Selten hat eine Technik der Wissenschaft so schnell auf die Sprünge geholfen wie im Falle der Polymerasekettenreaktion . Die zündende Idee, welche es ermöglichte, Erbinformationen gezielt und praktisch nach Belieben zu vermehren, kam dem Amerikaner Dr. Kary Mullis auf der Fahrt ins Wochenende an einem lauen Maienabend im Jahr 1983. Nun erhielt er dafür den Robert-Koch-Preis.
Schon 1985 hatte Mullis seine Idee in die Praxis umgesetzt. Im letzten Jahr zahlte Hoffmann-La Roche dann die Rekordsumme von 300 Millionen Dollar für „alle Rechte und Patente, für alle bekannten und noch unbekannten Anwendungen“ der Polymerasekettenreaktion (PCR) an Mullis‘ ehemaligen Arbeitgeber, die kalifornische Cetus Corporation.
Die Investition wird sich rentieren, denn der PCR erschließen sich ständig neue Märkte. Von der Archäologie über die Diagnose von Erbschäden und Krankheitserregern bis zur Überwachung im Umweltschutz reichen die Anwendungen.
Auch anläßlich der Verleihung des diesjährigen Robert-Koch-Preises am 2. November in Bonn machte Mullis klar, daß das Potential der PCR noch lange nicht ausgereizt ist. Weil sich mit Hilfe der Technik, die dem zelleigenen Kopiermechanismus für DNA ähnelt, einzelne Abschnitte des Erbguts nach Belieben vermehren lassen, können Krankheitserreger auch dort nachgewiesen werden, wo serologische Methoden versagen.
Bei der Untersuchung HIV-positiver Säuglinge von HIV-positiven Müttern etwa reicht ein Antikörper-Test allein nicht aus, um zu überprüfen, ob das Kind infiziert ist oder nicht. Die PCR dagegen kann das Virus direkt nachweisen und liefert eine frühzeitige Antwort. Die Nachweisgrenze liegt etwa bei einer infizierten Zelle unter 100 000.
Der HIV-Nachweis durch die Polymerasekettenreaktion ist aber kein Einzelfall. So gelang es, bakterielle Krankheitserreger wie Bordetella pertussis, Legionella pneumophila, Heliobacter pylori, Mycobakterien und Chlamydien in asymptomatischen Trägern aufzuspüren. Auch Viren wie Hepatitis B und C, Papilloma- und Herpesviren, einzellige Erreger wie Toxoplasma gondii, Pneumocystis carinii und Entamoeba histolytica oder Pilzinfektionen durch Candida albicans und Cryptococcus neoformans wurden schon mit Hilfe der PCR entdeckt.
In naher Zukunft werden standardisierte Kits erwartet, welche die Nachweiszeiten gegenüber den gebräuchlichen Zellkulturmethoden um ein Vielfaches verkürzen sollen. In der forensischen Medizin steht der PCR ebenfalls eine große Zukunft bevor: Am Tatort verbliebene Haare, Blutspuren oder Spermien dienen in den USA immer häufiger als Beweismittel in Gerichtsverfahren. Bestimmte Teilabschnitte der DNA, die über Jahre hinweg intakt bleiben kann, werden dafür vervielfältigt und mit der DNA der Verdächtigen verglichen.
In Großbritannien wird das Verfahren inzwischen regelmäßig bei Vaterschaftsklagen und Einwanderungsverfahren eingesetzt, denn verwandtschaftliche Beziehungen können ebenfalls nachgewiesen werden. Auch nach Flugzeugabstürzen könnte sich die PCR als die Methode der Wahl zur Identifikation der Leichname erweisen. Viele Opfer von Mördern, Kriegsverbrechern und totalitären Machthabern müßten nicht länger unerkannt bleiben.
„Die beispiellose Sensitivität der PCR hat allerdings auch ihre Schattenseiten“, beklagte Mullis, der als Sachverständiger mehrfach Gerichtsprozessen beiwohnte.
Zum einen muß sichergestellt sein, daß die Analyse in einem fachlich kompetenten Labor vorgenommen wird, weil sonst möglicherweise das Erbmaterial des Laboranten und nicht das des Täters zum Vergleich herangezogen wird. Außerdem sei es generell problematisch, eine Methode als Beweismittel zuzulassen, deren Grundlagen weder Angeklagter noch Kläger, weder Richter noch Jury verstünden.
In der Archäologie und der Paläontologie bietet die PCR die faszinierende Möglichkeit, uraltes Erbmaterial zu untersuchen, das sich zum Beispiel aus Mumien oder tiefgefrorenen Mammutresten, aus fossilen Knochen oder Überbleibseln ausgestorbener Tierarten gewinnen läßt, die in Museen aufbewahrt werden. Kürzlich wurden sogar erste Meldungen bekannt, wonach es gelungen ist, DNA aus vierzig Millionen Jahre alten Insekten zu untersuchen, die in Bernstein eingeschlossen waren.
In naher Zukunft könnte DNA als weltweiter Herkunftsnachweis für Produkte aller Art zum Einsatz kommen. Man will sich dabei die Tatsache zunutze machen, daß jegliche Information – ähnlich wie beim Morse-Code – durch die Reihenfolge der vier verschiedenen DNA-Bausteine darstellbar wäre. An einem standardisierten Codierungssystem wird bereits gearbeitet.
Ein bestimmter, synthetisch hergestellter DNA-Abschnitt könnte dann mit PCR vervielfältigt und – in extremer Verdünnung – zum Beispiel in das Öl von Supertankern gegeben werden. Die Verursacher von Verschmutzungen ließen sich endlich zweifelsfrei nachweisen, denn auf der DNA wäre – nach Vervielfältigung mit der Polymerasekettenreaktion – für jedermann nachzulesen, aus welchem Tanker das Öl stammt.
(erschienen in der Pharmazeutischen Zeitung am 26. November 1992)
Was wurde daraus? Im Jahr darauf erhielt Mullis den Nobelpreis für Chemie, und bis auf den Herkunftsnachweis per DNA-Markierung ist die PCR bei allen genannten Anwendungen im Einsatz. Auch die Wikipedia bescheinigt ihr, eine der wichtigsten Methoden der Molekularbiologie zu sein. Mullis, der für seine 300-Million-Idee von seinem Arbeitgeber lediglich $ 10.000 bekommen hatte, starb 2019 mit 74 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Zuvor hatte er seinen Ruf als Exzentriker noch unterstrichen, indem er den Zusammenhang zwischen dem Immunschwächevirus HIV und der Entstehung von AIDS bestritt, den Konsens zum Klimawandel ablehnte und über angebliche Begegnungen mit Außerirdischen berichtete…