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Wege zu sauberem Blut

Horst Seehofer hat keine Angst vor Bluttransfusionen. „Niemand kann absolute Sicherheit versprechen“, räumte der Bundesgesundheitsminister zwar gegenüber dem Nachrichtensender n-tv ein. Dennoch würde er sich bei Bedarf eine Transfusion verabreichen lassen. Kaum ein Drittel der Bundesbürger teilt indessen die Zuversicht des umstrittenen Politikers, wie eine Umfrage des Wickert-Instituts ergab.

Selbst die Zahl der Blutspenden ist im Gefolge des „Aids-Skandals“ zurückgegangen. Obwohl dabei wegen der einmaligen Verwendung sterilisierter Nadeln jegliches Infektionsrisiko ausgeschlossen ist, bleiben laut einem Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) bis zu 20 Prozent der Spender lieber zu Hause. Viele Bundesbürger, so scheint es, betrachten inzwischen jeglichen Umgang mit dem lebensspendenden Saft als tödliche Gefahr.

Dagegen betonen Experten auch nach der Verhaftung führender Mitarbeiter der Koblenzer Firma UB-Plasma das äußerst geringe Risiko deutscher Transfusionsempfänger für eine Infektion mit dem Immunschwächevirus HIV seit dem 1. Oktober 1985. Ab diesem Datum durften Blutpräparate nur noch dann in Verkehr gebracht werden, wenn das Ausgangsmaterial zuvor auf das Immunschwächevirus HIV getestet wurde. Entdeckt wurde HIV zwar schon im Mai 1983, die Rolle des Erregers bei der Entstehung von Aids war damals aber unter Fachleuten umstritten, einen Bluttest gab es nicht.

Die 2300 Menschen, die sich in Deutschland durch verseuchtes Blut und Blutprodukte infiziert haben, stellen unter den 60000 gemeldeten HIV-Infizierten eine kleine Minderheit dar. Angesteckt wurden – fast ausschließlich vor Einführung des Bluttests – 1843 Bluter, die wegen der benötigten hochkonzentrierten Gerinnungsfaktoren besonders gefährdet waren. Auf dem Transfusionsweg wurden 462 Menschen infiziert, davon laut Auskunft des BGA „maximal 20“ nach Einführung des Bluttests.

Nicht Schlamperei ist die Ursache für diese „Ausreißer“, sondern die verspätete Reaktion des menschlichen Immunsystems auf den Eindringling: Die gebräuchlichen Tests weisen nämlich das Virus nicht direkt nach, sondern nur die – verspätete – menschliche Abwehrreaktion darauf. Vier bis sechs Wochen, in sehr seltenen Fällen auch sechs Monate können vergehen, bis im Blut genügend Antikörper schwimmen, um das Virus nachzuweisen. Ein zusätzlicher neuer Bluttest (p24 Antigen-Test), der in manchen Bundesländern bereits eingeführt wurde, spürt ein Viruseiweiß direkt auf, und verringert dadurch theoretisch die Dauer des „diagnostischen Fensters“.

Gregor Caspari vom Institut für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität Gießen hat allerdings errechnet, daß jede zusätzlich aufgespürte Infektion mindestens 50 Millionen Mark kosten würde, im ungünstigsten Fall bis 400 Millionen. Zum Vergleich: Das Bundesministerium für Gesundheit hat zur Aids-Bekämpfung in den letzten drei Jahren jeweils circa 50 Millionen Mark bereitgestellt. Außerdem befürchtet Caspari eine Anlockung von Risikogruppen durch den neuen Test. Der kann eine Infektion zwar früher anzeigen, aber auch er erfaßt längst nicht alle Infizierten.

Ulrich Kania, leitender Oberarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik Bonn beziffert das Risiko einer Ansteckung durch Blut und Blutplasma aus Einzelspenden heute auf etwa eins zu dreihunderttausend bis eins zu einer Million, Caspari hält den letzteren Wert für realistischer. Diese Zahlen müssten allerdings in Bezug gesetzt werden zu den ungleich größeren Gefahren die vielen Patienten drohen, wenn die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen verzögert wird oder ganz unterbleibt, sagte Kania. Auch der Marburger Bund, die Vertretung von rund 57000 Krankenhausärzten, betonte, es gebe keinen Anlaß zu Angst vor Blutübertragungen oder Operationen.

Die Zweckmäßigkeit verschiedener Maßnahmen, die mittlerweile zur Reduktion des verbleibenden Risikos gefordert, geplant oder im Eilverfahren bereits umgesetzt umgesetzt wurden, wird von Medizinern vielfach skeptisch beurteilt. Die Sicherheitsvorkehrungen hängen davon ab, welche Bestandteile des Blutes verarbeitet, und in welcher Menge diese dann an die unterschiedlichen Patientengruppen verabreicht werden.

Nach großem Blutverlust werden vor allem rote Blutkörperchen (Erythrozyten) gebraucht, die für den Sauerstofftransport ins Gewebe verantwortlich sind, außerdem Blutplättchen (Thrombozyten), die für die Gerinnung sorgen und beispielsweise nach einer Chemotherapie oft ergänzt werden müssen. Beide sind nur kurzfristig haltbar; die Erythrozyten drei bis sieben Wochen, die Thrombozyten nur einige Tage. Jede Form von Virusabtötung mit Hitze oder Chemikalien würde diese empfindlichen Blutbestandteile zerstören, das Restrisiko des „diagnostischen Fensters“ muß hier also in Kauf genommen werden.

Unter Plasma versteht man den „Blutsaft“ ohne die zellulären Bestandteile. Er enthält mehrere hundert verschiedene Eiweiße, darunter Antikörper und verschiedene Gerinnungsfaktoren. Das Plasma ist tiefgefroren bis zu einem Jahr haltbar. Vor der Verwendung als „Einzelspenderplasma“ fordert das BGA entweder eine Quarantäne oder ein Verfahren zur Virusinaktivierung. Bei der Quarantäne wird der ursprüngliche Spender nach Ablauf von mindestens vier Monaten ein zweites Mal getestet. Nur wenn er dabei wie schon bei der ersten Blutentnahme „HIV-negativ“ ist, wird das Plasma zur weiteren Verwendung freigegeben. Diese Methode wird von Zentren, die nur Blutplasma sammeln, favorisiert, weil diese einen hohen Anteil regelmäßig wiederkehrender Spender haben.

Die Blutspendedienste befürchten allerdings große Versorgungslücken bei Einführung dieser Maßnahme. Gerade Organisationen wie das Rote Kreuz, die einen auch im internationalen Vergleich sehr niedrigen Anteil HIV-infizierter Spender haben, sind auch abhängig von Menschen, die sporadisch und oft nur ein einziges Mal spenden. Sie tun dies meist aus Verantwortungsbewußtsein und erhalten dafür lediglich einen Imbiß, bei kommunalen Diensten dagegen eine „Aufwandsentschädigung“ von fünfzig Mark.

Die Spenden dieser Personen könnten nicht nachgetestet werden und würden nach einem Jahr ungenutzt verderben. Die entstehende Lücke müßte dann durch Importe – vorwiegend aus den USA – geschlossen werden. Dort findet aber ebenfalls keine Doppeltestung statt; der Anteil von HIV-Infizierten an der Gesamtbevölkerung ist außerdem deutlich höher als in Deutschland.

Als Alternative zur Quarantäne wird deshalb von einigen DRK-Diensten die Virusinaktivierung von gefrorenen Frischplasma bereits praktiziert, mit der die wichtigen transfusionsübertragenen Viren (neben HIV auch verschiedene Hepatitis-Viren) abgetötet werden.

Mindestens die Hälfte allen gespendeten Blutes wird in Deutschland zur Herstellung von sogenannten „Pool-Produkten“ verbraucht. Dies sind hochkonzentrierte Eiweiße wie der für die Blutgerinnung unverzichtbar Faktor VIII. Bis zu 60000 Plasma-Einzelspenden werden dabei zusammengeführt und gemeinsam verarbeitet. Vier verschiedene Inaktivierungsverfahren stehen zur Verfügung, von denen das teuerste – die „feuchte Hitze-Inaktivierung bei 60 Grad“ – sich als das Sicherste erwiesen hat.

Der für einen Großteil der Bluter lebenswichtige Faktor VIII kann seit kurzem auch gentechnisch, also ohne die Verwendung von Blut, hergestellt werden. Umstritten ist, ob dieses Produkt wirklich – wie die etablierten Hersteller von Faktor VIII behaupten – weniger verträglich für das Immunsystem der Patienten ist, oder ob es sich dabei nur um ein vorgeschobenes Argument handelt, mit dem bestehende Marktanteile verteidigt werden.

Prinzipiell ist das nach einer Inaktivierung verbleibende Restrisiko von Plasmapools natürlich davon abhängig, wieviele Krankheitserreger vor der Inaktivierung vorhanden waren. „Der entscheidende Faktor bei der Sicherheit von Blutprodukten ist deshalb die Auswahl der Spender,“ sagt Wolfram Gehrlich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Kommission für Virussicherheit von Arzneimitteln der Deutschen Gesellschaft für Virologie. Hier liegt auch der Grund für die Ablehnung bezahlter Spenden durch viele Fachleute im Gesundheitswesen:  Durch die Bezahlung, so wird argumentiert, schafft man eine Motivation, mögliche Gebrechen – und damit Infektionsrisiken – zu verschweigen.

