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Vitaminpille gegen Mißbildungen?

Schon seit Jahren sind Wissenschaftler sicher: Die Einnahme des Vitamins Folsäure könnte die Zahl schwerer Geburtsfehler deutlich senken. Was aber nutzt Expertenwissen, wenn es die Hauptbetroffenen nicht erreicht?

Frauenärzte und Ernährungskundler sind sich einig: Wenn alle Frauen im gebärfähigen Alter täglich 0,3 Milligramm des wasserlöslichen Vitamins erhalten würden, ließen sich alleine in Deutschland jährlich mindestens 500 Fälle von „Neuralrohrdefekten“ vermeiden. Diese schweren Entwicklungsstörungen der Wirbelsäule und des Rückenmarkes treten beim Embryo zwischen dem 22. und dem 24. Tag einer Schwangerschaft auf – zu einem Zeitpunkt also, an dem die werdenden Mütter meist noch gar nicht wissen, daß sie in anderen Umständen sind.

In dieser Zeit ist der Bedarf an Folsäure besonders hoch, denn die Substanz wird vor allem für den Aufbau neuen Gewebes gebraucht. Aber nicht nur der wachsende Fetus, auch die Mutter benötigt das Vitamin, weil sich die Gebärmutter vergrößert, der Mutterkuchen wächst und die Blutmenge zunimmt.

Mangelt es dem weiblichen Körper in diesen Tagen an Folsäure, kann dies für das Neugeborene schlimme Folgen haben, zum Beispiel die Spina bifida („offenes Rückgrat“): Ein Teil des Rückenmarks ragt aus der Wirbelsäule heraus. Dies führt zu Lähmungen der unteren Körperpartie. Häufig geht die Spina bifida mit einem Wasserkopf und geistiger Behinderung einher.

Zusätzlich erhöht ein Folsäuremangel das Risiko für eine „Anencephalie“ mindestens auf das Doppelte. Den betroffenen Kindern fehlt ein Großteil des Gehirns; sie sterben nach wenigen Tagen im Krankenhaus.

Spätestens seit Anfang letzten Jahres weiß man mit Sicherheit, daß die rechtzeitige Einnahme von Folsäure derartige Tragödien in vielen Fällen verhindern könnte.

Eine ungarische Arbeitsgruppe um Dr. Andrew Czeizel machte zu diesem Zeitpunkt eine Studie an fast 5000 Schwangerschaften publik. Ziel war es zu überprüfen, ob die Einnahme von Vitaminen oder Spurenelementen die Embryonen vor Fehlbildungen im Mutterleib schützen kann. Die Hälfte der Frauen hatte schon vor der Empfängnis regelmäßig ein Vitaminpräparat mit Folsäure erhalten, die andere Hälfte nahm ein Gemisch verschiedener Spurenelemente zu sich. Mißbildungen waren in der Vitamingruppe wesentlich seltener als in der Vergleichsgruppe.

Für die Neuralrohrdefekte stellten die Wissenschaftler fest: Sechsmal wurden sie bei Gabe von Spurenelementen beobachtet, in der Folsäuregruppe gab es keinen einzigen Fall. Die Bilanz der Ungarn, die durch eine Vielzahl weiterer Untersuchungen gedeckt ist: „Alle Frauen, die eine Schwangerschaft planen, sollten Vitaminpräparate mit Folsäure einnehmen.“

Im September letzten Jahres machte das US-amerikanische Gesundheitsamt seine Empfehlung publik: 0,4 Milligramm (vier tausendstel Gramm) Folsäure täglich für alle Frauen im gebärfähigen Alter, etwa das Doppelte dessen, was mit der Nahrung aufgenommen wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von ähnlichen Werten aus; die Deutsche Gesellschaft für Ernährung schlägt 0,3 Milligramm vor.

Soviel Folsäure findet sich allenfalls in der Leber, doch rät das Berliner Bundesgesundheitsamt Schwangeren vom Verzehr dieses Organs ab, weil es als Speicher für eine ganze Reihe von Umweltgiften dient. Dagegen sind grünes Gemüse, Weizenkeime und Sojabohnen zu empfehlen, doch müßten hier relativ große Mengen verzehrt werden, um den Bedarf an Folsäure zu decken.

Für den Laien, der im Umgang mit Nährwerttabellen wenig geschult ist, bleibt oft nur der Griff zur „Vitaminpille“. Aufklärung tut not- und da haben sich die deutschen Behörden nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Zwar werden millionenschwere Anzeigenkampagnen gegen Drogenmißbrauch und zur Eindämmung der Aids-Epidemie geschaltet, die Werbung für eine gesundheitsbewußte Ernährung bleibt aber den Anbietern von Buttermilch und Diätmargarine überlassen.

„Wir leisten uns den Luxus, an mittlerweile sechs Universitäten in Deutschland Ernährungswissenschaftler auszubilden, aber es gibt keine Institution, die dieses Wissen irgendwie einsetzt, keine Instanz, die diese Experten an die Front bringt, um die erforderliche Aufklärung zu betreiben“, kritisiert Professor Klaus Pietrzik vom Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Bonn.

„Wenn es Wenigstens gelingen würde, Grundzusammenhänge größeren Teilen der Bevölkerung zu vermitteln, dann würden wir auch nicht mehr so viel Geld für ernährungsbedingte Krankheiten ausgeben müssen.“ Rund 100 Milliarden Mark und damit ein Drittel aller Ausgaben im Gesundheitswesen sind diesen ernährungsbedingten Krankheiten zuzuschreiben.

Lebensmittelzusätze, wie sie in den USA für die Folsäure bereits diskutiert werden, könnten nach Pietrziks Ansicht das Problem der mangelnden Aufklärung entschärfen. Doch dem stehen die bundesdeutschen Gesetze entgegen.

Böse Erinnerungen an die Hitler-Ara haben dazu geführt, daß eine „Zwangsmedikation“ der Bevölkerung praktisch ausgeschlossen ist. Um beispielsweise eine Liberalisierung des Vertriebs von jodiertem Speisesalz zu erreichen, waren jahrzehntelange Diskussionen zwischen Ärzten und Politikern vonnöten. Die Konsequenz dieser antiquierten Denkweise: Nach WHO-Definition ist die Bundesrepublik ein „mittelschweres Jodmangelgebiet“. Standhaft weigert man sich auch, dem Trinkwasser Fluor zuzusetzen, um der Karies vorzubeugen.

„Seit Jahren wird über eine Änderung des Gesetzes diskutiert, das ganze Ausland lacht sich kaputt“, klagt Pietrzik. Dem Bonner Mediziner mag es nicht einleuchten, daß Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel, Farbstoffe und Emulgatoren in Lebensmitteln mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden sind, während gleichzeitig weite Teile der Bevölkerung zu wenig Vitamine und Spurenstoffe erhalten.

Was die Folsäure anbelangt, bleibt es also zunächst bei der Empfehlung an alle Frauen, die einen Kinderwunsch haben, „auf eine ausreichende Folsäureversorgung zu achten“, oder, deutlicher formuliert: „Wenn die eine Pille abgesetzt wird, sollte die andere Pille eingenommen werden.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 3. Februar 1993)

Deutschland – Aussteigerland?

