzt Stromstärke und Frequenz der Schrittmacher-Impulse individuell auf den Kranken ein. Mit einem Magneten kann der Patient seinen Hirnschrittmacher später nach Belieben einschalten, sobald das Zittern beginnt. Die elektrischen Impulse bringen die Zuckungen sofort zum Stopp.

Kommt es durch die Operation trotz aller Vorsicht zu Problemen – etwa zu einem Taubheitsgefühl in der Hand – bleibt als letzte Möglichkeit noch immer: Abschalten. Diese Option ist für Kern der Hauptvorteil der Tiefhirnstimulation gegenüber der fast 50 Jahre alten Pallidotomie. Auch bei dieser wird dem Patienten eine Elektrode ins Gehirn eingeführt – doch nur für die Dauer der Operation. Der Draht dient hierbei dazu, ein etwa linsengroßes Stück Gewebe im Zwischenhirn regelrecht zu verbrennen. Spezialisten wie Christoph Ostertag von der Universität Freiburg haben die Pallidotomie in den vergangenen Jahren ständig verfeinert und haben damit bereits große Erfahrung, die bei der noch jungen Hirnschrittmacher-Methode fehlt. Die Methode ist laut Ostertag wesentlich billiger und erspart entfernt lebenden Patienten den Weg in die Spezialklinik zur Nachjustierung des Stimulators. Der Trend in der Neurochirurgie gehe jedoch seit einigen Jahren weg vom Zerstören, das immer irreversibel ist, hin zur Stimulation von Hirnzentren, die man jederzeit beenden wieder kann, sagt Kern.

Der Oberarzt des Berliner Universitätsklinikums räumt aber ein, daß auch die Tiefhirnstimulation Risiken mit sich bringt. Bei vier Prozent der Eingriffe entstünden im Gehirn größere Verletzungen an Blutgefäßen, die ähnliche Folgen haben wie ein kleiner Schlaganfall. Viele Patienten würden diese Gefahr bereitwillig in Kauf nehmen. Doch auch in Berlin verweigern die Krankenkassen die Kostenerstattung, so daß die Stimulatoren derzeit noch aus der Klinikkasse bezahlt werden müssen. Kern empfindet dies als große Ungerechtigkeit, da Medikamente täglich bis zu 10 Mark kosten und anstandslos erstattet werden. Dabei sei die Wirkung der Substanzen von begrenzter Dauer. Denn sie können zwar den Botenstoff Dopamin ersetzen, nicht jedoch seine Empfängerzellen in der winzigen Hirnregion Substantia nigra, die im Verlauf der Krankheit absterben.

Möglicherweise werden sich jedoch Stoffe wie der gentechnisch hergestellte Wachstumsfaktor GDNF, den Forscher derzeit in klinischen Studien testen, besser bewähren. Er soll den Tod der Hirnzellen verzögern. Gleichzeitig arbeitet man daran, Nervenzellen von Verstorbenen oder von Tieren im Labor auf die Produktion von GDNF und ähnlichen Substanzen zu programmieren. Die Zellen sollen dann ins Gehirn von Patienten verpflanzt werden und dort als lebende Arzneifabriken dem Verfall entgegenwirken. Bis es jedoch soweit ist, sind Hirnschrittmacher neben der Pallidotomie die einzige Alternative für die etwa 280 000 Parkinsonkranken hierzulande. Von den Elektroden im Kopf profitieren sie mindestens zwei Jahre, wie die wenigen bisher veröffentlichten Studien zeigen – vielleicht sogar länger.

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Neue Rezepte gegen die Epilepsie

Es kann jedem passieren, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort: Eine vorübergehende Geistesabwesenheit oder mitten im Satz das völlige Unvermögen, die eben noch präsenten Worte zu formulieren, zählen zu den vergleichsweise harmlosen Varianten epileptischer Anfälle.