Drogen- und Alkoholabhängige, Strafgefangene und die Partner HIV-infizierter Personen zählen zu den Risikogruppen, die in Deutschland permanent von der Blutspende ausgeschlossen werden müssen. Nach den Richtlinien von Bundesärztekammer und Bundesgesundheitsamt sind außerdem für mindestens sechs Monate gesperrt alle neu Operierten und Empfänger von Blut- und Blutprodukten. Auch das Durchstechen von Ohrläppchen oder Nasenflügel, Tätowierungen, Tropenreisen und zurückliegende Hepatitisinfektionen sind Ausschlußgründe.

Der „vertrauliche Selbstausschluß“ zielt auf Spender unter Gruppendruck wie beispielsweise die Mitglieder freiwilliger Feuerwehren in kleineren Ortschaften, die einmal im Jahr geschlossen zur Blutabnahme gehen. Angehörige von Risikogruppen können nach der Spende durch eine Art Kreuzchen in der Wahlkabine ihr Blut von der weiteren Verwendung ausschließen, ohne sich gegenüber den Kollegen offenbaren zu müssen.

Die in jeder Zehnten Klinik bereits angebotene Eigenblutspende wäre ebenfalls eine Möglichkeit zur Senkung des Infektionsrisikos. Allerdings wird vielfach übersehen, das die dafür nötige viermalige Blutentnahme den Spender unter Umständen stärker gefährden kann, als eine Übertragung von Fremdblut. Die Gefahr eines Herz-Kreislaufversagens während der Prozedur ist besonders bei vorbelasteten älteren Spendern mit ins Kalkül zu ziehen. Minister Seehofers Erkenntnis „Niemand kann absolute Sicherheit versprechen“, trifft bei näherer Betrachtung nicht nur auf den „Aids-Skandal“ zu, sondern auf jede Art von ärztlicher Behandlung.

(Original-Manuskript zu einem Artikel, der am 11. November 1993 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.)

Rückenwind für sanfte Landwirtschaft

Forschungsmittel von etwa 17 Mio. DM, die das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten zehn Jahren an der Bonner Universität in der Förderung einer umweltverträglichen und standortgerechten Landwirtschaft investiert hat, haben sich inzwischen amortisiert. Dieser Meinung ist zumindest Professor Wilfried Werner, Sprecher des Lehr- und Forschungsschwerpunktes, an dem derzeit 15 verschiedene Institute beteiligt sind. „Die Fördergelder werden sich auch weiterhin gut verzinsen“, sagte Werner anläßlich einer Fachtagung, zu der die laufenden Projekte vorgestellt wurden.

Die in Bonn und auf dem Versuchsbetrieb Wiesengut bei Hennef entwickelten Produktionsverfahren zielen auf einen geschlossenen Nährstoffkreislauf innerhalb der Betriebe. Durch den gleichzeitigen Anbau von Ackerbohnen mit Senfpflanzen kann beispielsweise der Bedarf an stickstoffhaltigem Dünger reduziert und die Anreicherung von trinkwassergefährdendem Nitrat im Boden weitgehend verhindert werden, wie Martin Justus vom Institut für organischen Landbau berichtete.

Um die Backqualität von Weizen aus organischem Anbau zu steigern, erprobten Joachim Schulz-Marquardt und Markus Weber eine neue Pflanzmethode. Beim sogenannten Streifenanbau von Weizen mit Klee und anderen Pflanzen aus der Familie der Knöllchenbildner „wächst“ der Dünger regelrecht aus dem Acker: Der gehäckselte Klee setzt seine mineralischen Bestandteile nur langsam frei und ermöglicht dadurch die Aufzucht eines Qualitätsweizens mit hohem Proteingehalt. Auf dem Backwarenmarkt trifft dieser Weizen derzeit auf eine erhöhte Nachfrage nach Vollkorn- und Auszugsmehlen.

Neben dem „Nährstoffmanagement“ spielt in Bonn aber auch die Kontrolle von Ernteschädlingen mit biologischen Methoden eine wichtige Rolle, ebenso die artgerechte Haltung von Nutztieren und eine Minimierung des Arzneimittelverbrauchs. Erklärte Absicht des Programmes ist es denn auch, die gewonnen Erkenntnisse möglichst zügig interessierten Landwirten zur Verfügung zu stellen.

Nach Auskunft von Professor Ullrich Köpke vom Institut für Organischen Landbau widmen sich mittlerweile rund 100 Betriebe in Nordrhein-Westfalen der sanften Landwirtschaft. Bundesweit werden 0,7% aller Nutzflächen organisch bewirtschaftet. Die „Ökobauern“ produzieren zwar ein Drittel weniger als vergleichbare konventionelle Nachbarbetriebe, sie erzielen aber am Markt deutlich höhere Preise. Dabei werden in den westlichen Bundesländern 80% der Einnahmen über die Direktvermarktung erzielt. Unter dem· Strich ist das Pro-Kopf-Einkommen dieser Betriebe daher deutlich höher. Lediglich im Vergleich mit konventionellen Spitzenbetrieben schneiden die organisch bewirtschafteten Güter schlechter ab, sagte Köpke.

Für die Zukunft befürchtet Köpke allerdings einen Strukturwandel und einen Rückgang der Erträge für die Öko-Betriebe. Ein Grund dafür ist ironischerweise ein EG-weites Subventionsprogramm, das vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde. Er gewährt neuen Biobetrieben einen Zuschuß von etwa 450 DM pro Jahr und Hektar. Die Pioniere des organischen Landbaus gehen dagegen leer aus.

Während der fünfjährigen Laufzeit des Programms sind sie gegenüber den Newcomern bei gleichen Kosten stark benachteiligt. Die Verdoppelung der ökologisch bewirtschafteten Flächen in Nordrhein-Westfalen seit 1991 hat bereits zu einem Preisverfall für organisch produziertes Getreide geführt. Über weitere Hilfen für die Bio-Bauern wird derzeit in Brüssel verhandelt.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 5. November 1993)

Neue Medikamente in der Onkologie

Ein neuer Kunde bot mir die Chance, die neuesten Entwicklungen in der Krebsmedizin ausführlich zu recherchieren und auf relativ breitem Raum darzustellen. So entstand 1993 im Kontakt mit annähernd 30 Gesprächspartnern diese Momentaufnahme zu einigen Wirkstoffen, die mittlerweile Therapiestandard sind – aber auch von mehreren Kandidaten, die letztendlich erfolglos blieben.

„Wir haben nichts in der Pipeline“, gesteht Hoechst-Pressesprecher Joachim Pietzsch ebenso freimütig wie seine Kollegin Christina Sehnert von der Bayer AG. Auch bei den Marburger Behringwerken hat man kein Pillen gegen den Krebs vorzuweisen; setzt stattdessen eher auf das boomende Feld der Immuntherapien.

Angesichts der Datenlage scheint Vorsicht angebracht, wenn von „Durchbrüchen in der Krebstherapie“ die Rede ist. Obwohl viele seltenere Krebsformen in den letzten 20 Jahren behandelbar wurden, blieb die Sterblichkeit bei den „großen Killern“ Magen-, Darm- Lungen- und Brustkrebs seit 1960 fast konstant.

Erst bei näherer Betrachtung hellt das düstere Bild sich auf. Nach langer Stagnation zeichnen sich zum Ende der neunziger Jahre endlich auch auf diesem Gebiet deutliche Verbesserungen ab. Die vielleicht wichtigste Neuentdeckung ist dabei das aus Eiben gewonnene Zytostatikum Taxol und dessen Derivat Taxotere.

Bei der Zellteilung bewirken sie die komplette Verknüpfung aller Tubulinmoleküle zu fadenförmigen Röhren, den Mikrotubuli. Das innere „Skelett“ der Zelle wird dadurch praktisch eingefroren. Nach der Verdopplung der Chromosomen können diese dann nicht mehr auf die Tochterzellen verteilt werden, da hierfür die Neubildung einer komplizierten Struktur aus Mikrotubuli erforderlich ist.

Wie wirksam Taxoide auch im Vergleich zu herkömmlichen Zytostatika sind, wurde auf dem diesjährigen Treffen der Amerikanischen Gesellschaft für Klinische Onkologie in Orlando, Florida, belegt. Dort präsentierte man  eine ganze Reihe von Studien der klinischen Phase II, wonach sowohl beim Nicht-kleinzelligen Lungenkrebs als auch beim Ovarialkarzinom ein teilweises Ansprechen in jedem dritten Fall verzeichnet wurde und zwar auch bei Patienten, bei denen das Standardchemotherapeutikum Cisplatin keine Wirkung zeigte.

„Sehr beeindruckende Zahlen“ gab es vor allem für die Therapie des Brustkrebses zu vermelden, sagte Dr. Ulrich Erfort, Produktmanager für Taxotere bei Rhone-Poulenc Rorer. „Die Remissionsraten sind teilweise sehr sehr gut, auch beim fortgeschrittenem Mammakarzinom liegen sie in manchen Studien bei 60 bis 70 Prozent“, unterstrich Erfort.

