Erfolge bei der Behandlung schwerkranker Patienten werden heute nicht mehr ausschließlich anhand klinischer Parameter gemessen. Zunehmend betonen Ärzte, Kranke und deren Angehörige die Bedeutung der Lebensqualität. Während diese schwer zu quantifizierende Eigenschaft in Australien sogar schon bei der Zulassung von Arzneimitteln berücksichtigt wird, steckt ihre Erforschung und Bewertung in Deutschland noch in den Kinderschuhen.

„Die Messung der Lebensqualität im Rahmen von Therapiestudien genügt meist nicht wissenschaftlichen Ansprüchen“, bemängelte Professor Fritz Muthny im Rahmen der diesjährigen Paul-Martini-Vorlesung der Medizinisch-Pharmazeutischen Studiengesellschaft. So fanden sich bei einer Literaturanalyse zum Bronchialkarzinom zwar 130 Arbeiten zum Stichwort „Lebensqualität“, darunter aber nur 12 Studien mit einem Randomisierungsdesign, von denen wiederum keine einzige gleichzeitig Fremd- und Selbsteinschätzungen ermittelte.

Grundsätzlich sollte aber ein möglichst breites Spektrum erfaßt werden, darunter Daten zum Gesundheitszustand und den Beschwerden der Patienten, zur Funktions- und Leistungsfähigkeit in verschiedenen Lebensbereichen, zum emotionalen Befinden sowie Anzahl und Güte der Beziehungen, forderte der Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. „Sehr wichtig ist es auch, das Verfahren im Kontakt mit den Patienten zu entwickeln“, sagte Muthny.

Unter Beachtung dieser Richtlinien kann die Lebensqualitäts-Forschung durchaus von Nutzen für die Praxis sein, wie der promovierte Mediziner und Psychologe anhand eigener Untersuchungen belegte: In einer multizentrischen Studie an jeweils etwa 300 Krebspatienten der Diagnosen Bronchialkarzinom, Leukämien und Lymphome sowie colorecatale Karzinome konnten Gemeinsamkeiten in den meisten erfragten psychischen und psychosomatischen Beschwerden aufgezeigt werden: Gereiztheit, Angstgefühle, Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen sowie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen wurden in allen drei Gruppen mit der gleichen Häufigkeit festgestellt. Zwischen 7 und 10 Prozent der Befragten gaben an, die genannten Symptome in starkem Maße zu erfahren.

Unterschiede gab es dagegen bei den physischen Beschwerden. So litten Bronchialkarzinompatienten erwartungsgemäß am stärksten unter Kurzatmigkeit, Husten und Schmerzen. Leukämie- und Lymphompatienten klagten indessen vorwiegend über Haarausfall, Stomatitis, Übelkeit und Geschmacksstörungen als Folge von Strahlen- und Chemotherapie.

Die relativ höchste Unzufriedenheit wurde bei der körperlichen Leistungsfähigkeit und beim Sexualleben festgestellt. Fast ein Drittel der Patienten gab an, mit diesen Lebensbereichen „unzufrieden“ zu sein. Verzeichnet wurde aber auch eine überraschend hohe Zufriedenheit mit der sozialen Situation. Rund 80 Prozent der Kranken gaben an, mit dem Familienleben und ihrer Stellung in der Familie „zufrieden“ zu sein, davon war die Hälfte sogar „sehr zufrieden“. Auch mit der Anzahl von Freunden und Bekannten und mit dem Verhalten des Partners zeigten sich 70 Prozent der Befragten „zufrieden“.

Überraschendes förderte Muthny auch mit einer anderen Untersuchung zu Tage, bei der vier Gruppen chronisch Kranker verglichen wurden. An der Studie nahmen 451 Patientinnen mit den Diagnosen Herzinfarkt, chronische Niereninsuffizienz, Mamma- und Unterleibskrebs sowie Multiple Sklerose teil. Dabei zeigte sich, daß die Krebspatientinnen nicht wie erwartet die ungünstigste Lebensqualität hatten, sondern zusammen mit den Herzinfarkt-Patientinnen eine Gruppe vergleichsweise hoher Lebenszufriedenheit bildeten. Die höchsten Depressionswerte und die höchste Beschwerdesumme zeigte die Gruppe der Dialysepatientinnen; zusammen mit den MS-Kranken bildeten sie ein Kollektiv chronisch Kranker mit deutlich verringerter Lebenszufriedenheit.

Welch große Bedeutung dem „inneren Referenzmaßstab“ zukommt, geht aus einem Vergleich zwischen Gesunden sowie Herzinfarkt- und Bronchialkarzinom-Patienten hervor, an dem insgesamt fast 700 Personen teilnahmen. Dabei zeigte sich, daß in der Kategorie „sehr zufrieden mit der generellen Lebenssituation“ Bronchialkarzinom-Patienten am häufigsten vertreten waren, obwohl sie die objektiv ungünstigste Prognose hatten. An zweiter Stelle folgten die Herzinfarkt-Patienten; am geringsten war der Prozentsatz der sehr Zufriedenen unter den Gesunden.

Muthnys Interpretion lautet: „Wer dem Tod von der Schippe gesprungen ist, kann selbst mit sehr eingeschränkten Lebensverhältnissen sehr viel zufriedener sein, als ein Gesunder, der eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen hohen Erwartungen und tatsächlichen Möglichkeiten erlebt.“ Die dem Mediziner möglicherweise paradox erscheinenden Verhältnisse machten die Erhebung subjektiver Lebensqualitätsdaten keineswegs sinnlos, erklärte Muthny. Sie seien vielmehr als Hinweis zu werten, daß zukünftige Forschungen den Referenz-Maßstab des Patienten stärker beachten müssen.

Bei sorgfältiger Durchführung sowie enger Kooperation zwischen Vertretern der klinischen Medizin und der psychosozialen Fächer erhofft sich Muthny von der Lebensqualitätsforschung einen vielfältigem Nutzen für die Onkologie. Die adäquatere Erfassung des Begleitwirkungen einer Therapie werde ebenso ermöglicht wie eine bessere Beurteilung des Krankheitsverlaufs. Weitere Vorteile sieht der Institutsleiter in einer Schulung der ärtztlichen Wahrnehmung in diesem Bereich sowie in gezielten Hinweisen darauf, wo die Schwerpunkte bei der psychosozialen Versorgung zu setzen sind.

(Erschienen in der Ärzte-Zeitung am 25. August 1993)