Für Unbeteiligte oftmals erschreckend sind dagegen die von Medizinern als „Grand mal“ (französich: Großes Übel) beschriebenen Erscheinungsformen: Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt es etwa zu einem plötzlichen Verkrampfen der Muskulatur – manchmal noch ein Schrei und die Betroffenen stürzen wie ein gefällter Baum zu Boden. Unfähig zu atmen bleiben sie mehrere Sekunden liegen, bis dann rhythmische Muskelzuckungen einsetzen, die zwei bis drei Minuten anhalten können. Rötlicher Schaum vor dem Mund, verstärkt noch das Entsetzen der Umstehenden, dabei hat sich der jetzt scheinbar tief schlafende Mensch während des Muskelkrampfes doch „nur“ auf die Zunge gebissen. Wenn dieser endlich erwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Um sich herum lauter verstörte Gesichter, hat er selbst oftmals Schwierigkeiten, das Geschehene zu begreifen.

Nicht selten wird auch sofort der Notarzt verständigt, was laut dem früheren Vorsitzenden des Kuratoriums Epilepsie, Jürgen Peiffer, „zwar verständlich, aber unnötig“ ist. Wichtig sei es vor allem, den „krampfenden“ Menschen vor Verletzungen durch die unkontrollierten Bewegungen zu schützen,  rät der ehemalige Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Tübingen. Peiffer wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß keiner vor solch einem Mißgeschick gefeit ist.

„Jedes menschliche Gehirn kann unter bestimmten Umständen mit einem epileptischen Anfall reagieren“, unterstreicht auch Peter Berlit von der Neurologischen Klinik am Essener Alfried Krupp Krankenhaus. Auf einem Journalistenseminar der Firma Wellcome, das kürzlich in München stattfand, hob Berlit hervor, daß etwa jeder Zwanzigste damit rechnen muß, einmal in seinem Leben einen mehr oder weniger stark ausgeprägten „Gelegenheitsanfall“ zu bekommen. Auslöser können so unterschiedliche Faktoren sein wie Schlafentzug, Sauerstoffmangel, Alkohol oder Drogen, das Flimmern eines Fernsehapparates oder die rhythmischen Lichtblitze in einer Diskothek.

Von einer Epilepsie sprechen die Experten zwar erst dann, wenn die Anfälle sich wiederholen, dennoch geht man für die Bundesrepublik von 800000 Kranken aus – etwa ebenso viele, wie es Zuckerkranke gibt. Unter ihnen muß ein Drittel damit rechnen, mehr als einen Anfall pro Monat zu erleiden. Ein weiteres Drittel ist zwischen einem und zwölf Mal jährlich betroffen, das letzte Drittel seltener. Zwischen den Anfällen sind die Patienten geistig meist völlig störungsfrei und ohne sorgfältige Diagnose von gesunden Menschen nicht zu unterscheiden.

Trotz ihrer weiten Verbreitung wird die manchmal als „heimlich-unheimliche Krankheit“ titulierte Epilepsie in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Noch immer hält jeder vierte Deutsche die Epilepsie für eine Geisteskrankheit, fast ein Drittel gab in einer Umfrage sogar an, ihr Kind dürfe keinen Epilepsiekranken heiraten. Gerade Schulkinder haben unter solchen Einstellungen sehr zu leiden, wie Gerda Hefner, Psychiaterin an der Bonner Epileptologischen Klinik, zu berichten weiß. Sie sind dem Spott der Mitschüler ausgesetzt, wenn nach einem Anfall etwa eine Pfütze unter dem Stuhl zurückbleibt, als sichtbarer Beweis dafür, daß sie das Wasser nicht haben halten können.

Auch die gutgemeinten Bemühungen der Eltern oder Lebenspartner können Anfallskranken zu schaffen machen. Die übertriebene Fürsorge der Familie und die daraus erwachsende Abhängigkeit hinterläßt zwangsläufig ihre Spuren, auch wenn die Epilepsie im Laufe der Jahre kuriert werden kann. „Natürlich haben diese Menschen ein erhöhtes Risiko, aber man darf sie auch nicht zu sehr unter die Käseglocke setzen“, rät Gerda Hefner.