Einen weiterer Schritt vorwärts bei der Bekämpfung dieser zweithäufigsten Todesursache für Frauen überhaupt bedeutet der routinemäßige Einsatz des Hormonblockers Tamoxifen. Bereits vor zwei Jahren hatte eine Arbeitsgruppe um den Epidemiologen Richard Peto an der Universität Oxford 133 Studien an 75000 Patientinnen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Mit einem hochkomplexen und ungewöhnlichen statistischen Verfahren, der sogenannten Metaanalyse, gelang der Nachweis, daß die Zehn-Jahres-Überlebensrate von 71 auf 75 Prozent steigt, wenn die Behandlung in einem frühen klinischen Stadium gegonnen wird. Außerdem verhindert Tamoxifen bei vergleichsweise geringen Nebenwirkungen das Übergreifen des Krebses auf die gesunde Brust in 40 Prozent aller Patientinnen.

Die Blockade der Östrogene, die beim Tumorwachstum offensichtlich eine große Rolle spielen, wird durch diese Studie zu einem heißen Forschungsgebiet. Gegenüber der Chemotherapie ist die Hormonblockade nicht nur für die Patientinnen wesentlich schonender, die Erfolgsaussichten für eine solche Behandlung können auch durch den Nachweis der entsprechenden Hormonrezeptoren in der Brust besser eingeschätzt werden.

Sogar bei der Krebsvorbeugung könnten Hormone bald eine wichtige Rolle spielen: Eine große Untersuchung mit 16000 Teilnehmerinnen, die im vergangenen Jahr in den USA angelaufen ist, soll die Frage klären, ob Tamoxifen das Brustkrebsrisiko besonders gefährdeter Frauen senken kann.

Einen Schritt weiter geht die sogenannte Differenzierungstherapie, mit der Tumorzellen nicht abgetötet sondern „resozialisiert“ werden sollen. Auch hier spielen Hormone eine Rolle. So konnten Martin R. Schneider und Horst Michna von der Berliner Schering AG zusammen mit Wolfgang Kühnel und Yokishige Nishino vom Anatomischen Institut der Medizinischen Universität Lübeck zeigen, daß die Progesteronantagonisten Onapriston und ZK 112.993 bei experimentellen Mammakarzinomas den Tumorzellen auf die Sprünge helfen: Diese entwickelten sich im Tierversuch bei Ratten und Mäusen teilweise zu sekretorischen Zellen oder starben den „induzierten Zelltod“.

Auch klinische Studien liegen bereits vor. Bei mehreren hundert Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie (APL) genügte die Gabe des Vitamin-A-Derivates All-trans-Retinsäure, um die Zellen zu „überreden“, sich zu funktionsfähigen Granulozyten weiter zu entwickeln. Laut dem „Interpharma Forum“ konnten mit dieser Therapie in 85 Prozent der Patienten komplette Remissionen erreicht werden. Dr. Werner Bollag, der seit etwa fünf Jahren bei Hoffman-La Roche das Konzept einer „physiologischeren“ Krebstherapie verfolgt, hofft, daß durch diese Resultate „allmählich das Tor zu einer neuen, lang gesuchten Zukunft der Krebstherapie“ aufgehen könnte.

Ähnliches hatte man sich allerdings vor zehn Jahren auch von den Interferonen oder dem Tumor Nekrose Faktor erhofft, ohne daß sich die kühnen Prognosen bis heute bewahrheitet hätten. Beide Substanzen gehören zu der Gruppe der Zytokine, die als Botenstoffe des Immunsystems das komplexe Zusammenspiel dutzender verschiedener Typen von Abwehrzellen koordinieren. Eben diese Komplexität macht den Forschern zu schaffen. Durch die Gabe eines Zytokins wird oft eine ganze Kaskade weiterer Faktoren ausgelöst. Nicht nur die Abwehrzellen selbst, sondern auch das Zentrale Nervensystem und verschiedene innere Organe können dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden. In vielen Fällen besteht überdies keine direkte Beziehung mehr zwischen Dosis und Wirkung einzelner Substanzen.

Trotz dieser Probleme haben sich manche Zytokine einen Platz bei der Therapie – meist seltener – Krebsformen erkämpft. In klinischen Studien werden derzeit verschiedener Vertreter dieser Substanzgruppe untereinander oder mit der konventionellen Chemotherapie kombiniert. Eine „exponentielle Zunahme des Wissens“ über die Wirkung von Zytokinen im Reagenzglas sieht jedenfalls Professor Karl Welte von der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie der Medizinischen Hochschule Hannover. In der Praxis aber haben die Erfolge der jüngsten Zeit, etwa beim Nierenkarzinom oder beim schwarzen Hautkrebs, den Prozentsatz der Remissionen nur geringfügig erhöhen können.

Wesentlich überzeugender ist da schon der Einsatz einiger anderer Familienmitglieder der Zytokine, der haematopoetischen Wachstumsfaktoren. Sie können einen wichtigen Beitrag leisten, um die oft lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einer Chemotherapie in den Griff zu bekommen. Bereits zugelassen sind der Granulozyten-Kolonien stimulierenden Faktors (G-CSF) und des Granulozyten-Makrophagen-Kolonien stimulierenden Faktors (GM-CSF). Sie kurbeln die Produktion jener weißer Blutzellen an, die bei der Abwehr bakterieller Infektionen eine entscheidende Rolle spielen.

Professor Roland Mertelsmann hat die Behandlung mit den Bluthormonen G-CSF, GM-CSF und Interleukin-3 an der Universitätsklinik Freiburg weiter verbessert. Die Dauer der Abwehrschwäche konnte dadurch von etwa elf auf sechs Tage fast halbiert werden. Von neun auf drei Tage verkürzt wurde gar die Periode erhöhter Blutungsgefahr nach der Chemotherapie. Prinzipiell sollte es dank der Linderung der Nebenwirkungen auch möglich sein, die Dosierung bei der Chemotherapie zu erhöhen und somit die Heilungschancen der Patienten zu verbessern.

Auch die oberste Kommandeebene der Zellen, die DNA, wird mittlerweile ins Visier genommen. Einen indirekter Angriff auf die Struktur der Erbsubstanz ermöglicht die seit den sechziger Jahren bekannte Substanz Camptothecin (CPT). Sie hemmt die Topoisomerase I, ein Enzym, welches den DNA-Doppelstrang während des Ablesens der genetischen Information an einer Stelle auftrennt und anschließend wieder zusammenheftet. In Karzinomen des Darms, der Eierstöcke und der Speiseröhre sowie bei Lymphomen wurden erhöhte Topo-I Konzentrationen festgestellt, der Einsatz von CPT scheiterte jedoch zunächst an der enormen Toxizität des Naturstoffes.

Wie so oft könnten im Chemielabor entwickelte Analoga dieses Hindernis überwinden: Topodecan (TPT) und CPT-11 heißen die Kandidaten, die in Japan, den Vereinigten Staaten und Europa intensiv getestet werden. In klinischen Versuchen der Phase II zeigten sich ermutigende Ergebnisse unter anderem beim Lungenkrebs, wo 30 Prozent von 72 Patienten mit der nicht-kleinzelligen Form der Krankheit auf die Behandlung ansprachen. Beim kleinzelligen Lungenkrebs waren es sogar rund 40 Prozent in der Gruppe zuvor behandelter Patienten.

Die verwirrende Vielfalt neuer Arzneimittelkandidaten ruft bei Vertretern der Pharmaindustrie und bei Klinikern indes höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Während erstere meist eine Vielzahl von Gründen parat haben, warum gerade ihr Produkt besonders vielversprechend ist, wollen letztere sich nur höchst ungern festlegen. Die Tatsache, daß von einem guten Dutzend namhafter Onkologen kein einziger bereit war, gegenüber der Physis die Chancen einzelner Substanzen zu diskutieren, mag mit der kaum noch überschaubaren Zahl klinischer Studien und logisch erscheinender Ansätze zu tun haben. Das Zögern derjenigen, die jeden Tag Visite gehen, könnte aber auch ein deutlicher Hinweis darauf sein, daß schon zu viele todkranke Patienten in ihrer Hoffnung auf den großen Durchbruch im Kampf gegen den Krebs bitter enttäuscht wurden.

(Originalmanuskript eines Artikels für „Physis – Medizin und Naturwissenschaften“, erschienen in der Novemberausgabe 1993)

Eine Socke für die Gasleitung

Gewaltige Probleme bei der Umstellung der Gasversorgung sind für Berto Schnichels nichts Neues: Der Betriebsdirektor der Bonner Stadtwerke erinnert sich noch an den Beginn der sechziger Jahre: „Bei Goch am Niederrhein hatten sie damals so viele Lecks – da waren fast schon Gasfelder in der Straße.“ Keine Schlamperei am Bau, sondern die „einfache“ Umstellung der Versorgung von feuchtem Stadt- auf trockenes Erdgas hatte die Lecks hervorgerufen.