Mein 2. Fernsehbeitrag lief ebenfalls im ZDF. Das Thema war erneut das Gentechnikgesetz, diesmal gedacht als sogenannter „Einspieler“, der das Publikum auf die nachfolgende Diskussion im Magazin WISO einstimmen sollte. Auch hier musste ich mich damit behelfen, den Beitrag vom Fernseher abzufilmen…

Ein Gesetz gegen die Gentechnik

Zwei Jahre hatte ich als Redakteur in der Wissenschaftsredaktion der WELT gearbeitet; nun war es Zeit aufzubrechen und neue Ufer zu erkunden. Meinem ehemaligen Chefredakteur Manfred Schell habe ich die Eintrittskarte zum Fernsehen zu verdanken, sowie Bodo Hauser, der mir als absolutem Neuling vertraute und ein Top-Team zur Seite stellte. Gestaunt habe ich vor allem über den gewaltigen Aufwand und die vielen Spezialisten, die für solch einen Beitrag nötig waren. Da ich nur noch eine Videokassette behalten hatte und das Umwandeln mir zu aufwändig schien, habe ich es vom TV abgefilmt und bitte, den etwas unprofessionellen Clip zu entschuldigen…

 

AIDS-Konferenz: Düstere Bilanz

Die achte internationale Aidskonferenz ging heute in Amsterdam zu Ende. Über zehntausend Teilnehmer sind nun auf dem Heimweg, zurück in ihre High-Tech-Laboratorien, zurück auch in die Hospitäler, in denen ungezählte Aidskranke dahinsiechen. Sie sterben, während Presse, Funk und Fernsehen letzte Vorbereitungen treffen für die Olympischen Sommerspiele. Ab morgen wird das Ringen um Medaillen die Menschheit zwei Wochen lang beschäftigen.

In dieser Zeit werden sich wieder rund 200.000 Menschen mit dem tödlichen Immunschwächevirus infizieren, die weitaus meisten in Afrika und Asien. Sie teilen das Schicksal von gegenwärtig 13 Millionen, wenn man der neuesten Schätzung der Weltgesundheitsorganisation Glauben schenkt. Zahlenspiele. Werden es im Jahr 2000 „nur“ 38 Millionen sein? Oder wird die Zahl der zum Tode verurteilten die Hundert-Millionen-Marke überschreiten, wie Jonathan Mann befürchtet?

Eine „Wende im Kampf gegen Aids“ hatte sich der Kongreßvorsitzende von der sechstägigen Veranstaltung versprochen. Die nüchterne Bilanz der Experten hingegen lautet anders: Einen „Durchbruch“ im Kampf gegen die Seuche gab es jedenfalls nicht zu vermelden. Zwölf verschiedene Impfstoffe werden gegenwärtig an Menschen getestet, viele weitere stecken noch im Stadium des Tierversuchs. Bis die ersten Impfstoffkandidaten an einer größeren Zahl von Freiwilligen erprobt werden, werden weitere zwei bis drei Jahre verstreichen, erwartet Michael de Wilde, Forschungsdirektor eines großen Arzneimittelherstellers.

Die organisatorischen Vorbereitungen dafür müßten schon jetzt beginnen, um keine Zeit zu verschwenden, war in Amsterdam immer wieder zu hören. Pessimisten befürchten, daß nach Beginn dieser „Feldversuche“ mit jeweils 2000 bis 5000 Freiwilligen weitere fünf Jahre verstreichen. Diese Zeit wäre für eine gewissenhafte Auswertung der Daten nötig. Denn groß ist die Angst der Pharmakonzerne, einmal geweckte Erwartungen schließlich doch nicht erfüllen zu können.

Selbst wenn im Jahr 2000 ein Impfstoff zur Verfügung stehen würde, er wäre für die meisten Länder unbezahlbar. In Afrika etwa stehen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung pro Kopf und Jahr durchschnittlich drei Mark zur Verfügung. Niemand glaubt, daß es gelingen wird, einen Impfstoff zu entwickeln, der weniger als das Zehnfache kostet. Sicher, die Westeuropäer und die Amerikaner können sich das leisten, was aber geschieht mit dem Rest der Welt, wo schon jetzt neun von zehn Infizierten leben?

„Das ist dann ein politisches Problem“, sagt der Entdecker des Virus, Luc Montagnier vom Pariser Pasteur-Institut. Und wie diese Art von politischen Problemen gelöst werden, wissen wir ja alle.

Nicht viel anders sieht es bei der Entwicklung von Arzneimitteln aus. Hier versucht man die Vermehrung des Virus im Körper der Infizierten zu blockieren, eine Handvoll sündhaft teurer Substanzen stehen dafür zur Verfügung. Zweifellos verlängern Wirkstoffe wie AZT, DDI und DDE die Lebenserwartung der Infizierten, doch was für ein Leben ist das?

Kaum eine Krankheit ist grausamer als Aids. Nach der Infektion versteckt sich das Virus vor dem Zugriff des Immunsystems, kann zehn, 15 Jahre oder noch länger unbemerkt bleiben. Schließlich aber beginnt das Virus sich rapide zu vermehren, die körpereigene Abwehr bricht zusammen. Keiner weiß genau warum. Dann geht alles sehr schnell, die HIV-Infizierten sind zu Aidskranken geworden und den Angriffen zahlloser Pilze, Bakterien und Viren schutzlos ausgeliefert. Die Bekämpfung dieser Erreger kostet leicht mehrere zehntausend Mark im Jahr, wobei die Pflegekosten noch nicht einmal enthalten sind.

Die in Amsterdam zahlreich vertretenen Aktivisten machten Ihrem Zorn über die Preispolitik der Firmen Astra und Wellcome denn auch Luft. „Wir sterben, Ihr macht die Profite“, hallten die lautstarken Proteste durch die Kongreßhallen. Wer will es ihnen verdenken?

Eine absurde Situation: Noch nie hat man über einen Krankheitserreger so schnell so viel gelernt wie über das Aidsvirus. Erst zehn Jahre ist es her, daß der tödliche Erreger identifiziert wurde, heute werden weltweit Milliarden ausgegeben, suchen Zehntausende von Wissenschaftlern nach einer Lösung. Brillante Köpfe mit brillanten Ideen arbeiten Tag und Nacht um die Flut zu stoppen. Und doch scheint es, als sei der Damm schon gebrochen.

Die Forderung nach einem „Manhattan-Projekt der Aidsforschung“ wurde laut: Globale Zusammenarbeit der besten Forscher, möglicherweise in einem einzigen Zentrum. Man mag über den Sinn solch einer Maßnahme geteilter Meinung sein. „Beim Bau der Atombombe hat das geklappt“ so ein Delegierter und fügte frustriert hinzu: „aber damals ging es ja auch um die Vernichtung von Menschenleben“.

Noch einmal: Es gibt keinen Impfstoff und es gibt keine Pille gegen Aids. Jede Mark, die jetzt in Aufklärungskampagnen investiert wird, könnte zahlreiche Menschenleben retten, so die Rechnung der Experten. Hören will das allerdings keiner, bis zur Diagnose „Aids“. Dann ist es zu spät.

(Kommentar zur 8. Internationalen AIDS-Konferenz in Amsterdam. Gesprochen im Deutschlandfunk am 24. Juli 1992)

„AIDS-Impfstoff noch vor dem Jahr 2000“

Kurz vor der 8. Internationalen AIDS-Konferenz konnte ich in Paris am ehrwürdigen Institut Pasteur mit Luc Montagnier sprechen, der das Virus neun Jahre zuvor entdeckt hatte. Es ging um die Sicherheit der Bluttransfusionen und das Sexualverhalten junger Menschen, um die Hoffnung auf einen Impfstoff und die Rolle der Politik, aber auch um den Streit mit dem Amerikaner Robert Gallo und millionenschweren Verwertungsrechte…

Als Sie 1983 das Aids-Virus entdeckten, waren weltweit „nur“ 2500 Infektionen registriert. Nach den jüngsten Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind es jetzt bereits 13 Millionen, für das Jahr 2000 werden gar 38 Millionen HIV-Infizierte erwartet, davon 18 Millionen, bei denen die Krankheit ausgebrochen ist. Das würde bedeuten, daß jeder 200. Mensch betroffen wäre. Angesichts dieser Zahlen fragen viele, wer für diese Entwicklung verantwortlich ist. Handelt es sich bei der weltweiten AIDS-Epidemie nur um eine Laune der Natur? Oder haben die Wissenschaft, die Politiker, die Gesellschaft versagt?