Zur sozialen Ausgrenzung, die in der Bundesrepublik laut Professor Heinz-Joachim Meenke viel stärker ausgeprägt ist, als in den Vereinigten Staaten oder den europäischen Nachbarländern, kommen noch eine Reihe handfester Nachteile hinzu. Meenke, der sich am Berliner Rudolf Virchow Klinikum immer wieder mit den psychosozialen Folgen der Krankheit auseinandersetzten muß, trifft häufig auf besorgte Patienten, die ihr Leiden aus Angst vor Entlassung gegenüber ihrem Arbeitgeber und den Kollegen verschweigen.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Abschluß privater Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen, denn die früher auch als „Fallsucht“ bezeichnete Krankheit erhöht das Risiko tödlicher Unfälle beträchtlich. Meist tritt eine Ausschlußklausel in Kraft, die alle Folgen der Epilepsie vom Versicherungsschutz ausnimmt, oder es werden erheblich höhere Prämien verlangt. Eine erhöhte Selbstmordrate unter Epileptikern kann als trauriger Beweis dafür gelten, daß ein Leben in ständiger Angst und die oft ablehnende Reaktion der Mitmenschen für viele zur unerträglichen Belastung wird.

Weniger dramatisch scheint dagegen das für alle Epileptiker geltende generelle Fahrverbot, doch wird auch diese Vorsichtsmaßnahme von vielen als beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Den Führerschein dürfen die Betroffenen erst wieder beantragen, wenn sie mindestens zwei Jahre anfallsfrei waren. Während der Sinn dieser Regelung von Ärzten und Patienten kaum in Frage gestellt wird, traf ein anderes Handicap auf weniger Verständnis: „Bis vor kurzem war die Verbeamtung von Anfallskranken grundsätzlich nicht möglich“, erläutert Meenke.

Die Krankheit mag unheimlich sein – unheilbar ist sie nicht. Gerade in den letzten Jahren wurde das Arsenal an Medikamenten, die gegen die zahlreichen Formen der Epilepsie zum Einsatz kommen, beträchtlich erweitert. Vigabatrin und Lamotrigin, Clobazam und Gabapentin, Oxacarbazepin, Felbamat und Topiramat heißen die Präparate, die in jüngster Zeit neu auf Markt kamen oder kurz vor der Zulassung stehen.

Den raschen Fortschritten in der Hirnforschung ist es größtenteils zu verdanken, daß derzeit rund 100 weitere Arzneimittelkandidaten in amerikanischen und europäischen Labors getestet werden. „Insgesamt eine Verbesserung der Therapie“ erwartet daher Christian E. Elger, Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn, für die nähere Zukunft. „Der große Durchbruch aber wird ausbleiben“, sagte Elger gegenüber der Ärztezeitung.

Trotz der vergleichsweise großen Zahl von Arzneimitteln gelingt es derzeit nur in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle, sämtliche Anfälle zu unterdrücken, so Stefan R.G. Stodieck von der Klinik für Neurologie der Universität Münster. Bei einem weiteren Viertel wird zwar die Zahl der Anfälle verringert; die psychologische Belastung aber bleibt. Außerdem leidet ein Drittel aller Patienten – auch derjenigen, bei denen sich keine Besserung zeigt – unter Arzneimittelnebenwirkungen, die laut Stodiek „zum Teil sehr massiv sein können“.

Da nicht jedes Medikament bei jeder Anfallsform hilft, wird die Suche nach der besten Arznei oftmals zu einem jahrelangen Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Es verwundert daher nicht, daß jeder dritte Patient seine verordneten Medikamente nur unregelmäßig einnimmt.

Stodiek ist sich mit seinen Kollegen dennoch einig, daß es viele Gründe für einen möglichst frühzeitigen Therapiebeginn gibt. Zum einen sinken die Erfolgschancen, je länger die Krankheit unbehandelt bleibt; zum anderen erhöht jeder Anfall die Wahrscheinlichkeit für den Nächsten. Warum das so ist, glaubt der Epileptologe mit neueren Erkenntnissen aus der Gehirnforschung erklären zu können:

Demnach handelt es sich bei der Epilepsie um spontane elektrische Entladungen größerer Gruppen von Nervenzellen (Neurone). Bei vielen Patienten werden offensichtlich immer die gleichen Nervenbahnen aktiviert, die sich dadurch einschleifen und – so die Theorie der Neurobiologen – immer leichter erregbar werden. Die Entladungen selbst kommen vermutlich zustande, weil sich ein Ungleichgewicht eingestellt hat zwischen einem anregenden Botenstoff – dem Glutamat und der aus dem Glutamat gebildeten Gamma-Aminobuttersäure (GABA), welche die Aufregung im Gehirn zu dämpfen vermag.