Kleine Ursache – große Wirkung: Weil jede Muffe im Netz mit Hanffasern abgedichtet worden war, gab es mit einem Mal reichlich Arbeit. Die Fasern, die von dem durchziehenden Stadtgas ständig  feuchtgehalten worden waren, hatten an Volumen verloren, sobald nur noch das trockene Erdgas durch die Leitungen strömte, und begannen, ihren Dienst zu versagen. Bei sechs Meter langen Rohrstücken mußte natürlich im gleichen Abstand mit Leckagen gerechnet werden. Gefahr drohte vor allem dort, wo das explosive Gas in Keller oder Postschächte hätte eindringen können.

Die Geschichte – von den Versorgungsunternehmen längst zu den Akten gelegt – wiederholt sich jetzt im östlichen Teil Deutschlands, wo zu DDR-Zeiten das auf der Grundlage von Braunkohle erzeugte Synthesegas verbrannt wurde. Zusätzlich zur Umstellung mußten die alten Rohre nach der Wende auch noch eine Druckanhebung von 11 auf 22 Millibar verkraften. Sie wurde erforderlich, um der wachsenden Nachfrage nach dem neuen, sauberen, Energieträger gerecht zu werden. Allein die Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG (VEW), die mit ihren Partnern 60 Prozent der Gasversorgung in der ehemaligen DDR abdecken, haben inzwischen 350000 Haushalte umgestellt und wollen bis Ende des Jahres weitere 300000 ans Netz anschließen.

Am gravierendsten ist das Problem in Berlin, wo „so etwa 17000 Leckstellen“ bis 1995 abgedichtet werden sollen. „Aber es waren auch schon ´mal mehr“, tröstet Jürgen Stur, Pressesprecher der Berliner Gaswerke. Immerhin wurden seit dem Fall der Mauer gut 5000 Löcher gestopft. Etwa zwei Drittel von insgesamt 6685 Kilometer Gasleitungen im Berliner Untergrund verlaufen im ehemaligen Westteil der Stadt und sind recht gut in Schuß. Dagegen finden sich in den östlichen Stadtteilen über 1200 Kilometer Gußrohre, die teilweise noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelegt wurden. Durch die Lecks können offensichtlich auch Wachstumsschäden an Straßenbäumen hervorgerufen werden. Rund 3000 Exemplare waren betroffen, durch die Sanierungsmaßnahmen sei jedoch eine „deutliche Entlastung“ erreicht worden.

Rund 700 Kilometer sind laut Stur noch zu sanieren; die Berliner hätten demnach allen Grund, sich auf umfangreiche Bauarbeiten samt zugehöriger Verkehrsstaus, Umleitungen, und lärmträchtiger Erdarbeiten gefaßt zu machen. Einem in Japan entwickelten Verfahren zur Schlauchauskleidung von Druckrohren haben es die gestreßten Großstadtbewohner nun zu verdanken, daß sich der Ärger in Grenzen hält.

Die Methode, mit der die Gasleitungen vor den in Japan häufigen Erdbeben geschützt werden sollten, ist das Resultat einer engen Zusammenarbeit zwischen der Tokyo Gas Company und dem Ashimori-Konzern. Beim sogenannten Paltem-Verfahren werden nicht nur die Nerven der Anwohner, sondern auch die öffentlichen Kassen geschont. Die vergleichsweise geringen Erdarbeiten machen die Methode zumindest in Großstädten und anderen verkehrsreichen Regionen zu einer preiswerten Alternative. Statt die Straße auf ganzer Länge aufzureißen und neue Rohre zu legen, müssen nämlich lediglich einige Kopflöcher geöffnet werden. Nach einer gründlichen Reinigung des zu sanierenden Leitungsabschnitts wird durch diese Öffnungen dann ein extrem belastbarer Gewebeschlauch aus Polyesterfasern unter Luftdruck in die alten Leitungen eingestülpt.

Dieser Kunststoffschlauch wurde zuvor mit einem Zweikomponentenkleber gefüllt und in einem Druckkessel auf eine Trommel gewickelt. Mit dem Einleiten von Druckluft wird der Schlauch dann umgestülpt wie eine alte Socke, wobei der Kleber an die Rohrwand gepreßt wird. Im nächsten Arbeitsschritt wird von einem mobilen Heißdampferzeuger produzierter Dampf in die Leitung geschickt, wodurch der Kleber innerhalb von zwei Stunden aushärtet. Schließlich müssen noch die zugeklebten Hausanschlüße durch einen videoüberwachten Roboter vom Rohr aus wieder aufgeschnitten werden. Der ganze Prozeß dauert etwa zwei bis drei Tage je Rohrabschnitt. Bei einer Zugfestigkeit des „Liners“ von 150 N/mm und einem Berstdruck von 5 bar sind die sanierten Leitungen dann auch gegen starke Beanspruchungen bestens gewappnet.

„Wir sind voll beschäftigt“, verkündet Dieter Hausdorf, Geschäftsführer der Kanal-Müller-Gruppe, die seit Juli des vergangenen Jahres mit dem Paltem-Verfahren arbeitet. Während damals vorwiegend im Raum Halle/Leipzig saniert wurde, hat man sich jetzt mit Dortmund erstmals auch einem Standort in den alten Ländern zugewandt. Dort sind die Leitungen zwar in der Regel in einem besseren Zustand, dennoch müssen auch die 227000 Kilometer „westdeutscher“ Rohre instandgehalten werden, deren mittlere Lebenserwartung etwa 80 Jahre beträgt. Die Kosten dafür beliefen sich nach Angaben des Bundesverbandes der deutschen Gas und Wasserwirtschaft im letzten Jahr auf 5,7 Milliarden Mark; bis 1995 rechnet man mit weiteren 17 Milliarden Mark, wobei für die neuen Länder noch keine Kostenschätzung vorliegt.

Nicht immer lohnt sich das Schlauchrelining, aber „je schwieriger die Umgebung, umso größer ist das Preisgefälle zwischen Auswechseln und Sanieren“, erklärt Hausdorf. Je nach Boden und Verkehrsverhältnissen muß für den Neubau einer Leitung mit 70 bis 300 Mark pro Meter gerechnet werden. Für eine Standardleitung von 150 Millimetern kostet das Paltem-Verfahren etwa 150 Mark je laufenden Meter, die Erdarbeiten schlagen hier nur mit durchschnittlich 25 Mark zu Buche. Begrenzt wird der Einsatz der Methode ebenso wie das verwandte Phoenix-Verfahren zum einen durch die Reduktion der Rohrkapazität als Folge des verringerten Durchmessers. Auch bei einer allzu hohen Zahl von Hausanschlüßen, die ja nachträglich wieder eröffnet werden müssen, kann die Rentabilitätsgrenze unterschritten werden. Außerdem werden parallel verlaufende Gas und Wasserleitungen aus Kostengründen oftmals gemeinsam erneuert.

Doch auch hier zeichnen sich Fortschritte ab: Weil das Verfahren prinzipiell auch auf die Sanierung von Wasserleitungen zu adaptieren wäre, blickt man bei der Kanal-Müller-Gruppe optimistisch in die Zukunft. Für den Praktiker Berto Schichels steht jedenfalls fest: „Das Folien-Relining ist heute sicherlich eines der besten Sanierungsverfahren“.

(geschrieben für die VDI-Nachrichten im Juni 1993. Erscheinungsdatum unbekannt.)

Genanalysen – Chancen und Risiken

Fluch und Segen zugleich birgt die Möglichkeit einer Gendiagnose, wie der Amerikaner Henry T. Lynch aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Der grauhaarige Wissenschaftler von der Creighton Universität im Bundesstaat Nebraska hat seine ganze Karriere der Untersuchung erblicher Krebserkrankungen gewidmet – eine besonders bösartige Form des Darmkrebses, das Lynch-Syndrom, trägt sogar seinen Namen.

Auf einem Fachkongreß in Bonn schilderte der Mediziner kürzlich die enormen Belastungen, unter denen die weiblichen Mitglieder einer Großfamilie aus Omaha zu leiden haben. Bei dieser Familie tritt eine aggressive, erbliche Krebsform seit Generationen mit erschreckender Häufigkeit auf. Jede zweite Frau in dieser Familie muß damit rechnen, daß sich in der Brust- oder in den Eierstöcken lebensbedrohliche Geschwüre bilden.

Ein molekularbiologisches Verfahren, das erst in den letzten Jahren entwickelt wurde, erlaubt es seit kurzem, die Frauen anhand ihrer Gene in zwei gleichgroße Gruppen zu trennen: Mitglieder der einen Gruppe werden von ihrer Angst erlöst; ihr Krebsrisiko ist nicht höher als das in der normalen Bevölkerung. Die Frauen der anderen Gruppe tragen dagegen mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein defektes Gen. „Im Prinzip können wir das zum Zeitpunkt der Geburt feststellen“, sagt Lynch, der selbst einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Methode geleistet hat.