Montagnier: Ich denke, daß in der Wissenschaft nichts schiefgelaufen ist. Obwohl der Fortschritt auf diesem Gebiet rasant ist, sind wir jedoch immer noch nicht schnell genug, um mit der Entwicklung der Seuche in der Dritten Welt Schritt zu halten.

Die Zahlen sind natürlich sehr alarmierend. Es muß aber auch gesagt werden, daß sie fast ausschließlich auf die heterosexuelle Übertragung in einigen Entwicklungsländern zurückzuführen sind. In den letzten fünf Jahren haben sich in Asien, vor allem in Indien und Thailand, neue Brennpunkte der Epidemie gebildet, ebenso in Südamerika. Das erklärt die erschreckend hohen Zahlen.

Ist denn die Wissenschaft völlig machtlos?

Montagnier: Unser Problem ist, daß wir mit der Geschwindigkeit der Epidemie in diesen Gebieten einfach nicht Schritt halten können. Es gibt wenig, was wir daran ändern können. Es stimmt zwar, daß die Forschung in den ersten drei Jahren nach der Isolierung des Aids-Virus sehr schnell vorangekommen ist – der Erreger wurde charakterisiert, seine Gene untersucht; wir haben einen Bluttest entwickelt und mit der Substanz AZT die ersten Therapieversuche gemacht. Jetzt sind wir auf der Suche nach einem Impfstoff.

Allerdings war es von Anfang an klar, daß die Entwicklung einer Vakzine schwierig sein würde. Der Grund dafür liegt darin, daß gegen diese Gruppe von Viren noch nie ein Impfstoff entwickelt worden ist. Außerdem mußten wir schon sehr früh erkennen, daß es viele verschiedene Varianten des Virus gibt.

Aber man liest doch immer wieder von Impfstoffen, die in Labors entwickelt werden.

Montagnier: Wir haben hier einige sehr wichtige Fortschritte gemacht. Mehrere Schimpansen, die wir mit HIV-1 infiziert haben, konnten bis zu einem gewissen Grade geschützt werden. Wir haben erstmals gezeigt, daß mit einem Impfstoff, der aus einem Eiweiß aus der Hülle des Virus besteht, Erfolge zu erzielen sind.

Einen hundertprozentigen Schutz des Menschen würde man damit aber noch nicht erreichen?

Montagnier: Nein.

Nun meinen einige Forscher, daß HIV nicht alleine für den Ausbruch der tödlichen Immunschwäche verantwortlich sei. Auch Sie reden von „Kofaktoren“, die dabei eine Rolle spielen könnten.

Montagnier: Ja, sie werden von uns auch „verstärkende Faktoren“ genannt. Wenn es sie wirklich gibt und sie bei vielen HIV-Infektionen eine Rolle spielen, dann müssen wir auch über die Produktion von Impfstoffen gegen die Kofaktoren nachdenken. Es wäre faszinierend, wenn sich dadurch eine Heilung oder gar Vorbeugung von Aids erreichen ließe.

Sie denken dabei an Mykoplasmen?

Montagnier: Ja, diese Bakterien, die oft unbemerkt in menschlichen Zellen leben, könnten ein Kofaktor sein. Aber auch Pneumocystis carinii, ein Bakterium, das Lungenentzündungen verursacht und bei Aids-Kranken häufig zum Tode führt.

Was weiß man darüber, wie HIV das Immunsystem schädigt?

Montagnier: Hier haben wir im letzten Jahr die wichtigsten Fortschritte gemacht. Wir arbeiten an einem Phänomen, das Apoptose genannt wird – der programmierte Zelltod. Es gelang uns zu zeigen, daß bei Infizierten viele weiße Blutzellen darauf programmiert sind, früher zu sterben, als es normalerweise der Fall ist. Wenn bestimmte Eiweiße aus der Hülle des Virus an diese Zellen binden, wird wahrscheinlich ein Signal erzeugt, daß die Zellen vorprogrammiert.

Beim Kontakt mit bestimmten körperfremden Stoffen, die von Bakterien oder Mykoplasmen kommen können, wird die Selbstzerstörung der weißen Blutzellen in Gang gesetzt – das Immunsystem bricht zusammen. Dies und andere Befunde deuten darauf hin, daß Aids auch eine Autoimmunkomponente hat.

Die fehlgeleitete körpereigene Abwehr schädigt sich also selbst. Aids ist demnach anders als „gewöhnliche“ Viruskrankheiten?

Montagnier: Ja, und diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung bei der Behandlung der Patienten. Das bedeutet nämlich, daß es nicht genügt, das Virus zu bekämpfen. Wenn Aids eine Autoimmunkrankheit ist, könnte es passieren, daß man das Virus erfolgreich bekämpft, und das Immunsystem wird trotzdem völlig zerstört. Diese neuen Vorstellungen sind sehr wichtig; und als einer der Pioniere auf diesem Gebiet bin ich froh, daß andere Forscher mittlerweile zum gleichen Ergebnis kommen.

Es gab eine Phase, in der die Aids-Forschung nur auf der Virologie basierte; mittlerweile betreibt man mehr Immunologie als Virologie; und das ist gut so, denn Aids ist beides: eine Viruskrankheit und eine Autoimmunkrankheit.

Wie wird man denn in Zukunft bei der Behandlung von Aids-Patienten verfahren?

Montagnier: Neben der Bekämpfung des Virus, der Kofaktoren und der Stärkung des Immunsystems durch die Gabe von Antikörpern gibt es noch eine weitere Überlegung: Man hofft, eine Technik einzusetzen, die in ähnlicher Form schon heute von dem Amerikaner Steve Rosenberg im Kampf gegen verschiedene Krebsformen erprobt wird.

Dazu müßte man Immunzellen des Patienten vermehren, indem man sie aus dem Blut herausfiltert und anschließend im Labor mit Wachstumsfaktoren stimuliert. Wir wissen, daß zytotoxische Lymphozyten – das sind weiße Blutzellen – solche Körperzellen angreifen, die das Virus in sich tragen. Diese Zellen könnte man zu Beginn einer Infektion isolieren, sie einfrieren und zu einem späteren Zeitpunkt, um ein Vielfaches vermehrt, wieder in die Blutbahn des Patienten spritzen.

Welche Rolle spielt denn bei diesen Überlegungen die Gentherapie?

Montagnier: Für die Zukunft wäre es denkbar, Lymphozyten durch eine Genmanipulation vor einer Infektion mit HIV zu schützen. Auf diese Weise könnte man die Immunzellen vielleicht auch vor der Zerstörung durch das fehlgeleitete Abwehrsystem des Körpers bewahren.

Die Anwendung der Gentechnik, die für solche Eingriffe notwendig wäre, ist in Deutschland stark umstritten. Ihre Befürworter dagegen behaupten, ohne Gentechnik sei es undenkbar, jemals einen Impfstoff gegen Aids zu entwickeln. Wenn Sie nun versuchen sollten, Ihre Arbeit nur mit den Methoden der Biochemie und der „klassischen“ Mikrobiologie fortzuführen, welche Auswirkungen hätte das?