Das resultierende Dauerfeuer der Neurone kann von verschiedenen Regionen des Gehirns seinen Ausgang nehmen. Bei bestimmten Formen der Epilepsie, den sogenannten fokalen Anfällen, sind dann jeweils die Körperpartien oder -funktionen zuerst betroffen, die von der entsprechenden Hirnregion gesteuert werden. Beginnt solch ein fokaler Anfall beispielsweise mit einem Zucken des Mundwinkels oder rhythmischen Kaubewegungen gelingt es oftmals, die Störung einer eng umschriebenen Hirnregion zuzuschreiben. Bleibt die medikamentöse Behandlung erfolglos, so kann bei schweren Fällen ein chirurgischer Eingriff erwogen werden, bei dem das „epileptogene Areal“ entfernt wird, ohne daß es beim Patienten zu bleibenden Schäden kommt.

Drei Zentren für derartige Eingriffe gibt es in Deutschland: Neben Bonn und Bethel verfügt seit kurzem auch die Universität Erlangen-Nürnberg über ein Epilepsiezentrum der höchsten Leistungsstufe. Mit fünf Millionen Mark fördert dort das Bundesministerium für Gesundheit die Versorgung von Epilepsiepatienten, für die ein operativer Eingriff die einzige Chance auf ein normales Leben bedeutet.

Allerdings ist auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Den jährlich etwa 200 Operationen, die in Deutschland durchgeführt werden, stehen etwa 20000 Epileptiker gegenüber, die durch solch einen Eingriff geheilt werden könnten. Immerhin dauert die Vorbereitung eines Eingiffs rund drei Wochen, in denen der Patient rund um die Uhr überwacht werden muß. Anhand von Videoaufnahmen und der laufend aufgezeichneten Hirnstromkurven versuchen Neurologen und Neurochirurgen, Informatiker und Ingenieure, Physiker und Psychologen gemeinsam, den Krankheitsherd zu ermitteln.

Modernste Diagnosegeräte messen winzige Magnetfelder im Gehirn und erlauben eine dreidimensionale Darstellung der feinsten Strukturen. All der Aufwand dient letztlich dazu, das Risiko für den Patienten möglichst gerimg zu halten. In bis zu 85 Prozent aller Fälle führen diese Operationen am kompliziertesten Organ des Menschen zum Erfolg: Die Patienten werden auf Dauer von ihren Anfällen befreit.

Für die Zukunft träumt Stodiek jedoch von einem Verfahren, das auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag: Ein „Hirnschrittmacher“ soll mit kleinen Stromstössen den rechten Takt angeben, sobald die grauen Zellen aus dem Schritt geraten. Wie der „New Scientist“ vermeldet, ist ein erster Schritt in diese Richtung bereits gelungen:

Mit Elektroden, die im Nacken von Epilepsiepatienten angebracht wurden, stimulierte ein amerikanisch-europäisches Forscherteam in kurzen Abständen den Nervus vagus, einen der großen Nervenstränge, die vom Gehirn ausgehend die Arbeit der inneren Organe steuern.

Dazu implantierten die Ärzte bei 127 Patienten ein kleines Steuergerät auf der linken Brustseite unter der Haut. In etwa zehnminütigem Abstand schickte dieser Stimulator elektrische Reize an den Nervus vagus. Nach 18 Monaten zählten die Wissenschaftler im Durchschnitt nur noch halb so viele Anfälle wie zu Beginn der Behandlung.

Die Epilepsiekranken, bei denen Medikamente wirkungslos geblieben waren, mußten dabei als Nebenwirkung ein Kribbeln während der Stimulationen in Kauf nehmen, auch klagten manche über leichte Halsschmerzen. Mit einem über den Stimulator gehaltenen Magneten konnten die Patienten die elektrischen Reize auch selbst hervorrufen, was in einigen Fällen ausrichte, um eine sich anbahnende Attacke im Keim zu ersticken.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. September 1993)

Quellen:

Epilepsie – Die übersehene Krankheit

Es kann jedem passieren, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort: Eine vorübergehende Geistesabwesenheit oder mitten im Satz das völlige Unvermögen, die eben noch präsenten Worte zu formulieren, zählen zu den vergleichsweise harmlosen Varianten epileptischer Anfälle.