Für Frauen in der zweiten Gruppe ist das  Risiko drastisch erhöht, schon in mittlerem Alter an dem erblichen Brust-Ovariar Krebs-Syndrom (HBOC) zu erkranken. Auch durch halbjährliche Untersuchungen der bedrohten Organe und selbst die vorsorgliche operative Entfernung der Eierstöcke kann die Gefahr lediglich verringert werden. Nachdem Lynch die Frauen in ihrer vertrauten Umgebung in persönlichen Gesprächen über ihre Lage aufgeklärt hatte, stellte er eine Frage, die mit zunehmender Verbreitung genanalytischer Verfahren auf immer mehr Menschen zukommen wird: „Wollen Sie wirklich wissen, ob Sie in 15, 20 oder 40 Jahren damit rechnen müssen, an einer möglicherweise unheilbaren, tödlichen Krankheit zu leiden?“

Nach einer dreiwöchigen Bedenkzeit und eingehender Beratung entschieden sich die meisten Frauen schließlich für den Gentest. Menschliche Dramen hätten sich abgespielt, als die Resultate bekannt gegeben wurden, erinnert sich Lynch. Dramatisch auch ein weiteres Ergebnis: Unter den Frauen, bei denen ein defektes Gen gefunden wurde, verlangte die Hälfte, sämtliche Eintragungen in den Krankenakten zu löschen.

„Die Versicherungen sind ganz wild auf diese Daten, weil sie die Menschen mit erhöhtem Risiko am liebsten ausschließen würden“, erläutert Lynch. Um ähnliche Machenschaften in Deutschland bereits im Keim zu ersticken, streben Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Fraktionen eine Ergänzung des Grundgesetzes an. Dort soll, gemäß einem Vorschlag der Verfassungskommission, in Artikel 74 die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen aufgenommen werden. Ein Gesetz zur Genomanalyse würde damit auch der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und hätte dann – im Gegensatz zu anderen gesundheitsrechtlichen Gesetzen – über die Ländergrenzen hinaus Gültigkeit.

Von einer bundeseinheitlichen Regelung erwartet die forschungspolitische Sprecherin der SPD, Edelgard Bulmahn zum Beispiel eine Garantie der „informationellen Selbstbestimmung“. Genetische Daten müßten demnach im Patienten-Arzt-Verhältnis verbleiben und dürften nicht an Dritte weitergegeben werden.

Nach Meinung von Kritikern wird es für solch eine Regelung höchste Zeit: Das „Human Genome Projekt“, mit dem in weltweiter Kooperation alle Erbanlagen des Menschen entschlüsselt werden sollen, schreitet schneller voran, als selbst Optimisten zu hoffen wagten. Schon Ende des nächsten Jahres könnten sämtliche geschätzt 75000 Gene des Homo sapiens kartiert sein (Anmerkung: Die Schätzung war viel zu hoch; derzeit geht man von ca. 21000 menschlichen Genen aus).

Die Versuchung, aufgrund der dann vorliegenden Daten, ungeborene Kinder, Ehepaare, Arbeitssuchende und Versicherungsnehmer anhand ihrer genetischen Daten zu beurteilen, wird auch unter Wissenschaftlern als ernsthafte Bedrohung empfunden. So befanden sich der amerikanische Gentherapie-Pionier French Anderson und sein Landsmann, der Gentechnik-Kritiker Jeremy Rifkin schon vor drei Jahren in seltener Übereinstimmung mit ihrer Forderung nach umfassendem Schutz für die genetischen Daten des Einzelnen.

Fundamentale ethische und soziale Probleme sieht auch der renommierte Molekularbiologe Benno Müller-Hill auf die Gesellschaft zukommen. In einem Beitrag für die britische Fachzeitschrift „Nature“ wagte der am Institut für Genetik der Universität zu Köln arbeitende Professor kürzlich einen Ausblick auf die nächsten dreißig Jahre. Er geht davon aus, daß Fortschritte in der Erkennung genetischer Eigenschaften am Anfang stehen, die Behandlung von Krankheiten dagegen möglicherweise um Jahrzehnte hinterher hinken wird.

Müller-Hill, der seine Kollegen neben der Arbeit als Grundlagenforscher auch mit Enthüllung über medizinische Verbrechen während des Dritten Reiches konfrontierte, lehnt Gentests keinesfalls grundsätzlich ab. „Wenn eine Person einen Gentest wünscht, dann soll sie den auch haben.“ Praktische Tests seinen aber sinnvoller. So wäre ein einfacher Rechentest bei der Aufnahme an der mathematischen Fakultät einer Universität sicherlich nützlicher als eine – derzeit noch nicht machbare – Genomanalyse. „Auch wenn es um den Arbeitsschutz geht, bin ich gegen erzwungene Gentests“, sagte Müller-Hill gegenüber den VDI-Nachrichten.  Allerdings räumt der Gen-Ethiker ein, daß Menschen, die ihrem Arbeitgeber oder der Versicherung freiwillig Daten präsentieren, welche auf ein geringes Risiko hinweisen, trotzdem im Vorteil wären.

Die Zuverlässigkeit derartiger Risikoanalysen wäre ohnehin begrenzt. Denn auch wenn ein Labortechniker in zehn Jahren möglicherweise in der Lage sein sollte, mit einem einfachen Test festzustellen, ob ein Embryo bereits eine Veranlagung für Krebs, Herzkrankheiten oder Fettleibigkeit hat – Zeitpunkt und Schweregrad der Erkrankung werden sich bestimmt nicht auf einer Farbskala ablesen lassen. Ein Großteil der menschlichen Eigenschaften scheint zudem von mehreren Genen gleichzeitig beeinflußt zu sein. Das, den Bundestag beratende Büro für Technikfolgen-Abschätzung weist darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Krankheit trotz einer „genetischen Veranlagung“ häufig nur 10 bis 20 Prozent beträgt. Die pränatale Diagnose solch schwer zu quantifizierender Eigenschaften wie Intelligenz und Toleranz muß deshalb nicht prinzipiell unmöglich sein. Derzeit werden bereits Untersuchungen an verschiedenen Hunderassen durchgeführt mit dem Ziel, den Einfluß der Erbsubstanz auf die Charaktereigenschaften der Tiere zu ermitteln.

Auch ohne derartige Forschungsprojekte werden die sozialen Spannungen zunehmen, glaubt Müller-Hill. „Man kann sich vorstellen, daß es zu Protestbewegungen derjenigen kommt, die beschlossen haben, ihre genetische Identität nicht preiszugeben. Es wird auch Fundamentalisten geben, die sich niemals testen lassen, weil sie selbst die Resultate nicht wissen wollen. All diese Gruppen werden schwere soziale Nachteile in Kauf nehmen müssen.“

Die Wende werde erst kommen, prophezeit der Genetiker, wenn die obersten Gerichte entscheiden, daß die „genetische Ungerechtigkeit“ ungeheure Ausmaße annommen hat. Dann werde man es Angestellten und Versicherungsnehmern erlauben, falsche Daten zu präsentieren, ohne sie dafür gesetzlich zu belangen. Ein ganz ähnliches Urteil fällte übrigens im Frühjahr das Bundesverfassungsgericht: Schwangere Frauen dürfen beim Einstellungsgespräch über ihren Zustand lügen, befanden Deutschlands oberste Richter.

Der „Schatten genetischer Ungerechtigkeit“ wird nach der Prognose Müller-Hills vor allem auf diejenigen fallen, die von einem der zahlreichen Leiden des zentralen Nervensystems befallen sind. Erbanlagen, die für Schizophrenie, manische Depression oder niedrige Intelligenz verantwortlich sein können, vermutet er in Europa und den Vereinigten Staaten bei mindestens zehn Prozent der Bevölkerung. „Es wird nun behauptet, diese Eigenschaften seien vererbt. Tatsächlich ist aber sowohl der Einfluß der Familie als auch die Beitrag von Umweltfaktoren noch unklar.“

Eine Öffentlichkeit, die davon überzeugt ist, daß etwa eine bestimmte Geisteskrankheit ausschließlich auf defekte Gene zurückzuführen ist, wird die Erforschung und Beseitigung möglicher anderer Ursachen daher vernachlässigen, befürchtet der Molekularbiologe. „Es ist so viel einfacher, eine Pille zu verschreiben, als die sozialen Zustände zu ändern, die für die Schwere der Symptome verantwortlich sind.“

Den Schluß, daß man auf das Wissen über „gute“ und „schlechte“ Gene verzichten könne, hält Müller-Hill aber für falsch. Die neuen Kenntnisse würden seiner Meinung nach lediglich die Realität sichtbar machen und dadurch die Ungerechtigkeit in der Welt betonen. Dadurch würden dann Gesetze erforderlich, um die genetisch Benachteiligten zu schützen. „Soziale Gerechtigkeit muß genetische Ungerechtigkeit kompensieren.“

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 8. Oktober 1993)

Weitere Infos / Quellen:

  1. Müller-Hill B. The shadow of genetic injustice. Nature. 1993 Apr 8;362(6420):491-2. doi: 10.1038/362491a0.
  2. Hennen, Leo; Petermann, Thomas; Schmitt, J.-J.: TA-Projekt „Genomanalyse“: Chancen und Risiken genetischer Diagnostik. Endbericht (kostenlos abrufbar hier).