Montagnier: Im Falle eines Impfstoffes ist es zutreffend, daß dieser letztlich auf der Molekularbiologie des Virus aufbaut. Ein Aids-Impfstoff wird wahrscheinlich auf der Analyse des Erbguts beruhen und auf „gentechnisch“ hergestellten Eiweißen. Es ist klar, daß die Gentechnik hilfreich war und für die Gewinnung eines Impfstoffes unentbehrlich ist.

Wann wird ein Impfstoff zur Verfügung stehen?

Montagnier: Ich zögere; hier ein Datum zu nennen, weil das sehr schwer vorherzusagen ist. Wenn ich mir aber anschaue, welche Fortschritte wir in den letzten zwei Jahren gemacht haben, dann halte ich es für vernünftig zu denken, daß wir noch vor dem Jahr 2000 einen Impfstoff haben werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß diese Vakzine bis dahin weltweit eingesetzt werden wird.

Die Entdeckerrechte von HIV waren jahrelang umstritten. Robert Gallo vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA hat ebenso wie Sie den Anspruch erhoben, HIV als erster entdeckt zu haben. Mittlerweile scheint klar, daß Sie und Ihre Kollegen vor zehn Jahren das Virus als erste isolierten. Das Virus, mit dem Gallo den Bluttest mitentwickelte, stammt eindeutig aus Ihrem Labor.

Montagnier: Ich glaube, vom wissenschaftlichen Standpunkt gibt es heute darüber keine Zweifel mehr. Eine andere Frage ist es allerdings – und das ist ein amerikanisches Problem-, ob Gallo wirklich eine „versehentliche Verseuchung“ in seinem Labor hatte. Er behauptet das. Oder haben sie die Namen auf den Proben absichtlich vertauscht? Diese Frage ist noch offen, derzeit laufen mehrere Untersuchungen. Es scheint klar, daß Gallo und seine Mitarbeiter im Laufe der Zeit widersprüchliche Angaben gemacht haben. Einmal sagten sie, daß es ihnen nicht gelang, unser Virus, das wir ihnen geschickt hatten, zu vermehren. Sie behaupteten, es wäre nutzlos in ihrem Kühlschrank gestanden. Jetzt ist offensichtlich, daß sie es doch häufig benutzt haben. Warum haben sie das verschwiegen?

Es geht bei dieser Auseinandersetzung ja nicht nur um Ruhm und Ehre, sondern auch um viel Geld. Schließlich beruht der Bluttest für HIV ebenfalls auf dem Virus, das Sie isoliert haben. Das Pasteur-Institut hat jetzt von den Amerikanern die Rückerstattung von 20 Millionen Dollar gefordert. Worum geht es bei diesem Streit?

Montagnier: Ich denke, mittlerweile ist es wissenschaftlich erwiesen, daß alle Bluttests für HIV-1, die weltweit vorgenommen werden, das gleiche Virus benutzen. Wir haben ihm unterschiedliche Namen gegeben, aber es handelt sich um das gleiche Virus, und Gallo hat dies auch anerkannt. Nun wird noch diskutiert, welchen Beitrag beide Labors für die Entwicklung des Bluttests geleistet haben. Ich denke noch immer, daß auch Gallos Labor einen Anteil hat. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß es sich dabei mehr um die Erweiterung und Bestätigung unserer Arbeit gehandelt hat und weniger um eine eigene Entwicklung.

Auf dieser Grundlage denke ich, daß Gallo und seine Kollegen noch immer das Recht haben, am wissenschaftlichen Ruhm ebenso teilzuhaben wie an den Patentrechten für den Bluttest. Umstritten ist aber weiterhin die Verteilung der Tantiemen. Da feststeht, daß die amerkanischen Firmen das Virus aus dem Pasteur-Institut nutzen, glauben wir Anspruch zu haben auf einen höheren Anteil. Gegenwärtig bekommt die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH die eine Hälfte der Einnahmen, das Pasteur-Institut die andere Hälfte. Ich glaube, wir sollten mehr bekommen. Das wird jetzt diskutiert, aber ich bin daran eigentlich nicht beteiligt.

Das Pasteur-Institut hat seine Patentansprüche aber lange vor dem NIH angemeldet, auch in den USA. Trotzdem bekamen zuerst die Amerikaner die Patentrechte zugesprochen, erst 1987 haben Sie dann den Kompromiß ausgehandelt. Warum haben Sie sich damals überhaupt darauf eingelassen?

Montagnier: Wir hätten mit einem Gerichtsverfahren von drei bis fünf Jahren Dauer rechnen müssen, bei dem wir viel Geld für die Rechtsanwälte hätten ausgeben müssen, ohne einen Pfennig Geld zu sehen. Der Kompromiß erlaubte es uns, wenigstens einen Anteil des Geldes sofort zu bekommen.

Für Ihr Institut bedeuten die Tantiemen aber eine wichtige Einnahmequelle.

Montagnier: Noch nicht. Erst im vergangenen Jahr hatten wir hier die ersten Gewinne, und es war nicht besonders viel Geld. Davor haben die Anwaltsgebühren alles aufgebraucht. Es stimmt aber, daß die Aids-Forschung dem Pasteur-Institut ordentlichen Profit gebracht hat, weil zu den Tantiemen ja noch die Lizenzgebühren kommen. Wie Sie wissen, haben wir beide Typen des Aids-Virus zuerst gefunden, HIV-1 und HIV-2. Viele Firmen, die Bluttests verkaufen, nutzen dabei Bestandteile beider Viren, und sie bezahlen dabei unser Institut für die Nutzung von HIV-2.

Welche Rolle spielte denn die Politik bei der Ausbreitung der Seuche? Trotz wiederholter Warnungen der Wissenschaftler wurden HIV-verseuchte Blutproben benutzt, nicht nur in den USA, sondern auch in Frankreich. Tausende haben sich deshalb infiziert, viele sind bereits gestorben. Wer ist schuld an dieser Tragödie?

Montagnier: Ursprünglich, im Jahre 1984/85, wurde die Ernsthaftigkeit der Lage unterschätzt. In Frankreich gab es 1983 nur eine Handvoll Menschen, denen das Problem überhaupt bewußt war, die saßen im Gesundheitsministerium. Zu diesem Zeitpunkt war uns Wissenschaftlern nicht wirklich klar, was es bedeutete, mit dem Virus infiziert zu sein. Der menschliche Körper bildet ja zunächst Antikörper gegen HIV, und einige Leute sagten uns: „Wenn jemand Antikörper hat, dann ist er vor der Krankheit geschützt.“ Zum damaligen Zeitpunkt war das schwer zu beantworten, denn bei vielen Viruskrankheiten ist das der Fall – wenn Sie Antikörper haben, sind Sie ein Leben lang geschützt. Als wir dann anhand der Antikörper nachwiesen, daß bereits jeder zweite Bluter mit dem Virus infiziert war, hieß es: „Natürlich haben sie Antikörper, darum sind sie auch geschützt.“ Man machte sich also zum einen keine großen Sorgen, auf der anderen Seite befürchtete man wohl eine Panik und eine Ausgrenzung der HIV-Infizierten, wenn wir Alarm schlagen würden. Also haben die Öffentlichkeit, die Medien und die Politiker den Ernst der Lage unterschätzt.

Wir waren zu wenige Forscher und Mediziner, und wir waren zu schwach, um unseren Standpunkt zu den Bluttransfusionen durchzusetzen. Heute ist es natürlich leicht zu sagen, daß jede Übertragung von HIV mit Blutkonserven oder Blutprodukten unterbunden werden muß. Vielleicht hätten wir stärker sein müssen. Aber Aids war damals auch ein politisches Problem, denn zu diesem Zeitpunkt war Aids eine Krankheit der Homosexuellen und der Fixer.