Für Unbeteiligte oftmals erschreckend sind dagegen die von Medizinern als „Grand mal“ (französisch: Großes Übel) beschriebenen Erscheinungsformen: Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt es etwa zu einem plötzlichen Verkrampfen der Muskulatur – manchmal noch ein Schrei und die Betroffenen stürzen wie ein gefällter Baum zu Boden. Unfähig zu atmen bleiben sie mehrere Sekunden liegen, bis dann rhythmische Muskelzuckungen einsetzen, die zwei bis drei Minuten anhalten können. Rötlicher Schaum vor dem Mund, verstärkt noch das Entsetzen der Umstehenden, dabei hat sich der jetzt scheinbar tief schlafende Mensch während des Muskelkrampfes doch „nur“ auf die Zunge gebissen. Wenn dieser endlich erwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Um sich herum lauter verstörte Gesichter, hat er selbst oftmals Schwierigkeiten, das Geschehene zu begreifen.

Nicht selten wird auch sofort der Notarzt verständigt, was laut dem früheren Vorsitzenden des Kuratoriums Epilepsie, Jürgen Peiffer, „zwar verständlich, aber unnötig“ ist. Wichtig sei es vor allem, den „krampfenden“ Menschen vor Verletzungen durch die unkontrollierten Bewegungen zu schützen rät der ehemalige Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Tübingen. Peiffer wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß keiner vor solch einem Mißgeschick gefeit ist.

„Jedes menschliche Gehirn kann unter bestimmten Umständen mit einem epileptischen Anfall reagieren“, unterstreicht auch Peter Berlit von der Neurologischen Klinik am Essener Alfried Krupp Krankenhaus. Auf einem Journalistenseminar der Firma Wellcome, das kürzlich in München stattfand, hob Berlit hervor, daß etwa jeder Zwanzigste damit rechnen muß, einmal in seinem Leben einen mehr oder weniger stark ausgeprägten „Gelegenheitsanfall“ zu bekommen. Auslöser können so unterschiedliche Faktoren sein wie Schlafentzug, Sauerstoffmangel, Alkohol oder DrogenG, das Flimmern eines Fernsehapparates oder die rhythmischen Lichtblitze in einer Diskothek.

Von einer Epilepsie sprechen die Experten zwar erst dann, wenn die Anfälle sich wiederholen, dennoch geht man für die Bundesrepublik von 800000 Kranken aus – etwa ebenso viele, wie es Zuckerkranke gibt. Unter ihnen muß ein Drittel damit rechnen, mehr als einen Anfall pro Monat zu erleiden. Ein weiteres Drittel ist zwischen einem und zwölf Mal jährlich betroffen, das letzte Drittel seltener. Zwischen den Anfällen sind die Patienten geistig meist völlig störungsfrei und ohne sorgfältige Diagnose von gesunden Menschen nicht zu unterscheiden.

Trotz ihrer weiten Verbreitung wird die manchmal als „heimlich-unheimliche Krankheit“ titulierte Epilepsie in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Noch immer hält jeder vierte Deutsche die Epilepsie für eine Geisteskrankheit, fast ein Drittel gab in einer Umfrage sogar an, ihr Kind dürfe keinen Epilepsiekranken heiraten. Gerade Schulkinder haben unter solchen Einstellungen sehr zu leiden, wie Gerda Hefner, Psychiaterin an der Bonner Epileptologischen Klinik, zu berichten weiß. Sie sind dem Spott der Mitschüler ausgesetzt, wenn nach einem Anfall etwa eine Pfütze unter dem Stuhl zurückbleibt, als sichtbarer Beweis dafür, daß sie das Wasser nicht haben halten können.

Auch die gutgemeinten Bemühungen der Eltern oder Lebenspartner können Anfallskranken zu schaffen machen. Die übertriebene Fürsorge der Familie und die daraus erwachsende Abhängigkeit hinterläßt zwangsläufig ihre Spuren, auch wenn die Epilepsie im Laufe der Jahre kuriert werden kann. „Natürlich haben diese Menschen ein erhöhtes Risiko, aber man darf sie auch nicht zu sehr unter die Käseglocke setzen“, rät Gerda Hefner.