Buchbesprechung: Die veränderte Zelle

Während in Deutschland die Behandlung „unheilbar“ krebskranker Menschen mit Hilfe der Immuntherapie noch in den Kinderschuhen steckt, verfügt der Amerikaner Steven Rosenberg über ausreichend Erfahrung, um ein ganzes Buch dem Thema zu widmen.

Nach gut zwanzig Jahren angewandter Spitzenforschung zog der vom US-Magazin Newsweek als „medizinischer Superstar“ bejubelte Rosenberg eine erste Bilanz: Seine Autobiographie „Die veränderte Zelle“ (in verschiedenen Ausgaben erhältlich bei Amazon), die der heute 53-jährige zusammen mit dem Journalisten John M. Barry verfaßt hat, liest sich über weite Strecken spannend wie ein Krimi.

Ein Rätsel, das ihm vor dreiundzwanzig Jahren der Patient James DeAngelo in der Notaufnahme eines Krankenhauses in West Roxburry aufgegeben hatte, sollte Rosenberg nicht mehr loslassen:

Zwölf Jahre nachdem der „hoffnungslose Fall“ von Magenkrebs mit einer Vielzahl von Tumoren und Metastasen zum Sterben nach Hause geschickt wurde, geriet DeAngelo im Sommer 1968 an den jungen Assistenzarzt Rosenberg. Der entfernte ihm in einem Routineeingriff die Gallenblase und stellte dabei mit ungläubigem Staunen fest, daß sämtliche Krebsgeschwüre spurlos verschwunden waren.

Niemand hatte den stoppelbärtigen Kriegsveteranen behandelt. Der Körper dieses Mannes hatte den Krebs besiegt. Unter den -zig Millionen Opfern der Krankheit waren damals weltweit ganze vier Fälle bekannt, in denen sich Magenkrebs von selbst zurückgebildet hatte.

„Wie?“ – so die Frage, die Rosenberg seither mit einer Energie verfolgt, die an Besessenheit grenzt. 

Versuche, bei denen Krebspatienten die Abwehrzellen von Schweinen injiziert wurden, muten aus heutiger Sicht bestenfalls naiv, schlimmstenfalls verantwortungslos an. Die oft in allen Details beschriebenen chirurgischen Eingriffe, die teilweise rabiaten Therapieversuche und die Erläuterung unzähliger Komplikationen und Nebenwirkungen könnten leicht den Eindruck eines Fanatikers erwecken, dem jedes Mittel recht ist.

Doch das Bild trügt. Dem hochbegabten Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie geht es um die Rettung von Menschenleben. Teilnahmebedingung für die klinischen Versuche am Nationalen Krebsinstitut in Maryland ist, daß sämtliche anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Rosenberg beschreibt seine Patienten einfühlsam als Mütter und Familienväter, mal mutig, mal angstvoll, hin und wieder spricht er auch von Freundschaft.

Umso mehr verbittert es ihn, wenn er nach zehnjährigem Ringen bilanzieren muß: „Dreißig Tote ohne Wenn und Aber. Ich hatte jeden einzelnen dieser Patienten gekannt, und zwar gut.“ Das war 1984, ein Jahr, in dem die Gentechnik Rosenbergs Arbeiten einen großen Schub verlieh.

Für seine Versuche benötigte der Chefchirurg einem vielversprechenden Botenstoff, Interleukin II (IL-2), der die oft zahnlosen Abwehrzellen des Immunsystems in gefährliche Killer verwandeln kann. Allerdings hatte der Weltkonzern Du Pont dreißig Mitarbeiter gebraucht, um in einjähriger Arbeit gerade 35 tausendstel Gramm aus der Milz von Mäusen herzustellen – viel zu wenig für all die Fragen, die in unzähligen Experimenten geklärt werden mußten.

Die kalifornische Firma Cetus dagegen übertrug die menschliche Erbinformation zur Herstellung des Interleukins auf Bakterienzellen. Innerhalb weniger Tage konnte man jetzt die Leistung des Pharmariesen Du Pont um ein Vielfaches übertreffen. Die Aktienkurse schossen in die Höhe, doch der Durchbruch im Kampf gegen den Krebs war nirgendwo in Sicht:

„Ich behandelte weiterhin Patienten mit IL-2. Sie starben.“ Hätte Rosenberg damals – nach 75 Toten – aufgegeben, wer hätte es ihm verdenken können?

Kurz danach bringt die Kombination von IL-2 und Killerzellen, die vom Patienten entnommen und im Labor vermehrt wurden, endlich den ersehnten Erfolg. „Es war als hätte mir jemand in den Magen getreten“, erinnert sich Rosenberg an den Anblick des Röntgenbildes, das am 29.1.85 eindeutig den Rückgang der Tumoren bei einer sterbenskranken Marinesoldatin dokumentierte. Sie erfreut sich noch heute bester Gesundheit.

Die nackten Zahlen mögen ernüchtern: Über 1200 Patienten – die meisten mit Nieren- oder Hautkrebs in einem weit fortgeschrittenen Stadium – erhielten bisher die von Rosenberg entwickelte Immuntherapie. Bei Drei von Vieren blieb die Behandlung ohne Wirkung. Teilerfolge in Form längerer Überlebenszeiten waren jedoch bei 15 Prozent der Patienten zu verbuchen; bei jedem zehnten verschwanden die Tumoren sogar vollständig.

„Vielleicht werde ich das Rätsel nie lösen“, räumt der 53-jährige am Ende seiner Autobiographie ein. Trotzdem: „Ein paar große Stücke des Puzzlespiels liegen jetzt an der richtigen Stelle. Und ich suche weiter.“

(gelesen und geschrieben für die „WELT“, Erscheinungsdatum unbekannt.)

Politiker misstrauen Gentests

Die Genomanalyse ermöglicht die Früherkennung von Krankheiten. Doch je weiter die menschlichen Gene entschlüsselt werden, desto größer ist auch die Möglichkeit, das neue Wissen zu mißbrauchen. Das ergab eine Studie im Auftrag des Büros der Technikfolgenabschätzung des Bundestages (TAB). Für Forschungspolitiker entsteht daraus die Forderung nach gesetzlichen Regelungen für die Nutzung der Genomanalyse.

Die immer schneller voranschreitende Entschlüsselung des menschlichen Erbmaterials wird nach Meinung der Experten eine ganze Reihe ethischer und rechtlicher Probleme mit sich bringen. Für den Einzelnen werde diese Entwicklung von größerem Einfluß sein als beispielsweise die Entdeckung der Kernspaltung, mußmaßte Professor Karl-Hans Laermann vor der Bonner Wissenschaftspressekonferenz. „Eine freiwillige Selbstbeschränkung reicht deshalb nicht aus – wir streben eine bundesweite Regelung an“, sagte der forschungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

Schon heute besteht die Möglichkeit, über 700 verschiedene Krankheiten durch einen Gentest festzustellen. Zum Teil handelt es sich dabei um Krankheiten mit tödlichem Ausgang, für die es noch keinerlei Therapie gibt.

In der TAB-Studie wird nicht nur der Trend erkennbar, die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnose immer mehr auszuschöpfen. Es zeichnet sich auch ab, daß unerwünschte Merkmale immer häufiger mit „krank“ gleichgesetzt werden. Edelgard Bulmahn, stellvertretende forschungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, verwies in diesem Zusammenhang auf eine Befragung von Schwangeren, die ergab, daß eine genetische Veranlagung des Embryos zur Fettleibigkeit für 18 % aller Frauen ein Grund zur Abtreibung wäre.

Um derartige Mißbräuche auszuschließen, forderte Frau Bulmahn, pränatale Genomanalysen nur in Ausnahmen zuzulassen, etwa dann, wenn es sich um schwerwiegende Krankheiten handelt, deren Erkennung eine Behandlung vor der Geburt ermöglicht. Ebenfalls erlaubt wäre ein Gentest zur Früherkennung schwerwiegender Krankheiten, die im Kindes-oder Jugendalter auftreten und nicht therapierbar sind. Ein entsprechender Indikationskatalog sollte von der ärztlichen Standesvertretung unter Beteiligung von Patienten-Selbsthilfegruppen erstellt werden, meinte die SPD-Abgeordnete.

Enge Grenzen müssen nach dem Willen aller Beteiligten auch bei den Versicherungsgesellschaften gezogen werden, die ein besonders großes Interesse daran haben, ihr Risiko durch den Ausschluß krankheitsgefährdeter Menschen zu minimieren, was in den USA schon heute der Fall ist. „Die exakte Kenntnis des individuellen Risikos ist mit dem Versicherungsgedanken der Solidargemeinschaft unvereinbar“, erklärte dazu Karl-Hans Laermann. Deshalb dürften genetische Analysen in diesem Zusammenhang nicht gefordert werden. Ob man sich mit diesen Vorstellungen auf EG-Ebene durchsetzen kann, wurde jedoch allgemein bezweifelt.

Am Arbeitsplatz soll eine Analyse des Erbguts nur dann möglich sein, wenn dadurch Risiken für den Arbeitnehmer vermieden werden. Beispiel: Für den Bäckerlehrling wäre es gesundheitsschädigend, wenn er seine Mehlstauballergie nicht rechtzeitig erkennt. Dem Arbeitgeber darf dagegen nach den Vorstellungen der Forschungspolitiker kein Anspruch auf die genetischen Daten seiner Angestellten gewährt werden.

Ergänzt werden soll der Schutz der persönlichen genetischen Daten durch das „Recht auf Wissen“. Demnach wird es dem Einzelnen prinzipiell erlaubt sein, einen Gentest in Anspruch zu nehmen, allerdings nur nach vorheriger Beratung durch einen Fachmann. Fraglich bleibt dann bloß, was ein gesunder junger Mensch macht, wenn er durch einen Test erfährt, daß er mit 40 an einer unheilbaren Krankheit leiden wird. Das ist die Kehrseite des Wissens.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 24. September 1993)

Neue Rezepte gegen die Fallsucht

Es kann jedem passieren, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort: Eine vorübergehende Geistesabwesenheit oder mitten im Satz das völlige Unvermögen, die eben noch präsenten Worte zu formulieren, zählen zu den vergleichsweise harmlosen Varianten epileptischer Anfälle.

Für Unbeteiligte oftmals erschreckend sind dagegen die von Medizinern als „Grand mal“ (französisch: Großes Übel) beschriebenen Erscheinungsformen: Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt es etwa zu einem plötzlichen Verkrampfen der Muskulatur – manchmal noch ein Schrei und die Betroffenen stürzen wie ein gefällter Baum zu Boden. Unfähig zu atmen bleiben sie mehrere Sekunden liegen, bis dann rhythmische Muskelzuckungen einsetzen, die zwei bis drei Minuten anhalten können. Rötlicher Schaum vor dem Mund, verstärkt noch das Entsetzen der Umstehenden, dabei hat sich der jetzt scheinbar tief schlafende Mensch während des Muskelkrampfes doch „nur“ auf die Zunge gebissen. Wenn dieser endlich erwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Um sich herum lauter verstörte Gesichter, hat er selbst oftmals Schwierigkeiten, das Geschehene zu begreifen.

Nicht selten wird auch sofort der Notarzt verständigt, was laut dem früheren Vorsitzenden des Kuratoriums Epilepsie, Jürgen Peiffer, „zwar verständlich, aber unnötig“ ist. Wichtig sei es vor allem, den „krampfenden“ Menschen vor Verletzungen durch die unkontrollierten Bewegungen zu schützen rät der ehemalige Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Tübingen. Peiffer wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß keiner vor solch einem Mißgeschick gefeit ist.

„Jedes menschliche Gehirn kann unter bestimmten Umständen mit einem epileptischen Anfall reagieren“, unterstreicht auch Peter Berlit von der Neurologischen Klinik am Essener Alfried Krupp Krankenhaus. Auf einem Journalistenseminar der Firma Wellcome, das kürzlich in München stattfand, hob Berlit hervor, daß etwa jeder Zwanzigste damit rechnen muß, einmal in seinem Leben einen mehr oder weniger stark ausgeprägten „Gelegenheitsanfall“ zu bekommen. Auslöser können so unterschiedliche Faktoren sein wie Schlafentzug, Sauerstoffmangel, Alkohol oder DrogenG, das Flimmern eines Fernsehapparates oder die rhythmischen Lichtblitze in einer Diskothek.

Von einer Epilepsie sprechen die Experten zwar erst dann, wenn die Anfälle sich wiederholen, dennoch geht man für die Bundesrepublik von 800000 Kranken aus – etwa ebenso viele, wie es Zuckerkranke gibt. Unter ihnen muß ein Drittel damit rechnen, mehr als einen Anfall pro Monat zu erleiden. Ein weiteres Drittel ist zwischen einem und zwölf Mal jährlich betroffen, das letzte Drittel seltener. Zwischen den Anfällen sind die Patienten geistig meist völlig störungsfrei und ohne sorgfältige Diagnose von gesunden Menschen nicht zu unterscheiden.

Trotz ihrer weiten Verbreitung wird die manchmal als „heimlich-unheimliche Krankheit“ titulierte Epilepsie in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Noch immer hält jeder vierte Deutsche die Epilepsie für eine Geisteskrankheit, fast ein Drittel gab in einer Umfrage sogar an, ihr Kind dürfe keinen Epilepsiekranken heiraten. Gerade Schulkinder haben unter solchen Einstellungen sehr zu leiden, wie Gerda Hefner, Psychiaterin an der Bonner Epileptologischen Klinik, zu berichten weiß. Sie sind dem Spott der Mitschüler ausgesetzt, wenn nach einem Anfall etwa eine Pfütze unter dem Stuhl zurückbleibt, als sichtbarer Beweis dafür, daß sie das Wasser nicht haben halten können.

Auch die gutgemeinten Bemühungen der Eltern oder Lebenspartner können Anfallskranken zu schaffen machen. Die übertriebene Fürsorge der Familie und die daraus erwachsende Abhängigkeit hinterläßt zwangsläufig ihre Spuren, auch wenn die Epilepsie im Laufe der Jahre kuriert werden kann. „Natürlich haben diese Menschen ein erhöhtes Risiko, aber man darf sie auch nicht zu sehr unter die Käseglocke setzen“, rät Gerda Hefner.

Zur sozialen Ausgrenzung, die in der Bundesrepublik laut Professor Heinz-Joachim Meenke viel stärker ausgeprägt ist, als in den Vereinigten Staaten oder den europäischen Nachbarländern, kommen noch eine Reihe handfester Nachteile hinzu. Meenke, der sich am Berliner Rudolf Virchow Klinikum immer wieder mit den psychosozialen Folgen der Krankheit auseinandersetzten muß, trifft häufig auf besorgte Patienten, die ihr Leiden aus Angst vor Entlassung gegenüber ihrem Arbeitgeber und den Kollegen verschweigen.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Abschluß privater Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen, denn die früher auch als „Fallsucht“ bezeichnete Krankheit erhöht das Risiko tödlicher Unfälle beträchtlich. Meist tritt eine Ausschlußklausel in Kraft, die alle Folgen der Epilepsie vom Versicherungsschutz ausnimmt, oder es werden erheblich höhere Prämien verlangt. Eine erhöhte Selbstmordrate unter Epileptikern kann als trauriger Beweis dafür gelten, daß ein Leben in ständiger Angst und die oft ablehnende Reaktion der Mitmenschen für viele zur unerträglichen Belastung wird.

Weniger dramatisch scheint dagegen das für alle Epileptiker geltende generelle Fahrverbot, doch wird auch diese Vorsichtsmaßnahme von vielen als beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Den Führerschein dürfen die Betroffenen erst wieder beantragen, wenn sie mindestens zwei Jahre anfallsfrei waren. Während der Sinn dieser Regelung von Ärzten und Patienten kaum in Frage gestellt wird, traf ein anderes Handicap auf weniger Verständnis: „Bis vor kurzem war die Verbeamtung von Anfallskranken grundsätzlich nicht möglich“, erläutert Meenke.

Die Krankheit mag unheimlich sein – unheilbar ist sie nicht. Gerade in den letzten Jahren wurde das Arsenal an Medikamenten, die gegen die zahlreichen Formen der Epilepsie zum Einsatz kommen, beträchtlich erweitert. Vigabatrin und Lamotrigin, Clobazam und Gabapentin, Oxacarbazepin, Felbamat und Topiramat heißen die Präparate, die in jüngster Zeit neu auf Markt kamen oder kurz vor der Zulassung stehen.

Den raschen Fortschritten in der Hirnforschung ist es größtenteils zu verdanken, daß derzeit rund 100 weitere Arzneimittelkandidaten in amerikanischen und europäischen Labors getestet werden. „Insgesamt eine Verbesserung der Therapie“ erwartet daher Christian E. Elger, Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn, für die nähere Zukunft. „Der große Durchbruch aber wird ausbleiben“, sagte Elger gegenüber der Ärztezeitung.

Trotz der vergleichsweise großen Zahl von Arzneimitteln gelingt es derzeit nur in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle, sämtliche Anfälle zu unterdrücken, so Stefan R.G. Stodieck von der Klinik für Neurologie der Universität Münster. Bei einem weiteren Viertel wird zwar die Zahl der Anfälle verringert; die psychologische Belastung aber bleibt. Außerdem leidet ein Drittel aller Patienten – auch derjenigen, bei denen sich keine Besserung zeigt – unter Arzneimittelnebenwirkungen, die laut Stodiek „zum Teil sehr massiv sein können“.

Da nicht jedes Medikament bei jeder Anfallsform hilft, wird die Suche nach der besten Arznei oftmals zu einem jahrelangen Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Es verwundert daher nicht, daß jeder dritte Patient seine verordneten Medikamente nur unregelmäßig einnimmt.

Stodiek ist sich mit seinen Kollegen dennoch einig, daß es viele Gründe für einen möglichst frühzeitigen Therapiebeginn gibt. Zum einen sinken die Erfolgschancen, je länger die Krankheit unbehandelt bleibt; zum anderen erhöht jeder Anfall die Wahrscheinlichkeit für den Nächsten. Warum das so ist, glaubt der Epileptologe mit neueren Erkenntnissen aus der Gehirnforschung erklären zu können:

Demnach handelt es sich bei der Epilepsie um spontane elektrische Entladungen größerer Gruppen von Nervenzellen (Neurone). Bei vielen Patienten werden offensichtlich immer die gleichen Nervenbahnen aktiviert, die sich dadurch einschleifen und – so die Theorie der Neurobiologen – immer leichter erregbar werden. Die Entladungen selbst kommen vermutlich zustande, weil sich ein Ungleichgewicht eingestellt hat zwischen einem anregenden Botenstoff – dem Glutamat und der aus dem Glutamat gebildeten Gamma-Aminobuttersäure (GABA), welche die Aufregung im Gehirn zu dämpfen vermag.

Das resultierende Dauerfeuer der Neurone kann von verschiedenen Regionen des Gehirns seinen Ausgang nehmen. Bei bestimmten Formen der Epilepsie, den sogenannten fokalen Anfällen, sind dann jeweils die Körperpartien oder -funktionen zuerst betroffen, die von der entsprechenden Hirnregion gesteuert werden. Beginnt solch ein fokaler Anfall beispielsweise mit einem Zucken des Mundwinkels oder rhythmischen Kaubewegungen gelingt es oftmals, die Störung einer eng umschriebenen Hirnregion zuzuschreiben. Bleibt die medikamentöse Behandlung erfolglos, so kann bei schweren Fällen ein chirurgischer Eingriff erwogen werden, bei dem das „epileptogene Areal“ entfernt wird, ohne daß es beim Patienten zu bleibenden Schäden kommt.

Drei Zentren für derartige Eingriffe gibt es in Deutschland: Neben Bonn und Bethel verfügt seit kurzem auch die Universität Erlangen-Nürnberg über ein Epilepsiezentrum der höchsten Leistungsstufe. Mit fünf Millionen Mark fördert dort das Bundesministerium für Gesundheit die Versorgung von Epilepsiepatienten, für die ein operativer Eingriff die einzige Chance auf ein normales Leben bedeutet.

Allerdings ist auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Den jährlich etwa 200 Operationen, die in Deutschland durchgeführt werden, stehen etwa 20000 Epileptiker gegenüber, die durch solch einen Eingriff geheilt werden könnten. Immerhin dauert die Vorbereitung eines Eingiffs rund drei Wochen, in denen der Patient rund um die Uhr überwacht werden muß. Anhand von Videoaufnahmen und der laufend aufgezeichneten Hirnstromkurven versuchen Neurologen und Neurochirurgen, Informatiker und Ingenieure, Physiker und Psychologen gemeinsam, den Krankheitsherd zu ermitteln.

Modernste Diagnosegeräte messen winzige Magnetfelder im Gehirn und erlauben eine dreidimensionale Darstellung der feinsten Strukturen. All der Aufwand dient letztlich dazu, das Risiko für den Patienten möglichst gering zu halten. In bis zu 85 Prozent aller Fälle führen diese Operationen am kompliziertesten Organ des Menschen zum Erfolg: Die Patienten werden auf Dauer von ihren Anfällen befreit.

Für die Zukunft träumt Stodiek jedoch von einem Verfahren, das auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag: Ein „Hirnschrittmacher“ soll mit kleinen Stromstößen den rechten Takt angeben, sobald die grauen Zellen aus dem Schritt geraten. Wie der „New Scientist“ vermeldet, ist ein erster Schritt in diese Richtung bereits gelungen:

Mit Elektroden, die im Nacken von Epilepsiepatienten angebracht wurden, stimulierte ein amerikanisch-europäisches Forscherteam in kurzen Abständen den Nervus vagus, einen der großen Nervenstränge, die vom Gehirn ausgehend die Arbeit der inneren Organe steuern.

Dazu implantierten die Ärzte bei 127 Patienten ein kleines Steuergerät auf der linken Brustseite unter der Haut. In etwa zehnminütigem Abstand schickte dieser Stimulator elektrische Reize an den Nervus vagus. Nach 18 Monaten zählten die Wissenschaftler im Durchschnitt nur noch halb so viele Anfälle wie zu Beginn der Behandlung.

Die Epilepsiekranken, bei denen Medikamente wirkungslos geblieben waren, mußten dabei als Nebenwirkung ein Kribbeln während der Stimulationen in Kauf nehmen, auch klagten manche über leichte Halsschmerzen. Mit einem über den Stimulator gehaltenen Magneten konnten die Patienten die elektrischen Reize auch selbst hervorrufen, was in einigen Fällen ausrichte, um eine sich anbahnende Attacke im Keim zu ersticken.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. September 1993)

Quellen:

  1. Journalistenseminar der Firma Wellcome in München, 1993
  2. Science: A stimulating way to reduce epileptic fits, von Anne Davies, New Scientist 31.7.1993.

Winterdepression: Johanniskraut könnte Lichttherapie verstärken

Bei der Therapie von Patienten mit saisonal abhängiger Depression (SAD) zeigt ein Johanniskraut (=Hypericum) -Extrakt eine gute Wirkung und Verträglichkeit, berichtete Professor Siegfried Kasper, Bonn. In der ersten kontrollierten Studie zur Wirkung des Johanniskraut-Extraktes bei diesem Krankheitsbild untersuchte Kasper 20 SAD-Patienten.

Gefragt wurde nicht nur nach der Wirkung des Hypericum-Extraktes, sondern auch danach, ob die Arznei den positiven Einfluß einer Lichttherapie zu potenzieren vermag. Alle Patienten erhielten über vier Wochen 900 mg Hypericum-Extrakt LI 160 (Jarsin®) täglich und randomisiert zusätzlich entweder therapeutisches Licht von 3000 Lux oder „Placebo-Licht“ von weniger als 300 Lux.

Die Lichttherapie wurde dabei täglich für die Dauer von zwei Stunden durchgeführt. Als wichtigster Parameter wurde die Veränderung des mittleren Hamilton-Gesamtscores bestimmt. Bei den Patienten mit Hypericum-Extrakt plus therapeutischem Licht sank er von 21,9 auf 6,1 Score-Einheiten, was einer Reduktion um 73 Prozent entspricht.

In der Gruppe mit Placebo-Licht sank der Gesamtscore ebenfalls; die Reduktion betrug hier 59 Prozent. Der deutlich positive Effekt einer Hypericum-Behandlung scheint also durch zusätzliche Lichttherapie verstärkt zu werden, wenn auch diese Aussage aufgrund der kleinen Patientenzahl nicht statistisch signifikant belegt werden konnte.

Hervorgehoben wurde von Kasper besonders die gute Verträglichkeit des Johanniskraut-Extraktes im Vergleich zu synthetischen Antidepressiva.

(erschienen als Teil eines, vom Hersteller Lichtwer finanzierten, Sonderberichtes für die Ärzte-Zeitung am 14. September 1993)

Quelle:

Symposium „Therapie mit pflanzlichen Antidepressiva. Forschungsergebnisse 1991 – 1993“, Düsseldorf

Schizophrenie: Minussymptomatik schwer zu behandeln

Neuentwickelte Medikamente zur Therapie der chronischen schizophrenen Minussymptomatik haben bisher nur zu „sehr bescheidenen“ Erfolgen geführt, wenn auch diese Präparate weniger unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen. Dies sagte Professor Hans-Jürgen Möller anläßlich des Symposiums „Fortschritte in der Diagnostik und Therapie schizophrener Minussymptomatik“ an der Psychiatrischen Klinik Bonn.

Dieser Symptombereich der Schizophrenie, der unter ande­rem mit Effektverarmung, ver­minderter Belastbarkeit und sozialem Rückzug einhergeht, hat auch heute noch eine be­sonders schlechte Prognose, berichtete der Klinikdirektor. Jeder zweite Patient tendiere zu ei­nem ungünstigen bis schlechten Verlauf.

Schwierig ist schon die Dia­gnose, vor allem wenn die Be­troffenen noch keine akute Krankheitsphase durchgemacht haben. Da sich Schizophrene im Gegensatz zu Depressiven sel­ten als krank einstufen, sind es meistens die Angehörigen, welche bei schweren Fällen auf die Minussymptomatik aufmerk­sam machen. Mit der kürzlich erfolgten Einrichtung einer Angehörigengruppe verfolgt man an der Bonner Klinik auch das Ziel, eine bessere Compliance zu erreichen.

Angesichts der Tatsache, daß von einem einprozentigen Lebenszeitrisiko zur Entwicklung einer Schizophrenie ausgegangen werden muß, stellt die Minussymptomatik auch ein gewaltiges sozioökonomisches Problem dar. Die Bettlägerigkeit der Patienten geht in den meisten Fällen mit Arbeitslosigkeit einher, sagte Gerd Laux, Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik Bonn. „Selbst kleine Fortschritte in der Therapie können bedeuten, daß die Betroffenen im Kreise ihrer Familie leben können und nicht hospitalisiert werden müssen“, begründete Laux die Forderung nach mehr Personal und verhaltenstherapeutischen Programmen.

(erschienen in der Ärzte-Zeitung am 14. September 1993)