Ist der Vorwurf, daß die öffentliche Reaktion verzögert wurde, weil Aids eine „Schwulenkrankheit“ war, gerechtfertigt?

Montagnier: Ja, das war ganz sicher so.

Wie groß ist die Gefahr, sich heute noch bei einer Bluttransfusion mit HIV zu infizieren?

Montagnier: Es gibt immer noch einige Länder, etwa in Afrika, in denen Blutkonserven nicht sicher sind. Die Gefahr ist bekannt, trotzdem werden weiter wissentlich Transfusionen mit verseuchtem Blut vorgenommen. In den westlichen Industrieländern ist das mittlerweile völlig ausgeschlossen.

Bluttests messen die Antwort des Körpers auf die Infektion. Mit einer neuen Technik, der Polymerasekettenreaktion (PCR), ließe sich HIV direkt und möglicherweise früher nachweisen. Warum benutzt man nicht die bessere Technik?

Montagnier: Die PCR ist sehr teuer, sie kann nur von spezialisierten Labors durchgeführt werden, und sie ist manchmal zu empfindlich, so daß Menschen, die gar nicht infiziert sind, trotzdem als „Falsch-Positive“ identifiziert werden. Die Technik hat noch andere Nachteile, daher glaube ich nicht, daß PCR die beste Lösung ist.

Man sollte weiterhin das Blut auf Antikörper testen, die Spender aber zusätzlich einer detaillierten Befragung unterziehen, in der ermittelt wird, ob sie in den drei Monaten vor der Blutspende möglicherweise Kontakt mit HIV-infizierten Personen hatten. Als weitere Vorsichtsmaßnahme sollte man Bluttransfusionen auf die dringendsten Fälle beschränken.

Um das nochmals zu sagen: Das Risiko, bei einer Bluttransfusion mit dem Aids-Virus infiziert zu werden, ist gering. Es ist nicht gleich Null, aber es ist klein.

Sie haben kürzlich erklärt, daß nach Aids möglicherweise weitere, verheerende Krankheiten kommen werden. Brauchen wir ein Frühwarnsystem, um für die nächste Epidemie besser gewappnet zu sein?

Montagnier: Ich denke, Europa braucht solch eine Institution. Im Moment gibt es das noch nicht, nur einige Kontrollzentren auf nationaler Ebene. Wir sollten aber eine gemeinsame Einrichtung haben, welche Entstehung und Entwicklung von Krankheiten in ganz Europa ständig überwacht. Das kann ein zentrales Institut sein oder ein Netzwerk von Einzelzentren. Das ist wie mit dem Wetter oder der Flugüberwachung.

Könnte solch ein Netzwerk den Ausbruch weiterer Epidemien verhindern?

Montagnier: Nicht nur das. Man könnte auch Infektionen untersuchen, die im Gefolge der Aids-Epidemie auf uns zukommen. Die Tuberkulose beispielsweise kehrt im Gefolge von Aids zurück.

Wie steht es um die Finanzierung der Aids-Forschung? Die meisten Wissenschaftler beklagen zwar, daß nicht genug Geld zur Verfügung gestellt wird, es gibt aber auch einige Kritiker.

Montagnier: Nein, ich glaube nicht, daß zu viel Geld für die Aids-Forschung ausgegeben wird. Man muß bedenken, daß unsere Ergebnisse auch der Bekämpfung anderer Krankheiten zugutekommen, auch des Krebses. Auch für die Bekämpfung von Immun- und Autoimmunkrankheiten sind unsere Resultate wichtig. Ich bin daher strikt gegen eine Kürzung der Forschungsgelder. Im Gegenteil, wir brauchen in Zukunft mehr Geld, um die Entwicklung der Krankheit bei den Infizierten zu verfolgen.

Möglicherweise gibt es eine AIDS-Lobby – sagen wir lieber ein Establishment -, die eine sehr konservative Art der Forschung betreibt. Es bekommt nur für gewöhnliche Projekte Geld. Ich bin ein Gegner dieser Praxis, man sollte lieber mehr Geld für viele riskante Ideen ausgeben. Dafür sind wir aber auf Spenden angewiesen. Das ist ein Problem, denn in Frankreich kommen auf diese Weise jährlich gerade 20 Millionen Franc zusammen. Im Verhältnis zu den 700 Millionen Franc für die Krebsforschung ist das gar nichts. Der Grund: Die Leute denken bei Aids immer noch an eine Krankheit Homosexueller. Das müssen wir ändern, und darum bemühen wir uns.

Noch vor wenigen Jahren hatten die Menschen große Angst, sich mit HIV zu infizieren. Jetzt hat das nachgelassen, in Deutschland wird die Bedrohung kaum mehr ernst genommen.

Montagnier: Wir müssen mehr Geld für Aufklärungskampagnen ausgeben, und zwar kontinuierlich. Dadurch läßt sich die Ausbreitung der Seuche zwar nicht vollständig stoppen, aber wir können einige Leben retten; vielleicht die Leben von jungen Menschen. Sie fühlen sich nicht bedroht, aber sie sind es.

Sexuelle Freizügigkeit ist bei jeder Art von Geschlechtskrankheit ein Risikofaktor. Wir wissen, daß Geschlechtskrankheiten bei Jungen und Mädchen sehr häufig sind. Natürlich spielt die Erziehung eine große Rolle, wenn es darum geht, das Sexualverhalten zu ändern. Das ist eine langwierige Anstrengung, aber die Sitten verändern sich eben nicht so schnell.

Für junge Leute ist es natürlich, Sex mit mehreren Partnern zu haben. Es ist nicht in, abstinent zu leben, Jungfrau zu bleiben oder nur einen Partner zu haben. Diese Einstellung müssen wir ändern, aber das wird einige Zeit dauern.

Es scheint, daß die Menschen zu Lebzeiten von Louis Pasteur mehr über Hygiene wußten als heute.

Montagnier: Ja, es herrscht ein falsches Gefühl der Sicherheit. Grundprinzipien der Hygiene gehen heute verloren. Selbst in manchen Kliniken Osteuropas werden elementare Regeln verletzt, manche Leute benutzen dort noch nicht einmal sterilisierte Spritzen. Wir müssen die Menschen wieder zu mehr Hygiene erziehen, auch auf sexueller Ebene.

(erschienen in „DIE WELT“ am 24. Juli 1992)

Was wurde daraus? Bekanntlich gibt es auch im Jahr 2020 noch keinen Impfstoff gegen das AIDS-Virus HIV. Ganz offensichtlich sind nicht alle Krankheitserreger gleich gut zu bekämpfen, und im Rückblick hatten die Skeptiker recht, die darauf hingewiesen haben, dass ein Virus, welches das Immunsystem befällt, eine besondere Herausforderung sein würde. Dennoch gab es in den Jahrzehnten nach der Entdeckung des Virus atemberaubende Fortschritte bei der Therapie, sodass die Krankheit inzwischen mit einer Reihe von Medikamenten in Schach gehalten werden kann – und zwar auch zu bezahlbaren Preisen in vielen Entwicklungsländern. Dass Montagnier neuerdings „umstrittene Positionen“ vertritt, wie die Wikipedia anmerkt, hat er mit einigen weiteren Nobelpreisträgern gemeinsam. Vielleicht ist das ja eine der Nebenwirkungen bei hochintelligenten Menschen, die neue Ideen entwickeln, um schwierige Probleme zu lösen 😉

Schockierend hohe Zahl von Abtreibungen

Jährlich werden weltweit zwischen 36 und 53 Millionen Abtreibungen vorgenommen, bis zu 22 Millionen davon heimlich. Das entspricht 150.000 Abtreibungen täglich. Jeder dritte Schwangerschaftsabbruch findet dabei unter unsicheren Verhältnissen statt, jeden Tag bezahlen rund 500 Frauen diese riskanten Eingriffe mit ihrem Leben.

In einer jetzt veröffentlichten Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zum Thema Geburtenkontrolle wird die Zahl der Frauen, die jährlich an Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben, auf über 500.000 geschätzt. Etwa 300 Millionen Paare, die keine weiteren Kinder haben möchten, verfügen laut Studie über keinerlei Möglichkeiten zur Familienplanung. Dem stehen weltweit 60 Millionen unfruchtbare Paare gegenüber.

Erstaunlicherweise sind die meisten Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, verheiratet oder haben einen festen Partner sowie mehrere Kinder. Ebenfalls überraschend für die Experten war die Tatsache, daß in Ländern mit liberaler Gesetzgebung Abtreibungen nicht häufiger sind als in den 52 Nationen, die als einzige Indikation eine Gefährdung des Lebens der Mutter gelten lassen.

Der Bericht „Reproductive Health: A Key to a Brighter Future“ bilanziert die Resultate 20jähriger Anstrengungen der WHO auf dem Gebiet der menschlichen Fortpflanzung. Trotz ständig wachsender Weltbevölkerung gibt es auch Positives zu vermelden. So fiel die „Fruchtbarkeitsrate“, also die durchschnittliche Zahl der Kinder, für Frauen in den Entwicklungsländern in den letzten 25 Jahren von 6,1 auf 3,9.

Erfolge waren vor allem in Ostasien zu verzeichnen, wo sich mittlerweile zwei von drei Paaren um Geburtenkontrolle bemühen. WHO-Generaldirektor Hiroshi Nakajima macht dafür die bessere Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln verantwortlich. Dagegen führt die Familienplanung in Afrika noch immer ein Schattendasein, jede Frau gebärt dort im Mittel sechs Kinder.

Insgesamt betreibt in der Dritten Welt mittlerweile jede zweite Frau im gebährfähigen Alter irgendeine Form der Familienplanung gegenüber nur jeder zwölften im Jahr 1970. Den größten Anteil nimmt die Sterilisierung der Frau ein, gefolgt von Spiralen und Pessaren, der Pille, Kondomen und der Sterilisierung des Mannes. „Dennoch fehlt es noch immer an sicheren, wirksamen und akzeptablen Methoden zur Familienplanung für eine wachsende Erdbevölkerung“, bilanzierte Dr. Mahmoud Fathalla, Direktor des WHO-Programmes und einer der Autoren des Berichts.

(erschienen in „DIE WELT“ am 8. Juli 1992)

Wie Japan seine Umwelt schützt

Seveso, Bhopal, Tschernobyl – in Japan heißt das Synonym für Umweltkatastrophe Minamata. In den frühen fünfziger Jahren starben in der gleichnamigen Bucht vor dem Distrikt Kumamoto erst die Fische, dann die Katzen. Die Warnzeichen blieben unbeachtet; erst Jahre darauf erkrankten die ersten Menschen. „Hirnschäden unbekannter Herkunft“ lautete die Diagnose; schockierende Bilder gingen um die Welt.

Erst 1968, also zwölf Jahre nach dem Auftreten der ersten Fälle, gab die Regierung offiziell zu Protokoll, daß es sich bei der Minamata-Krankheit um eine schwerwiegende Quecksilbervergiftung handelt, hervorgerufen durch die Abwässer einer nahegelegenen Chemiefabrik.

Die Tatsache, daß Japan mit seinen 120 Millionen Einwohnern heute auf dem Gebiet des Umweltschutzes beträchtliche Erfolge vorzuweisen hat, mag für die 2900 anerkannten langzeitgeschädigten Anwohner von Minamata nur ein kleiner Trost sein. Dennoch steht fest: Im Land der aufgehenden Sonne wird der Himmel nur noch in seltenen Ausnahmen von Schmutzwolken verschleiert, die großen Umweltskandale sind Geschichte. Wie kein anderes Land hat Japan es verstanden, seit den siebziger Jahren das Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch zu entkoppeln.

Der Schadstoffausstoß für die weitaus meisten Umweltgifte konnte drastisch reduziert werden, gleichzeitig erklommen die einheimischen Multis Spitzenpositionen im internationalen Wettbewerb. Im Großraum Tokyo leben fast 30 Millionen Einwohner auf engstem Raum. Nirgendwo sonst verursachen so viele Menschen so wenige Umweltschäden. Meßbar sind diese Erfolge nicht zuletzt an der Lebenserwartung: Für Männer liegt sie bei  76, für Frauen gar bei 82 Jahren, in Deutschland sind es jeweils vier Jahre weniger.

Die Zahlen sprechen für sich: Heute verbraucht der Durchschnittsjapaner nicht einmal die Hälfte der Energie, die ein Amerikaner benötigt; sein Durchschnittseinkommen ist aber deutlich höher. Unter allen Industrienationen erwirtschaftet Japan am meisten Güter aus jedem verbrauchten Liter Öl. Kohle- und Ölkraftwerke, von denen das rohstoffarme Land nach wie vor den Großteil seiner Energie bezieht, waren ebenso wie die Chemiekonzerne gezwungen worden, strenge Auflagen einzuhalten.

Der Antrieb für die japanische Industrie kommt dabei weniger durch die Angst vor Bußgeldern zustande, obwohl auch dies in seltenen Fällen vorkommt. Ein Sprecher des Umweltministeriums erklärte auf eine entsprechende Nachfrage lächelnd: „Sie verlieren ihr Gesicht, wenn sie vor Gericht gestellt werden – und das genügt.“

Doch auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt. Während in Deutschland und den Vereinigten Staaten jeweils über 500 Substanzen, die als gefährlich eingestuft werden, strengen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen, sind es in Japan gerade zehn. Was das bedeutet, erklärte Dr. Masatoshi Morita, einer der führenden Wissenschaftler am Nationalen Zentrum für Umweltstudien: „Wenn man in Japan erst einmal die Voraussetzungen geschaffen hat, um die Umwelt nach Dioxinen abzusuchen, sind wir um ein Problem reicher.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 3. Juli 1992. Die mehrtägige Informationsreise erfolgte auf Einladung und auf Kosten der japanischen Regierung.)

Wie giftig ist PVC?

Ein Verbot des chlorhaltigen Kunststoffes Polyvinylchlorid (PVC) fordert die Umweltschutzorganisation Greenpeace. Die zur Herstellung nötige Spaltung des Kochsalzes in Chlor und Natrium sei „die zweite Todsünde der Menschheit“. Als „organisierte Vergiftung“ wird gar die gesamte Chlorchemie angeprangert.

Ganz anderer Ansicht sind die „chlorreichen sieben“ Hauptproduzenten des Kunststoffes, die sich in Deutschland zur Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt (AGPU) zusammengeschlossen haben. Eine „infame Verleumdung“ nennt ihr Vorsitzender Dr. Manfred Michel die Greenpeace-Kampagne. „Kochsalz enthält wie PVC – hochtoxisches Chlor, und wenn Sie davon nicht mindestens sieben Gramm täglich zu sich nehmen, können Sie nicht überleben.“

Derart schrille Töne lassen den Verbraucher verwirrt zurück. Einer millionenschweren Kampagne der deutschen PVC-Hersteller BASF, Buna und Hoechst, Hülls, ICI, Solvay und Wacker-Chemie steht jetzt eine – von Greenpeace in Auftrag gegebene – Studie gegenüber, die das PVC-Recycling als „Öko-Lüge“ brandmarkt.

Tatsache ist: Die Bundesbürger sind Weltmeister im Verbrauch von PCV. Als Verpackung, Fensterrahmen, Fußböden, Rohre und Kabel kommen jährlich 1,6 Millionen Tonnen in ihre Wohnstuben, ein Pro-Kopf- Verbrauch von 20 Kilogramm. Doch schon bei der Frage, ob die Produktion des vielseitigen Kunststoffes eine nennenswerte Umweltbelastung bedeutet, scheiden sich die Geister.

Bei der Synthese werden Vinylchlorid-Moleküle (VC) zu langen Ketten verknüpft – dem Polyvinylchlorid. Daß VC-Moleküle Krebs erregen, wird von den Herstellern nicht bestritten. Eine Studie an Beschäftigten der VC verarbeitenden Industrie hat ein vermehrtes Auftreten von Leberkrebs nachgewiesen. Dazu erklärte Dr. Reinhard Saffert von Solvay vor Journalisten in Berlin: „Daß die Chemikalie Krebs auslöst, wissen wir selbst erst seit ein paar Jahren.“

Allerdings sei die sichere Handhabung der Substanz für Techniker heute kein Problem mehr. Saffert wies darauf hin, daß das Endprodukt PVC völlig andere chemische Eigenschaften hat als VC-Monomere. Mit üblichen Methoden sei eine Freisetzung aus Verpackungen nicht nachweisbar. Auch das Fraunhofer-Institut in Braunschweig scheiterte daran, eine VC-Freisetzung aus Tapeten dingfest zu machen. Für den Verbraucher bestehe deshalb keine Gefahr.

PVC besteht allerdings nicht nur aus verknüpften Vinylchloridmolekülen: Eine Reihe von Hilfsstoffen sorgt dafür, daß die Eigenschaften des fertigen Kunststoffes den Anforderungen der Verbraucher gerecht werden. Im Extrem erreichen die Stabilisatoren, Weichmacher, Füll- und Farbstoffe einen Anteil von 50 Prozent. Ihr Anteil ist zwar rückläufig, im Falle des Schwermetalls Cadmium kommen aber jährlich noch immer 270 Tonnen zusammen. Auch 10.000 Tonnen Blei werden pro Jahr für die Herstellung von PVC benötigt.

Schließlich fällt bei Chlorgewinnung noch das hochgiftige Quecksilber an. Hier gibt es Fortschritte: Während 1972 noch 64 Gramm Quecksilber je produzierter Tonne Chlor in die Umwelt abgelassen wurden, waren es 1986 nur noch 2,5 Gramm. Damit verursacht die PVC-Produktion nur noch ein Hundertstel des Quecksilberausstoßes der deutschen Kohlekraftwerke. Würden die „chlorreichen Sieben“ jedoch ihre Produktion auf das im Ausland verbreitete Membranverfahren umstellen, ließe sich das Schwermetall ganz vermeiden.

Ob PVC der Umwelt mehr schadet als andere Stoffe, ließe sich möglicherweise durch eine „Ökobilanz“ klären. Für diese Kosten-Nutzen-Rechnung werden die Gefährdung der Gesundheit, Energie- und Rohstoffverbrauch, Haltbarkeit, Wiederverwertung und andere Faktoren herangezogen. Allerdings ist die Aussagekraft solcher Bilanzen bei Experten umstritten. Studien des Instituts für Chemie und Technik in Wien, des Umweltzentrums in Leiden und des Schweizer Experten Dr. Werner Thalmann-Graf zusammen mit dem Dachverband der europäischen Verpackungsindustrie sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. In allen drei Analysen lag PVC vor den Konkurrenten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 19. Juni 1992)

Umweltpolitik: Viele Ideen, wenig Action

Eines der Hauptthemen des Umweltgipfels in Rio ist die Bedrohung der Menschheit durch die von Wissenschaftlern vorhergesagte globale Erwärmung. Weniger häufig wird darüber gesprochen, daß die gleichen Experten auch sehr konkrete Vorschläge unterbreitet haben, wie das Problem am besten anzugehen sei. Für die Bundesrepublik, die in den Augen vieler Entwicklungsländer eine Vorreiter-Rolle hat, gibt es sogar ein „nationales CO2-Minderungsprogramm zum Klimaschutz“.

Das Programm, beschlossen vom Kabinett am 7. November 1990, umfaßt elf Punkte und soll sicherstellen, daß Deutschland seine öffentliche Verpflichtung erfüllt, den Kohlendioxid-Ausstoß bis zum Jahr 2005 um mindestens ein Viertel zu reduzieren. Umweltminister Klaus Töpfer damals: „Mit dem heutigen Beschluß hat die Bundesregierung bewiesen, wie ernst sie die globale Klimagefährdung nimmt.“

Aber noch immer fehlen die unter Punkt 1 der Vorlage vorgeschlagenen „ökonomischen Instrumente“ (sprich Klimasteuern). Die geplante Novelle des Energiewirtschaftgesetzes steht ebenso aus wie die beschlossenen Zusätze zu den Verordnungen über Klein- und Großfeuerungsanlagen, über Wärmeschutz und Heizungsanlagen.

Zwar hat die deutsche Automobilindustrie sich freiwillig bereiterklärt, den Energieverbrauch ihrer Fahrzeuge deutlich zu senken. Einstweilen haben die Konkurrenten aus Japan, Frankreich und Italien aber hier die Nase vorn. Die – ebenfalls 1990 beschlossene – Einführung einer schadstoffbezogenen Fahrzeugsteuer läßt noch immer auf sich warten.

Ohnehin hat das CO2-Minderungsprogramm nur einen kleinen Bruchteil dessen berücksichtigt, was die Experten an Problemlösungen anzubieten haben: Die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ hatte bereits vor zwei Jahren auf 9173 Seiten dargestellt, was machbar wäre: Sie wertete 150 Studien aus, die alle klimarelevanten Fragen der Energienutzung untersuchen. Seitdem steht das zehnbändige Werk, das nach den Worten seiner Herausgeber die „Klimapolitik der nächsten Jahrzehnte“ bestimmen sollte, in den Bibliotheken.

Eine neue Enquete-Kommission („Schutz der Erdatmosphäre“) hat die Arbeit ihrer Vorgänger fortgesetzt. In dem gerade veröffentlichten Bericht wird dem Bundestag und der Bundesregierung empfohlen, in Zusammenarbeit mit anderen Industrieländern die politische Initiative zu ergreifen, um ein solarthermisches Kraftwerk im Sonnengürtel der Erde zu bauen. Seit mehreren Jahren werden derartige Kraftwerke mit einer Leistung von 350 Megawatt in Kalifornien betrieben; zuverlässig und bereit für die weltweite Markteinführung. Obwohl in Spitzenverbrauchszeiten zusätzlich mit Erdgas gefeuert werden muß, lohnt sich die Sache dreifach: Die Brennstoffkosten sinken auf ein Viertel, die Luftverschmutzung geht gegen Null und natürlich sinkt auch der CO2-Ausstoß drastisch.

Um den Entwicklungsländern die hohen Anschaffungskosten zu versüßen, schlägt die Enquete-Kommission einen „verlorenen Zuschuss“ in Höhe von einem Drittel der Investitionskosten vor, das sind rund 115 Millionen Mark. Konkrete Planungen gibt es für Indien und Brasilien.

Ein zweiter Vorschlag der Kommission wäre billiger zu verwirklichen: Durch einfache Isolationsmaßnahmen ließen sich die Verluste beim Transport von Erdgas drastisch reduzieren. Aus den 220.000 Kilometern Fernwärmeleitungen der ehemaligen Sowjetunion gehen wegen Lecks und technisch überholter Kompressorstationen mindestens acht Prozent des transportierten Erdgases verloren – in Westeuropa und Nordamerika sind es nur 0,5 Prozent.

Vierzig Milliarden Kubikmeter, die Hälfte des deutschen Jahresverbrauches verschwinden so in der Luft. Dabei sind weitere 250.000 Kilometer Leitungen, die benötigt werden, um den Brennstoff zum Verbraucher zu bringen, noch gar nicht mitgerechnet. Aus den Lecks strömt das Treibhausgas Methan, welches den größten Bestandteil des Erdgases ausmacht, direkt in die Atmosphäre. An den Kompressorstationen wird es zu Kohlendioxid verbrannt.

Mit deutscher Hilfe könnten diese Löcher gestopft werden. Dazu die Enquete-Kommission: „Es kann davon ausgegangen werden, daß die zusätzlichen Einnahmen bei einer Sanierung die Ausgaben übersteigen werden“.

(erschienen in „DIE WELT“ am 12. Juni 1992)

Umwelt-Gipfel: Japan will nicht Zahlmeister sein

Hochrangige japanische Regierungsvertreter haben signalisiert, daß die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt nicht bereit ist, eine zweistellige Milliardensumme bereitzustellen, um einen Erfolg der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) zu sichern.

Japans Chefdelegierter für die am 3. Juni in Rio de Janeiro beginnende Konferenz, Nobutachi Akao wies entsprechende Spekulationen in den Medien zurück und sagte vor Journalisten in Tokio: “Wir werden uns nicht verpflichten, acht Milliarden Dollar bereitzustellen.“

Allerdings sind derzeit Bemühungen im Gange, einen Umweltfond ins Leben zu rufen, der von Regierung und Privatwirtschaft gemeinsam finanziert wird und ein Volumen von jährlich 300 Milliarden Yen (ca. 2,3 Milliarden Mark) aufweisen soll.

Der „Internationale Friedens-Kooperationsfond“ sollte nach den Vorstellungen von Regierung und Liberaldemokratischer Partei neben Umweltbelangen auch der Unterstützung von Flüchtlingen zugutekommen und aus einer – noch zu beschließenden – Umweltsteuer sowie aus einer ,,internationalen Beitragssteuer“ finanziert werden.

Sollte der Plan, der unter anderem von dem einflußreichen ehemaligen Premierminister Takeshita Noboru unterstützt wird, in die Tat umgesetzt werden, so würde sich die umweltrelevante Finanzhilfe des Landes praktisch verdoppeln. Die bisherige Praxis Japans bei der Vergabe von Geldern zur Entwicklungshilfe wurde in den USA und in der EG bisher jedoch oft als versteckte Unterstützung für die einheimische Wirtschaft kritisiert.

Nach Angaben von Seiji Kojima, Direktor des Wirtschaftlichen Kooperationsbüros des Außenministeriums sind derzeit weniger als 30 Prozent der Gelder an Aufträge für japanische Firmen gebunden. „Dieser Anteil wurde in den vergangenen Jahren drastisch reduziert“, betonte Kojima.

Dem widerspricht Yoichi Kuroda, Koordinator des japanischen „Tropical Forest Action Network“, einer privaten Umweltschutzorganistion, die Japans Rolle bei der Zerstörung des tropischen Regenwaldes kritisiert. „Schaut man auf die Verträge“, so Kuroda, „sind 90 Prozent aller Gelder an Aufträge für japanische Firmen gebunden.“

UNCED-Botschafter Akao ist sich der schwierigen Lage seines Landes bewußt. Einerseits fordern die USA und Europa sowie UNCED-Generalsekretär Maurice Strong einen größeren Beitrag der Wirtschafts-Großmacht zur Lösung der globalen Probleme, andererseits stößt jede Initiative des Landes auf große Skepsis. ,,Strong hat uns gedrängt, bei der Rio-Konferenz eine Führungsrolle zu übernehmen, er hat sogar Zahlen genannt.“

Im Bereich der Umwelttechnologien – Energieeinsparung, sparsamer Umgang mit Rohstoffen, Bekämpfung von Schadstoffen – sei Japan bereits viel weiter als die USA oder auch Europa, so Akao. „Wenn es den Entwicklungslängdern wirklich darum geht, diese Techniken zu nutzen, wollen wir ihnen gerne dabei helfen. Wir sind zur Kooperation auf kommerzieller Basis bereit, bis zu einem gewissen Grad aber auch in Form von Entwicklungshilfe und Technologietransfer.“

Die Forderung mancher Länder der Dritten Welt, sämtliche Technologie unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, weist Akao jedoch zurück: „Technologien, die in Besitz der Regierung sind, transferieren wir gerne zum Null-Tarif, aber die meisten Entwicklungen wurden von privaten Firmen getätigt, oft nach großen Investitionen. Wir können diesen Firmen nicht befehlen, ihre Geräte umsonst abzugeben.“

Zwar wären die Entwicklungsländer durchaus im Recht, wenn sie Geld fordern, um die von den Industrienationen verursachte Verschmutzung beispielsweise der Ozeane oder der Atmosphäre zu reduzieren, aber „wenn diese Länder nicht bereit sind, die selbst geschaffenen Probleme anzugehen, werden wir das auch nicht bezahlen.“

Zwischenzeitlich hat sich die japanische Regierung offiziell dazu verpflichtet, die Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid einzufrieren. Auch im Jahr 2000 soll demnach die Freisetzung von „japanischem“ CO2, nicht mehr als 318 Millionen Tonnen betragen, ein Wert, der für das Jahr 1990 ermittelt wurde. Die Pro-Kopf-Emission für das 120-MillionenVolk beträgt derzeit rund 2,6 Tonnen, der niedrigste Wert aller Industrienationen.

Gleichzeitig ist die Energieeffizienz im Land der aufgehenden Sonne die höchste. Japan produziert also pro freigesetzter Tonne Kohlendioxid weitaus mehr Wirtschaftsgüter als beispielsweise die Europäische Gemeinschaft oder die Vereinigten Staaten.

Dennoch hat Ex-Premierminister Takeshita vor überzogenen Erwartungen an die Adresse seines Landes gewarnt Takeshita, der durchaus für ein größeres Engagement seines Landes eintritt, sieht Japan auf dem Gipfel von Rio vor allem in einer Vermittlerrolle zwischen den industrialisierten Ländern und der Dritten Welt. Japan, so meint der einflußreiche Politiker, könnte den armen Nationen durchaus als Beispiel dienen.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unser Land vorwiegend Dank amerikanischer Hilfe aus Hunger und Elend gerettet. Große Darlehen der Weltbank und anderer internationaler Institutionen haben Japan ein enormes Wachstum ermöglicht, das allerdings auch zu gewaltigen Umweltproblemen geführt hat.“ Gesetze zum Schutz der Umwelt hätten dann seit 1970 dazu geführt, daß Japan sich heute zu Recht als „entwickeltes“ Land bezeichnen könne.

„Zuerst sind wir der Armut entkommen, dann der Umweltverschmutzung“, sagte Takeshita. Daher sei es auch wahrscheinlich, daß die Entwicklungsländer eine Führungsrolle Japans auf diesem Gebiet akzeptieren würden.

(erschienen in „DIE WELT“ am 29. Mai 1992. Die mehrtägige Informationsreise erfolgte auf Einladung und auf Kosten der japanischen Regierung.)