Zur sozialen Ausgrenzung, die in der Bundesrepublik laut Professor Heinz-Joachim Meenke viel stärker ausgeprägt ist, als in den Vereinigten Staaten oder den europäischen Nachbarländern, kommen noch eine Reihe handfester Nachteile hinzu. Meenke, der sich am Berliner Rudolf Virchow Klinikum immer wieder mit den psychosozialen Folgen der Krankheit auseinandersetzten muß, trifft häufig auf besorgte Patienten, die ihr Leiden aus Angst vor Entlassung gegenüber ihrem Arbeitgeber und den Kollegen verschweigen.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Abschluß privater Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen, denn die früher auch als „Fallsucht“ bezeichnete Krankheit erhöht das Risiko tödlicher Unfälle beträchtlich. Meist tritt eine Ausschlußklausel in Kraft, die alle Folgen der Epilepsie vom Versicherungsschutz ausnimmt, oder es werden erheblich höhere Prämien verlangt. Eine erhöhte Selbstmordrate unter Epileptikern kann als trauriger Beweis dafür gelten, daß ein Leben in ständiger Angst und die oft ablehnende Reaktion der Mitmenschen für viele zur unerträglichen Belastung wird.

Weniger dramatisch scheint dagegen das für alle Epileptiker geltende generelle Fahrverbot, doch wird auch diese Vorsichtsmaßnahme von vielen als beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Den Führerschein dürfen die Betroffenen erst wieder beantragen, wenn sie mindestens zwei Jahre anfallsfrei waren. Während der Sinn dieser Regelung von Ärzten und Patienten kaum in Frage gestellt wird, traf ein anderes Handicap auf weniger Verständnis: „Bis vor kurzem war die Verbeamtung von Anfallskranken grundsätzlich nicht möglich“, erläutert Meenke.

Die Krankheit mag unheimlich sein – unheilbar ist sie nicht. Gerade in den letzten Jahren wurde das Arsenal an Medikamenten, die gegen die zahlreichen Formen der Epilepsie zum Einsatz kommen, beträchtlich erweitert. Vigabatrin und Lamotrigin, Clobazam und Gabapentin, Oxacarbazepin, Felbamat und Topiramat heißen die Präparate, die in jüngster Zeit neu auf Markt kamen oder kurz vor der Zulassung stehen.

Den raschen Fortschritten in der Hirnforschung ist es größtenteils zu verdanken, daß derzeit rund 100 weitere Arzneimittelkandidaten in amerikanischen und europäischen Labors getestet werden. „Insgesamt eine Verbesserung der Therapie“ erwartet daher Christian E. Elger, Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn, für die nähere Zukunft. „Der große Durchbruch aber wird ausbleiben“, sagte Elger gegenüber der Ärztezeitung.

Trotz der vergleichsweise großen Zahl von Arzneimitteln gelingt es derzeit nur in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle, sämtliche Anfälle zu unterdrücken, so Stefan R.G. Stodieck von der Klinik für Neurologie der Universität Münster. Bei einem weiteren Viertel wird zwar die Zahl der Anfälle verringert; die psychologische Belastung aber bleibt. Außerdem leidet ein Drittel aller Patienten – auch derjenigen, bei denen sich keine Besserung zeigt – unter Arzneimittelnebenwirkungen, die laut Stodiek „zum Teil sehr massiv sein können“.

Da nicht jedes Medikament bei jeder Anfallsform hilft, wird die Suche nach der besten Arznei oftmals zu einem jahrelangen Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Es verwundert daher nicht, daß jeder dritte Patient seine verordneten Medikamente nur unregelmäßig einnimmt.

Stodiek ist sich mit seinen Kollegen dennoch einig, daß es viele Gründe für einen möglichst frühzeitigen Therapiebeginn gibt. Zum einen sinken die Erfolgschancen, je länger die Krankheit unbehandelt bleibt; zum anderen erhöht jeder Anfall die Wahrscheinlichkeit für den Nächsten. Warum das so ist, glaubt der Epileptologe mit neueren Erkenntnissen aus der Gehirnforschung erklären zu können:

Demnach handelt es sich bei der Epilepsie um spontane elektrische Entladungen größerer Gruppen von Nervenzellen (Neurone). Bei vielen Patienten werden offensichtlich immer die gleichen Nervenbahnen aktiviert, die sich dadurch einschleifen und – so die Theorie der Neurobiologen – immer leichter erregbar werden. Die Entladungen selbst kommen vermutlich zustande, weil sich ein Ungleichgewicht eingestellt hat zwischen einem anregenden Botenstoff – dem Glutamat und der aus dem Glutamat gebildeten Gamma-Aminobuttersäure (GABA), welche die Aufregung im Gehirn zu dämpfen vermag.

Das resultierende Dauerfeuer der Neurone kann von verschiedenen Regionen des Gehirns seinen Ausgang nehmen. Bei bestimmten Formen der Epilepsie, den sogenannten fokalen Anfällen, sind dann jeweils die Körperpartien oder -funktionen zuerst betroffen, die von der entsprechenden Hirnregion gesteuert werden. Beginnt solch ein fokaler Anfall beispielsweise mit einem Zucken des Mundwinkels oder rhythmischen Kaubewegungen gelingt es oftmals, die Störung einer eng umschriebenen Hirnregion zuzuschreiben. Bleibt die medikamentöse Behandlung erfolglos, so kann bei schweren Fällen ein chirurgischer Eingriff erwogen werden, bei dem das „epileptogene Areal“ entfernt wird, ohne daß es beim Patienten zu bleibenden Schäden kommt.

Drei Zentren für derartige Eingriffe gibt es in Deutschland: Neben Bonn und Bethel verfügt seit kurzem auch die Universität Erlangen-Nürnberg über ein Epilepsiezentrum der höchsten Leistungsstufe. Mit fünf Millionen Mark fördert dort das Bundesministerium für Gesundheit die Versorgung von Epilepsiepatienten, für die ein operativer Eingriff die einzige Chance auf ein normales Leben bedeutet.

Allerdings ist auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Den jährlich etwa 200 Operationen, die in Deutschland durchgeführt werden, stehen etwa 20000 Epileptiker gegenüber, die durch solch einen Eingriff geheilt werden könnten. Immerhin dauert die Vorbereitung eines Eingiffs rund drei Wochen, in denen der Patient rund um die Uhr überwacht werden muß. Anhand von Videoaufnahmen und der laufend aufgezeichneten Hirnstromkurven versuchen Neurologen und Neurochirurgen, Informatiker und Ingenieure, Physiker und Psychologen gemeinsam, den Krankheitsherd zu ermitteln.

Modernste Diagnosegeräte messen winzige Magnetfelder im Gehirn und erlauben eine dreidimensionale Darstellung der feinsten Strukturen. All der Aufwand dient letztlich dazu, das Risiko für den Patienten möglichst gering zu halten. In bis zu 85 Prozent aller Fälle führen diese Operationen am kompliziertesten Organ des Menschen zum Erfolg: Die Patienten werden auf Dauer von ihren Anfällen befreit.

Für die Zukunft träumt Stodiek jedoch von einem Verfahren, das auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag: Ein „Hirnschrittmacher“ soll mit kleinen Stromstößen den rechten Takt angeben, sobald die grauen Zellen aus dem Schritt geraten. Wie der „New Scientist“ vermeldet, ist ein erster Schritt in diese Richtung bereits gelungen:

Mit Elektroden, die im Nacken von Epilepsiepatienten angebracht wurden, stimulierte ein amerikanisch-europäisches Forscherteam in kurzen Abständen den Nervus vagus, einen der großen Nervenstränge, die vom Gehirn ausgehend die Arbeit der inneren Organe steuern.

Dazu implantierten die Ärzte bei 127 Patienten ein kleines Steuergerät auf der linken Brustseite unter der Haut. In etwa zehnminütigem Abstand schickte dieser Stimulator elektrische Reize an den Nervus vagus. Nach 18 Monaten zählten die Wissenschaftler im Durchschnitt nur noch halb so viele Anfälle wie zu Beginn der Behandlung.

Die Epilepsiekranken, bei denen Medikamente wirkungslos geblieben waren, mußten dabei als Nebenwirkung ein Kribbeln während der Stimulationen in Kauf nehmen, auch klagten manche über leichte Halsschmerzen. Mit einem über den Stimulator gehaltenen Magneten konnten die Patienten die elektrischen Reize auch selbst hervorrufen, was in einigen Fällen ausrichte, um eine sich anbahnende Attacke im Keim zu ersticken.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. September 1993)

Quellen: