Zum Hauptinhalt springen

Neue Rezepte gegen die Fallsucht

Es kann jedem passieren, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort: Eine vorübergehende Geistesabwesenheit oder mitten im Satz das völlige Unvermögen, die eben noch präsenten Worte zu formulieren, zählen zu den vergleichsweise harmlosen Varianten epileptischer Anfälle.

Für Unbeteiligte oftmals erschreckend sind dagegen die von Medizinern als „Grand mal“ (französisch: Großes Übel) beschriebenen Erscheinungsformen: Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt es etwa zu einem plötzlichen Verkrampfen der Muskulatur – manchmal noch ein Schrei und die Betroffenen stürzen wie ein gefällter Baum zu Boden. Unfähig zu atmen bleiben sie mehrere Sekunden liegen, bis dann rhythmische Muskelzuckungen einsetzen, die zwei bis drei Minuten anhalten können. Rötlicher Schaum vor dem Mund, verstärkt noch das Entsetzen der Umstehenden, dabei hat sich der jetzt scheinbar tief schlafende Mensch während des Muskelkrampfes doch „nur“ auf die Zunge gebissen. Wenn dieser endlich erwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Um sich herum lauter verstörte Gesichter, hat er selbst oftmals Schwierigkeiten, das Geschehene zu begreifen.

Nicht selten wird auch sofort der Notarzt verständigt, was laut dem früheren Vorsitzenden des Kuratoriums Epilepsie, Jürgen Peiffer, „zwar verständlich, aber unnötig“ ist. Wichtig sei es vor allem, den „krampfenden“ Menschen vor Verletzungen durch die unkontrollierten Bewegungen zu schützen rät der ehemalige Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Tübingen. Peiffer wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß keiner vor solch einem Mißgeschick gefeit ist.

„Jedes menschliche Gehirn kann unter bestimmten Umständen mit einem epileptischen Anfall reagieren“, unterstreicht auch Peter Berlit von der Neurologischen Klinik am Essener Alfried Krupp Krankenhaus. Auf einem Journalistenseminar der Firma Wellcome, das kürzlich in München stattfand, hob Berlit hervor, daß etwa jeder Zwanzigste damit rechnen muß, einmal in seinem Leben einen mehr oder weniger stark ausgeprägten „Gelegenheitsanfall“ zu bekommen. Auslöser können so unterschiedliche Faktoren sein wie Schlafentzug, Sauerstoffmangel, Alkohol oder DrogenG, das Flimmern eines Fernsehapparates oder die rhythmischen Lichtblitze in einer Diskothek.

Von einer Epilepsie sprechen die Experten zwar erst dann, wenn die Anfälle sich wiederholen, dennoch geht man für die Bundesrepublik von 800000 Kranken aus – etwa ebenso viele, wie es Zuckerkranke gibt. Unter ihnen muß ein Drittel damit rechnen, mehr als einen Anfall pro Monat zu erleiden. Ein weiteres Drittel ist zwischen einem und zwölf Mal jährlich betroffen, das letzte Drittel seltener. Zwischen den Anfällen sind die Patienten geistig meist völlig störungsfrei und ohne sorgfältige Diagnose von gesunden Menschen nicht zu unterscheiden.

Trotz ihrer weiten Verbreitung wird die manchmal als „heimlich-unheimliche Krankheit“ titulierte Epilepsie in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Noch immer hält jeder vierte Deutsche die Epilepsie für eine Geisteskrankheit, fast ein Drittel gab in einer Umfrage sogar an, ihr Kind dürfe keinen Epilepsiekranken heiraten. Gerade Schulkinder haben unter solchen Einstellungen sehr zu leiden, wie Gerda Hefner, Psychiaterin an der Bonner Epileptologischen Klinik, zu berichten weiß. Sie sind dem Spott der Mitschüler ausgesetzt, wenn nach einem Anfall etwa eine Pfütze unter dem Stuhl zurückbleibt, als sichtbarer Beweis dafür, daß sie das Wasser nicht haben halten können.

Auch die gutgemeinten Bemühungen der Eltern oder Lebenspartner können Anfallskranken zu schaffen machen. Die übertriebene Fürsorge der Familie und die daraus erwachsende Abhängigkeit hinterläßt zwangsläufig ihre Spuren, auch wenn die Epilepsie im Laufe der Jahre kuriert werden kann. „Natürlich haben diese Menschen ein erhöhtes Risiko, aber man darf sie auch nicht zu sehr unter die Käseglocke setzen“, rät Gerda Hefner.

Zur sozialen Ausgrenzung, die in der Bundesrepublik laut Professor Heinz-Joachim Meenke viel stärker ausgeprägt ist, als in den Vereinigten Staaten oder den europäischen Nachbarländern, kommen noch eine Reihe handfester Nachteile hinzu. Meenke, der sich am Berliner Rudolf Virchow Klinikum immer wieder mit den psychosozialen Folgen der Krankheit auseinandersetzten muß, trifft häufig auf besorgte Patienten, die ihr Leiden aus Angst vor Entlassung gegenüber ihrem Arbeitgeber und den Kollegen verschweigen.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Abschluß privater Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen, denn die früher auch als „Fallsucht“ bezeichnete Krankheit erhöht das Risiko tödlicher Unfälle beträchtlich. Meist tritt eine Ausschlußklausel in Kraft, die alle Folgen der Epilepsie vom Versicherungsschutz ausnimmt, oder es werden erheblich höhere Prämien verlangt. Eine erhöhte Selbstmordrate unter Epileptikern kann als trauriger Beweis dafür gelten, daß ein Leben in ständiger Angst und die oft ablehnende Reaktion der Mitmenschen für viele zur unerträglichen Belastung wird.

Weniger dramatisch scheint dagegen das für alle Epileptiker geltende generelle Fahrverbot, doch wird auch diese Vorsichtsmaßnahme von vielen als beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Den Führerschein dürfen die Betroffenen erst wieder beantragen, wenn sie mindestens zwei Jahre anfallsfrei waren. Während der Sinn dieser Regelung von Ärzten und Patienten kaum in Frage gestellt wird, traf ein anderes Handicap auf weniger Verständnis: „Bis vor kurzem war die Verbeamtung von Anfallskranken grundsätzlich nicht möglich“, erläutert Meenke.

Die Krankheit mag unheimlich sein – unheilbar ist sie nicht. Gerade in den letzten Jahren wurde das Arsenal an Medikamenten, die gegen die zahlreichen Formen der Epilepsie zum Einsatz kommen, beträchtlich erweitert. Vigabatrin und Lamotrigin, Clobazam und Gabapentin, Oxacarbazepin, Felbamat und Topiramat heißen die Präparate, die in jüngster Zeit neu auf Markt kamen oder kurz vor der Zulassung stehen.

Den raschen Fortschritten in der Hirnforschung ist es größtenteils zu verdanken, daß derzeit rund 100 weitere Arzneimittelkandidaten in amerikanischen und europäischen Labors getestet werden. „Insgesamt eine Verbesserung der Therapie“ erwartet daher Christian E. Elger, Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn, für die nähere Zukunft. „Der große Durchbruch aber wird ausbleiben“, sagte Elger gegenüber der Ärztezeitung.

Trotz der vergleichsweise großen Zahl von Arzneimitteln gelingt es derzeit nur in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle, sämtliche Anfälle zu unterdrücken, so Stefan R.G. Stodieck von der Klinik für Neurologie der Universität Münster. Bei einem weiteren Viertel wird zwar die Zahl der Anfälle verringert; die psychologische Belastung aber bleibt. Außerdem leidet ein Drittel aller Patienten – auch derjenigen, bei denen sich keine Besserung zeigt – unter Arzneimittelnebenwirkungen, die laut Stodiek „zum Teil sehr massiv sein können“.

Da nicht jedes Medikament bei jeder Anfallsform hilft, wird die Suche nach der besten Arznei oftmals zu einem jahrelangen Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Es verwundert daher nicht, daß jeder dritte Patient seine verordneten Medikamente nur unregelmäßig einnimmt.

Stodiek ist sich mit seinen Kollegen dennoch einig, daß es viele Gründe für einen möglichst frühzeitigen Therapiebeginn gibt. Zum einen sinken die Erfolgschancen, je länger die Krankheit unbehandelt bleibt; zum anderen erhöht jeder Anfall die Wahrscheinlichkeit für den Nächsten. Warum das so ist, glaubt der Epileptologe mit neueren Erkenntnissen aus der Gehirnforschung erklären zu können:

Demnach handelt es sich bei der Epilepsie um spontane elektrische Entladungen größerer Gruppen von Nervenzellen (Neurone). Bei vielen Patienten werden offensichtlich immer die gleichen Nervenbahnen aktiviert, die sich dadurch einschleifen und – so die Theorie der Neurobiologen – immer leichter erregbar werden. Die Entladungen selbst kommen vermutlich zustande, weil sich ein Ungleichgewicht eingestellt hat zwischen einem anregenden Botenstoff – dem Glutamat und der aus dem Glutamat gebildeten Gamma-Aminobuttersäure (GABA), welche die Aufregung im Gehirn zu dämpfen vermag.

Das resultierende Dauerfeuer der Neurone kann von verschiedenen Regionen des Gehirns seinen Ausgang nehmen. Bei bestimmten Formen der Epilepsie, den sogenannten fokalen Anfällen, sind dann jeweils die Körperpartien oder -funktionen zuerst betroffen, die von der entsprechenden Hirnregion gesteuert werden. Beginnt solch ein fokaler Anfall beispielsweise mit einem Zucken des Mundwinkels oder rhythmischen Kaubewegungen gelingt es oftmals, die Störung einer eng umschriebenen Hirnregion zuzuschreiben. Bleibt die medikamentöse Behandlung erfolglos, so kann bei schweren Fällen ein chirurgischer Eingriff erwogen werden, bei dem das „epileptogene Areal“ entfernt wird, ohne daß es beim Patienten zu bleibenden Schäden kommt.

Drei Zentren für derartige Eingriffe gibt es in Deutschland: Neben Bonn und Bethel verfügt seit kurzem auch die Universität Erlangen-Nürnberg über ein Epilepsiezentrum der höchsten Leistungsstufe. Mit fünf Millionen Mark fördert dort das Bundesministerium für Gesundheit die Versorgung von Epilepsiepatienten, für die ein operativer Eingriff die einzige Chance auf ein normales Leben bedeutet.

Allerdings ist auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Den jährlich etwa 200 Operationen, die in Deutschland durchgeführt werden, stehen etwa 20000 Epileptiker gegenüber, die durch solch einen Eingriff geheilt werden könnten. Immerhin dauert die Vorbereitung eines Eingiffs rund drei Wochen, in denen der Patient rund um die Uhr überwacht werden muß. Anhand von Videoaufnahmen und der laufend aufgezeichneten Hirnstromkurven versuchen Neurologen und Neurochirurgen, Informatiker und Ingenieure, Physiker und Psychologen gemeinsam, den Krankheitsherd zu ermitteln.

Modernste Diagnosegeräte messen winzige Magnetfelder im Gehirn und erlauben eine dreidimensionale Darstellung der feinsten Strukturen. All der Aufwand dient letztlich dazu, das Risiko für den Patienten möglichst gering zu halten. In bis zu 85 Prozent aller Fälle führen diese Operationen am kompliziertesten Organ des Menschen zum Erfolg: Die Patienten werden auf Dauer von ihren Anfällen befreit.

Für die Zukunft träumt Stodiek jedoch von einem Verfahren, das auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag: Ein „Hirnschrittmacher“ soll mit kleinen Stromstößen den rechten Takt angeben, sobald die grauen Zellen aus dem Schritt geraten. Wie der „New Scientist“ vermeldet, ist ein erster Schritt in diese Richtung bereits gelungen:

Mit Elektroden, die im Nacken von Epilepsiepatienten angebracht wurden, stimulierte ein amerikanisch-europäisches Forscherteam in kurzen Abständen den Nervus vagus, einen der großen Nervenstränge, die vom Gehirn ausgehend die Arbeit der inneren Organe steuern.

Dazu implantierten die Ärzte bei 127 Patienten ein kleines Steuergerät auf der linken Brustseite unter der Haut. In etwa zehnminütigem Abstand schickte dieser Stimulator elektrische Reize an den Nervus vagus. Nach 18 Monaten zählten die Wissenschaftler im Durchschnitt nur noch halb so viele Anfälle wie zu Beginn der Behandlung.

Die Epilepsiekranken, bei denen Medikamente wirkungslos geblieben waren, mußten dabei als Nebenwirkung ein Kribbeln während der Stimulationen in Kauf nehmen, auch klagten manche über leichte Halsschmerzen. Mit einem über den Stimulator gehaltenen Magneten konnten die Patienten die elektrischen Reize auch selbst hervorrufen, was in einigen Fällen ausrichte, um eine sich anbahnende Attacke im Keim zu ersticken.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. September 1993)

Quellen:

  1. Journalistenseminar der Firma Wellcome in München, 1993
  2. Science: A stimulating way to reduce epileptic fits, von Anne Davies, New Scientist 31.7.1993.

Dioxin – die Fakten

Seveso ist überall heißt ein Klassiker der Umweltschutz-Literatur. Untertitel des 1989 erschienen Werkes von Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt: „Die tödlichen Risiken der Chemie.“ Es steht auch in meinem Bücherschrank und hat wesentlich zur Sensibilisierung gegenüber der Umweltverschmutzung beigetragen. Der so aufgebaute Druck dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass innerhalb weniger Jahre sehr strenge Schutzmaßnahmen ergriffen wurden und die Belastung durch das „Supergift“ deutlich gesunken ist. Wer es etwas genauer wissen will findet hier einen Artikel, den ich anhand der Unterlagen zum 2. Internationalen Dioxin-Symposium in Berlin für die Pharmazeutische Zeitung vom 9. September 1993 geschrieben habe:

Obwohl in Deutschland heute wesentlich weniger Dioxine und Furane freigesetzt werden als noch vor einigen Jahren, sind weitere Maßnahmen möglich und erforderlich, um die Schadstoffbelastung der Umwelt zu reduzieren. Diese Forderung erhoben Experten des Bundesgesundheitsamtes und des Umweltbundesamtes kürzlich in einem Sonderheft des Bundesgesundheitsblattes.

Die Ableitung einer »gesundheitlich unschädlichen« Dosis wird erschwert durch einen Mangel an verwertbaren Hinweisen aus epidemiologischen Studien am Menschen. Der Beweis einer krebserzeugenden Wirkung von niedrigen Dosen des »Seveso-Giftes« 2,3,7,8-Tetrachlor-Dibenzo-p-Dioxin steht für den Menschen noch aus, wird in der Auswertung des 2. Internationalen Dioxin-Symposiums mitgeteilt. Allerdings werden die Ergebnisse des Follow-Up in Seveso erst in einigen Jahren vorliegen, und die Daten aus verschiedenen Untersuchungen zeigten, »daß es sich beim 2,3,7,8-TCDD mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Humankanzerogen handelt«.

Weniger deutlich sind die Hinweise auf eine Störung des Immunsystems oder der Reproduktionsfähigkeit durch die verschiedenen Vertreter der polychlorierten Dibenzo-p-dioxine und -furane (PCDDVF). Derzeit gibt es keine verläßlichen Anhaltspunkte dafür, daß derartige Effekte beim Menschen durch geringe Dosen dieser Substanzgruppe ausgelöst werden können.

Schwierig ist auch die Beurteilung von schädlichen Einflüssen auf das Zentralnervensystem. An Personen, die längerfristig beruflich oder durch Chemieunfälle exponiert waren, wurde zwar eine Reihe von Befindlichkeitsstörungen, Beschwerden und Befunden immer wieder registriert. So klagten Betroffene nach akuter Exposition mit hohen Dosen über Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen und Impotenz und waren zudem leicht reizbar. Chronische Exposition hatte unter anderem abgeschwächte oder nicht auslösbare Muskeleigenreflexe und Empfindungsstörungen in den Extremitäten zur Folge. In umfangreichen psychologischen Studien wurde lediglich »eine vermehrte psychosomatische Störbarkeit und eine erhöhte Verstimmbarkeit« aufgezeigt.

Probleme mit Richt- und Grenzwerten

»Eine eindeutige oder gar dosisabhängige neurotoxische Wirkung für PCDD/F konnte bei der Mehrzahl der Untersuchten nicht festgestellt werden«, bilanzierten Professor Jörg Schuster und Dr. Jutta Dürkop. Schwierigkeiten bereitet den Experten die Vielzahl der Dioxine und Furane, die trotz des gemeinsamen Wirkmechanismus ein stark unterschiedliches toxikokinetisches Verhalten zeigen. Die wissenschaftliche Basis der TCDD-Äquivalenzfaktoren (TEF), die in Form von Richt- und Grenzwerten in die Gesetzgebung eingehen, ist daher umstritten. TEF stützen sich im Wesentlichen auf Versuche zur chronischen Toxizität, die Induktion von Monooxygenasen bei der Ratte und auf teratogene Wirkungen. Aussagen zur möglichen Kanzerogenität und zur Immuntoxizität stehen somit auf wackeligen Beinen.

Die Bandbreite der gesundheitsbezogenen Richtwerte im verschiedenen Ländern ist dennoch relativ gering. Die vom Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation errechnete »hinnehmbare tägliche Aufnahme« von zehn Picogramm 2,3,7,8-TCDD pro Kilogramm Körpergewicht und Tag wurde von Kanada, den Niederlanden und Großbritannien akzeptiert. Der Nordische Rat hat für die skandinavischen Länder fünf Picogramm festgelegt, in Deutschland geht man von einem bis zehn Picogramm aus, wobei ein Sicherheitsfaktor von 100 bis 1000 zugrunde gelegt wurde.

Kinder stark belastet

Zumindest die untere Grenze dessen, was die Experten hierzulande als »hinnehmbar« ansehen, wird in der Regel überschritten. Erwachsene nehmen in Deutschland durchschnittlich zwei Picogramm Toxizitätsäquivalente (TE) pro Tag und Kilogramm Körpergewicht auf, einjährige Kinder etwa das Doppelte.

Am stärksten betroffen sind Säuglinge, die beim Stillen täglich im Durchschnitt 150 Picogramm TE je Kilogramm Körpergewicht aufnehmen. Wie Dr. Dietrich Schulz vom Umweltbundesamt mitteilte, deuten Untersuchungen aus Nordrhein-Westfalen darauf hin, daß die durchschnittlichen Konzentrationen in der Frauenmilch zwischen 1989 und 1991 um etwa ein Drittel abgenommen haben. Als dichtbesiedeltes und hochindustrialisiertes Land nimmt die Bundesrepublik damit weiterhin eine unerfreuliche Spitzenstellung ein. Trotz dieser Belastung sieht das BGA aber keine gesundheitliche Gefährdung des Säuglings und empfiehlt nach wie vor allen Müttern, vier bis sechs Monate voll zu stillen.

Eine Reihe von Schutzmaßnahmen wurde in den letzten Jahren eingeleitet, um die freigesetzten Dioxinmengen zu begrenzen. Doch werden nach Schätzungen zwischen einem und zwei Kilogramm Dioxin-Toxizitätsäquivalente jährlich auf der Gesamtfläche der alten Bundesländer deponiert. Für die Niederlande geht man von fast einem Kilogramm aus, in Schweden, wo die Gesamtemissionen innerhalb von sieben Jahren um achtzig Prozent verringert wurden, rechnet man mit 120 bis 290 Gramm TE auf der gesamten Landesfläche.

Dioxine aus der Müllverbrennung

Während früher die chemische Industrie die Hauptquelle für Dioxine war und »als Ursache für heutige Altlasten anzusehen ist«, so der Bericht, spielen mittlerweile thermische Prozesse wie die Abfallverbrennung und Metallschmelzen die wichtigste Rolle. Die 17. Bundesimmissionsschutzverordnung (BimSchV) verlangt, daß die 400 Gramm Dioxin-TE, die noch 1989 aus Müllverbrennungsanlagen entwichen, spätestens bis 1996 auf vier Gramm reduziert werden.

Eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung der Verordnung bilden neue Erkenntnisse zur Dioxinbildung, die am Kernforschungszentrum Karlsruhe von Professor Hubert Vogg gewonnen wurden. Sie erlauben es, durch eine präzise Steuerung des Verbrennungsprozesses die Bildung der Schadstoffe auf weniger als ein zehnmilliardstel Gramm pro Kubikmeter Abluft zu reduzieren. Fraglich ist allerdings, ob der BImSchV-Grenzwert von 0,1 Nanogramm Dioxin-TE pro Kubikmeter Abluft auch beim Schmelzen von Eisen und Stahl, beim Umschmelzen von Aluminium oder der Kupferrückgewinnung eingehalten werden kann. Nach groben Schätzungen dürften diese Anlagen mehr als doppelt so viel Dioxin freisetzen wie alle fünfzig deutschen Müllverbrennungsanlagen zusammen.

Probleme gibt es auch bei der Umset­zung der bereits im Januar vom Kabi­nett verabschiedeten Dioxinverord­nung. Zu Jahresbeginn hatte man laut Umweltminister Klaus Töpfer die »weltweit niedrigsten Grenzwerte für Dioxine in Stoffen, Zubereitungen und Erzeugnissen festgelegt«. Alle toxiko­logisch relevanten chlorierten Dioxi­ne, 17 an der Zahl, wurden erfaßt; erstmalig gab es auch Grenzwerte für acht bromierte Dioxine und Furane. Rechtskräftig ist die Verordnung in­des noch nicht, weil die Notifizierung durch die zuständigen EG-Behörden noch aussteht. Bis zu einem Jahr dür­fen sich die Brüsseler Bürokraten Zeit lassen, um die deutsche Verordnung zu begutachten.

Quellen:

Bundesgesundheitsblatt – Sonderheft 1993, Hrsg.: Jörg Schuster und Jutta Dürkop. 2 Interna­tionales Dioxin-Symposium und 2. fachöffentliche Anhörung des Bundesgesundheitsamtes und des Umweltbundesamtes zu Dioxinen und Furanen in Berlin vom 9. bis 13. November 1992. 1. Auswer­tung.

Saurier aus dem Genlabor

Die Dinosaurier kommen! Wer glaubt, daß die Aufregung um Tyrannosaurus rex und Konsorten nach einer Flut von Büchern und Bausätzen, von Gummitieren und Sonderausstellungen, allmählich ihren Höhepunkt überschritten habe, der wird wohl am 2. September eines Besseren belehrt. Das Datum markiert die Premiere des Spielberg-Films „Jurassic Park“ in deutschen Kinos. Vieles spricht dafür, daß der Reißer um die gentechnische „Wiederbelebung“ der vor 65 Millionen Jahren ausgestorbenen Dinosaurier zum größten Kassenschlager aller Zeiten wird.

Jurassic Park ist aber mehr als nur ein technisch brillant gemachter Horrorfilm. Die Science-Fiction-Story verarbeitet vielmehr topaktuelle wissenschaftliche Entwicklungen, deren mögliche Konsequenzen dann allerdings in den grellsten Farben ausgemalt werden: Mit gentechnischen Methoden gelingt es, so die Geschichte, an das Erbmaterial verschiedener Dinosaurier heranzukommen. Statt wie herkömmliche Paläontologen nach versteinerten Knochen zu graben, kam man nämlich bei der Firma InGen auf die Idee, in Bernstein – dem fossilen Harz vorgeschichtlicher Bäume – nach eingeschlossenen Insekten zu untersuchen. Die Hoffnung, dabei vereinzelt Tiere zu erwischen, die kurz nach einer Blutmahlzeit bei einem Dinosaurier konserviert wurden, bewahrheitet sich. Im Insektendarm finden sich unverdaute Blutzellen der ausgestorbenen Echsen und im Kern dieser Blutzellen mehr oder weniger gut konservierte Bruchstücke des gesuchten Erbmaterials – der Dinosaurier-DNA.

Hirngespinste sind das keineswegs: Erst im Juni berichteten Wissenschaftler in der britischen Fachzeitschrift Nature von einer spektakulären Entdeckung. Raúl J. Cano und seinen Kollegen war es an der Polytechnischen Universität San Luis Obispo in Kalifornien gelungen, einzelne Gene aus einem Rüsselkäfer zu isolieren, der vor 120 Millionen Jahren in Bernstein eingeschlossen worden war. Damals – in der Kreidezeit – hatten die Kontinente sich gerade erst voneinander gelöst, die Dinosaurier erreichten ihre größte Artenvielfalt.

Allerdings suchten und fanden die amerikanischen Forscher in ihrem Bernstein nur Erbsubstanz des Käfers, die sie dann zu Vergleichen mit noch lebenden Verwandten des Insektes benutzten. Cano betont, daß Saurier-Gene bisher noch niemals gefunden wurden. Und David Grimaldi, der am New Yorker Museum für Naturkunde über die weltweit größte Sammlung von in Bernstein eingeschlossenen Insekten wacht, ist ebenfalls skeptisch. Obwohl schon etwa 10000 im fossilen Harz konservierte Krabbeltiere untersucht wurden, fand sich bisher noch keine Spur von Saurierblut. „Wenn man allerdings genug Material untersucht, wird man irgendwann einmal fündig werden“, glaubt der Paläontologe.

Das Wettrennen um die ersten Saurier-Gene ist jedenfalls schon in vollem Gange. Mit von der Partie ist auch George Poinar von der kalifornischen Berkeley-Universität, der schon 1982 den Vorschlag gemacht hatte, im Bernstein nach Saurier-DNA zu suchen. Doch zwischen dem Aufspüren vereinzelter Gene und der Rekonstruktion eines kompletten Tieres liegen Welten: Cano und seine Mitarbeiter untersuchten zwei Fragmente, die aus insgesamt 550 Bausteinen zusammengesetzt waren. Im Vergleich dazu ist das komplette Erbmaterial eines Reptils etwa sechs Millionen Mal so lang.

Russel Higuchi, ein Angestellter der kalifornischen Gentechnik-Firma Cetus, der sich jahrelang mit der Analyse von Mammut-DNA beschäftigte, fand einen anschaulich Vergleich für die Schwierigkeiten beim Lösen derartiger „Mammut-Puzzles“: Es wäre, als ob man eine große Enzyklopädie finden würden, geschrieben in einer kaum verständlichen Sprache und zerrissen in viele Fetzen, sagte er gegenüber der Zeitschrift Science. Die Aufgabe der Forscher bestünde darin, die Teile zusammenzusetzten, ohne die Hände zu benutzen.

Im Film ist dagegen alles vergleichsweise einfach: Mit Hilfe leistungsfähiger Computer und begabter Gentechnologen werden die Bruchstücke der reichlich vorhandenen Saurier-DNA zusammengefügt, verbleibende Lücken kurzerhand mit der Erbsubstanz von Fröschen gestopft. Zwar werden auch heute schon kurze Gene im Labor künstlich hergestellt und anschließend verknüpft. Die Obergrenze für derartige Experimente liegt allerdings derzeit bei etwa 5000 Basenpaaren, was allenfalls für die einfachsten Viren ausreicht.

Schließlich kommt im Kino auch noch eine Variante der Reagenzglasbefruchtung ins Spiel: Die komplettierten DNA-Stränge werden in unbefruchtete Eizellen von Krokodilen eingesetzt, die Eier anschließend bis zum Schlüpfen der Baby-Saurier bebrütet. Auch hier gibt es durchaus Parallelen zu aktuellen Entwicklungen, etwa in der Landwirtschaft. Allerdings fügt man dort meist einzelne Gene zu einer befruchteten Eizelle hinzu, die in der Regel der gleichen Tierart entstammt wie das Spendergen.

Während zeitgenössische Züchter sich nach gelungenem Eingriff an „Hochleistungsrindern“ mit extremer Milchleistung oder an übergroßen Karpfen erfreuen, bringt der kleine Trupp brillanter Biologen, Computerexperten und Mathematiker in „Jurassic Park“ gleich fünfzehn verschiedene Saurierarten zur Welt. Michael Crichton, der Autor des Bestsellers, auf dem der Film basiert, darf zufrieden sein. Regisseur Steven Spielberg hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um die Leinwand mit ganzen Herden von friedlichen Hadrosauriern, gemeinen Velociraptoren, hörnerbewehrten Triceratops und unaussprechlichen Procompsognathiden zu bevölkern.

Der Beratung durch den anerkannten Saurierexperten Jack Horner – er ist im Film unschwer in der Figur des Allen Grant zu erkennen – ist es zu verdanken, daß auch die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen berücksichtigt wurden. So wie die Paläontologen selbst ihre Vorstellungen vom Leben und Sterben der Dinosaurier in jüngster Zeit korrigieren mußten, lernen auch die Kinobesucher dazu. Statt trägen und vor allem dummen Kolossen begegnen die Darsteller äußerst wendigen, lernfähigen und damit auch gefährlichen Tieren. Als die Sicherungssysteme in der als Vergnügungspark geplanten Anlage ihren Dienst versagen, ist die Katastrophe daher vorprogrammiert…

(erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 28. August 1993)

Quellen und weitere Infos:

  1. Cano RJ, Poinar HN, Pieniazek NJ, Acra A, Poinar GO Jr. Amplification and sequencing of DNA from a 120-135-million-year-old weevil. Nature. 1993 Jun 10;363(6429):536-8.
  2. Jurassic Park – der Film und seine Fortsetzungen als DVD und Blue-Ray bei Amazon
  3. DinoPark, von Michael Crighton, verschiedene Ausgaben bei Amazon
  4. Dinosaurier, von David Norman. Einer der bekanntesten Dinosaurierexperten beschreibt nicht nur Entwicklung und Lebensweise der „schrecklichen Echsen“. Der Leser wird auch herangeführt an die aktuellen wissenschaftlichen Fragestellungen und bekommt einen Einblick in die mühsame Geschichte der Saurierforschung. Unter der Vielzahl von Büchern zu diesem Thema glänzt dieses durch die fundierte Darstellung und die einzigartigen Illustrationen.

Gentherapie gegen Rheuma geplant

Nachdem ich die Redakteursstelle bei der WELT aufgegeben hatte, folgten meine ersten Jahre als Freier Journalist für Medizin & Wissenschaft. Häufig habe ich dann ein Thema mehreren Regionalzeitungen gleichzeitig angeboten, was vor dem Internet bei nicht überlappenden Verbreitungsgebieten der Print-Ausgaben problemlos möglich war. Manchmal wurde auch noch eine Fachversion erstellt, beispielsweise für das Deutsche Ärzteblatt oder die Ärzte-Zeitung, oder die Infos wurden als Teil eines größeren Artikels einem Magazin angeboten. Ein Beispiel ist dieser Text, den ich hier in 3 Versionen poste:

(Süddeutsche Zeitung, 26. August 1993, gekürzt in der Stuttgarter Zeitung am 28. August)

Eine neue Strategie gegen die schmerzhaften Gelenkkrankheiten Rheuma und Arthrose wollen Wissenschaftler in Düsseldorf und Pittsburgh gemeinsam erproben. Fast jeder zweite Bundesbürger über 65 leidet unter den Beschwerden, denen mit Medikamenten oftmals nicht beizukommen ist. Bei den gebräuchlichen Arzneien, die in Pillenform aufgenommen oder mit einer Spritze in die Blutbahn injiziert werden, kommt es außerdem häufig zu Nebenwirkungen, die dann ebenfalls mit Medikamenten gelindert werden müßen.

Durch einen Gentransfer in die Zellen der Gelenkinnenhäute gelang es den Molekularbiologen im Tierversuch an Kaninchen, das Problem an der Wurzel zu packen. Dabei wurden zunächst mit einer Arthroskopie Zellen aus dem erkrankten Gelenk entfernt. Anschließend schleußten die Forscher im Labor mit Hilfe von Fettkörperchen (Liposomen) das IRAP-Gen in die Zellen ein. Dadurch erhielten die kranken Zellen die Fähigkeit, ein Eiweiß herzustellen – das Interleukin-Rezeptor-Antagonist-Protein – welches das Hormon Interleukin 1 blockiert und dadurch der Rheumaentstehung entgegenwirkt.

Nachdem die genmanipuierten Zellen wieder in die Gelenke der Tiere zurücktransplantiert wurden, produzierten die Tiere das schützende Eiweiß bis zu sechs Wochen lang. Sowohl die für Rheuma typische Entzündung als auch die anschließende Zerstörung des Knorpels wurden dadurch verhindert. Hauptziel der Wissenschaftler ist es jetzt, die Wirksamkeit der transferierten Gene möglichst lange zu erhalten. Allzu häufige Eingriffe an den späteren Patienten mit den dazugehörigen Injektionen veränderter Zellen in die Gelenke wären nicht nur schmerzhaft und unpraktisch, sie könnten auch selbst zu neuen Entzündungen führen.

Die Drei-Mann-Firma Orthogen will als Träger des Projekts das Prinzip unter Leitung von Peter Wehling zur Anwendungsreife weiterentwickeln. Unterstützt wird Wehling dabei vom Minsterium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, das insgesamt 1,25 Millionen Mark bereitstellt. Wehling, der etwa zwei Millionen Mark Kapital aufgebracht hat, hofft darauf, in „zwei bis drei Jahren“ die ersten menschlichen Patienten behandeln zu können. Das Konzept sieht vor, daß Gelenkhautinnenzellen dann jeweils von Spezialisten vor Ort entnommen und anschließend per Spezialtransport nach Düsseldorf gebracht werden, wo der Gentransfer stattfinden soll. Die genmanipulierten Zellen würden dann – so Wehlings Vision – zurückgeflogen und den Patienten während einer ambulanten Behandlung verabreicht.

(VDI-Nachrichten, 27. August 1993)

Rheuma und Arthrose könnten in zwei bis drei Jahren durch eine Gentherapie behandelt werden, so die Hoffnung von Peter Wehling, Leiter der Düsseldorfer Firma Orthogen. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Universität Pittsburgh soll in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt ein Verfahren entwickelt werden, bei dem bundesweit kranke Zellen aus den Gelenken der Patienten entnommen und anschließend in einem zentralen Labor korrigiert werden. Nach dem Rücktransport sollen die genmanipulierten Gelenkhautinnenzellen den Rheumakranken dann während einer ambulanten Behandlung wieder verabreicht werden.

Nach Angaben von Wehling leidet in Deutschland fast jeder zweite Rentner an den oft sehr schmerzhaften Gelenkkrankheiten Rheuma und Arthrose. Im Extremfall müßten täglich bis zu acht verschiedene Medikamente eingenommen werden.

Gegenüber den bisherigen Medikamenten hätte das gentechnische Verfahren den Vorteil, daß schützende Wirkstoffe direkt im Gelenkspalt produziert würden, statt den gesamten Organismus zu überschwemmen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Arzneien, die in Pillenform oder als Spritze verabreicht werden, seien daher bei dem neuen Verfahren Nebenwirkungen nicht zu erwarten, erklärte der Begründer der Technologie, Professor Chris Evans von der Universität Pittsburgh.

Bisher wurde der Gentransfer in die betroffenen Zellen der Gelenkinnenhäute jedoch lediglich an Kaninchen erprobt. Dazu schlossen die Forscher ein Therapiegen in kugelförmige Fettkörperchen, (Liposomen) ein, die nach Kontakt mit der Zellmembran ihre Fracht in das Zellinnere entlassen. Die Zellen nutzten daraufhin bis zu sechs Wochen lang den molekularen Bauplan zur Herstellung eines Eiweißes, des Interleukin-Rezeptor-Antagonist-Proteins (IRAP). IRAP wiederum blockierte das Hormon Interleukin-1, welches bei der Rheumaentstehung eine entscheidende Rolle spielt.

Die Rechnung der Wissenschaftler ging auf; die für Rheuma und Arthrose typischen Entzündungen und Knorpelzerstörungen im Gelenk konnten bei den Tieren verhindert werden. Obwohl die Wirkungsdauer vor einer Anwendung des Verfahrens am Menschen noch wesentlich verlängert werden müßte, fördert das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen das Projekt mit rund 1,25 Millionen Mark. Damit wolle man ein Standortsignal setzen für die Bio- und Gentechnologie und zur besseren Akzeptanz beitragen, erklärte Staatssekretär Hartmut Krebs: „Dies ist auch ein Stück PR zur Ermutigung von Wissenschaftlern in unserem Land.“

(unveröffentlichte Version für Deutsches Ärzteblatt vom 30. August 1993)

Eine Gentherapie gegen Rheuma und Arthrose soll in Zusammenarbeit zwischen der Universität Pittsburgh und der Düsseldorfer Firma Orthogen entwickelt werden. Das Vorhaben wird vom Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen mit 1,25 Millionen Mark gefördert. „Dies ist auch ein Stück PR zur Ermutigung von Wissenschaftlern in unserem Land“, sagte Staatsekretär Hartmut Krebs vor Journalisten in Düsseldorf.

Der Transfer von Genen mit antiarthritischen Eigenschaften in Gelenkhautinnenzellen wurde bisher allerdings lediglich bei Kaninchen erprobt. Dort gelang es der Arbeitsgruppe von Professor Chris Evans an der University of Pittsburgh School of Medicine durch Blockade des Rezeptors für Interleukin-1, Entzündungen und Zerstörung des Knorpels im Gelenk zu verhindern.

Ursprünglich hatte man versucht, Synovialzellen durch die Injektion von rekombinanten Retroviren direkt im Gelenk zu transduzieren. Dies scheiterte daran, daß Retroviren nur sich teilende Zellen infizieren können, die Gelenkhautinnenzellen aber lediglich eine sehr geringe mitotische Aktivität aufweisen. Dagegen war man beim Gentransfer in vitro erfolgreich: In Liposomen verpackte Kopien des IRAP-Gens wurden in Synovialzellen eingeschleust, die zuvor dem Gelenk entnommen worden waren. Nach Retransplantation produzierten die Zellen bis zu sechs Wochen lang das Interleukin-Rezeptor-Antagonist-Protein (IRAP).

Nebenwirkungen erwartet Evans von der neuen Methode nicht, da die eingeschleusten Gene im Gegensatz zu gebräuchlichen Medikamenten ihre Wirkung nur im Gelenkspalt entfalten würden. Da Evans beim Gentransfer auf den Einsatz von Retroviren verzichtet, schließt er eine Gefährdung der Patienten aus. „Bisher ist noch kein Empfänger fremder Gene als Folge solch einer Behandlung erkrankt.“

Innerhalb von „zwei bis drei Jahren“ soll das Verfahren jetzt zur klinischen Anwendung gebracht werden, sagte Orthogen-Geschäftsführer Peter Wehling. Wichtigstes Ziel der Wissenschaftler ist es dabei, die Dauer der Genexpression erheblich zu steigern. Der Orthopäde stellt sich dabei vor, daß lokal durch Arthoskopie gewonnene Synovialzellen nach Düsseldorf geflogen und dort im Speziallabor mit antiarthritischen Genen versehen werden. Anschließend – so Wehlings Vision – werden die Zellen in einer ambulanten Behandlung den Patienten vor Ort reimplantiert. Auch einen Preis kann der habilitierte Neuroimmunologe schon heute nennen: „Zwischen 10000 und 40000 Mark“ soll ein einzelner Gentransfer kosten.

Heftig kritisiert wurde Wehling unterdessen vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, Professor Joachim R. Kalden:  „Das so darzustellen, ist gefährlich, unkritisch und falsch“, sagte Kalden gegenüber dem Ärtzeblatt.

Eine amerikanische Studie zur Inhibition von IL-1 habe bei weitem nicht den Erfolg gebracht, den man sich hätte vorstellen können, erklärte der Neuroimmunologe. Dagegen habe man mit der Hemmung von TNF- durch monoklonale Antikörper sowohl im Tierversuch als auch am Patienten sehr gute Erfolge erzielt.

„Ich meine, daß man in der Diskussion über die Hierarchie der Zytokine, die für die Perpetuation der Inflammation bei der chronischen Polyarthritis verantwortlich sind, noch ganz am Anfang steht. Es sieht so als, als ob IL-1 ein Kandidat sei, möglicherweise aber nicht der entscheidende. Jetzt schon Pressekonferenzen über eine Gentherapie bei der chronischen Polyarthritis zu entwickeln, halte ich für sehr gewagt.“

Quelle: Pressekonferenz und Telefonat, keine Fachpublikation.

Was wurde daraus? Nach dieser Ankündigung machte Prof. Wehling noch mehrfach Schlagzeilen, unter anderem im Jahr 2009 mit einem „Ersten Hinweis auf klinische Erfolge der Gentherapie„. Etabliert ist das Verfahren allerdings bis heute nicht. Bei der Firma Orthogen, die laut der Webseite Bionity.com inzwischen 25 Mitarbeiter hat, zielt man nun offenbar weniger hoch und bewirbt stattdessen mit Orthokin(R) „ein Medizinprodukt zur Herstellung Autologen Conditionierten Serums, das entzündungshemmende Zytokinantagonisten und Wachstumsfaktoren enthält“. Außerdem arbeitet man an einer „neuartigen Stammzelltechnologie zur Knorpelregeneration aus nicht-embryonalen Stammzellen“, die jedoch keine eigene Erfindung darstellt, sondern „exklusiv von Harvard lizensiert“ wurde. 

Gentherapie heilt Immunschwäche

Ein Rückblick ins Jahr 1993, als das Forschungsgebiet der Gentherapie im Aufbruch war. Als gelernter Molekularbiologe war ich von den Möglichkeiten fasziniert und bin heute ein bisschen enttäuscht, dass man nicht schneller vorangekommen ist. Enttäuscht bin ich aber auch von Roland Mertelsmann, den ich damals auf mehreren Dienstreisen kennen gelernt habe, und dessen Name auf 58 Forschungsarbeiten auftaucht, die laut einem Gutachten der Deutschen Forschungsgemeinschaft „gefälscht oder fälschungsverdächtig“ sind.

Zwei kleine, gesunde Mädchen sind der bislang überzeugendste Beweis dafür, daß die Gentherapie erfolgreich sein kann, wo die klassische Medizin an ihre Grenzen stößt. Vor knapp drei Jahren erhielt Ashanti Desilva am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA eine Infusion mit etwa einer Milliarde gentechnisch veränderter weißer Blutzellen. Die sechsjährige Ashanti, die damals an einer lebensbedrohlichen und äußerst seltenen Immunschwächekrankheit litt, führt heute ebenso ein normales Leben wie die elf Jahre alte Cynthia Cutshall, die wenige Monate später behandelt wurde.

Im Rückblick wird das historische Experiment als „Meilenstein in der Geschichte der Medizin“ gefeiert, die beteiligten Ärzte gelten als sichere Kandidaten für den Nobelpreis. Was W. French Anderson, Michael Blaese, Kenneth Culver und andere in mittlerweile gut 25 Studien an knapp 100 Patienten vorexerzierten, soll nun auch in der Bundesrepublik stattfinden:

An der Freiburger Universitätsklinik setzt Roland Mertelsmann auf die Gentherapie, die im Herbst bei 14 krebskranken Freiwilligen erprobt werden soll. Alle herkömmlichen Methoden haben bei diesen Patienten versagt – ein Grund mehr für den Mediziner, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. „Mehrere hundert Krebskranke haben bereits nachgefragt“, berichtet Mertelsmann.

Noch stehen die Erwartungen in krassem Mißverhältnis zu den eher spärlichen Erfolgsmeldungen. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Gründen für den Optimismus der Beteiligten. Während Arzneimittel in aller Regel nur die Symptome einer Krankheit behandeln können, läßt sich das Übel durch eine Gentherapie oft unmittelbar an der Wurzel packen. Statt Chemikalien im Körper des Patienten abzulagern, liefert die Gentherapie den betroffenen Zellen die fehlenden Informationen, erklärt Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

Im Falle von Ashanti und Cynthia war diese Information ein Gen, welches die Bauanleitung für ein einziges Eiweiß enthält. Ohne diesen Biokatalysator – die Adenosin-Deaminase – sammelten sich im Körper der Mädchen Stoffwechselprodukte an, die zu einer schleichenden Vergiftung wichtiger Abwehrzellen führten. Eine nicht abreißende Serie von Infektionen war die Folge; ohne die ständige Einnahme starker Antibiotika hätten die Kinder die Zeit bis zu dem rettenden Eingriff vermutlich nicht überlebt.

Zwar steht seit kurzem das fehlende Eiweiß auch in Medikamentenform zur Verfügung. Die Arznei hat aber gravierende Nebenwirkungen und konnte in mindestens drei Fällen das Leben der kleinen Patienten nicht mehr retten. Weltweit gibt es kaum 30 Kinder, die unter dieser Krankheit – der ADA-Defizienz – leiden. Trotzdem hatten Anderson, Blaese und Culver gute Gründe, die Erfolgschancen einer Gentherapie zunächst an diesem extrem seltenen Leiden zu prüfen.

Schon geringe Mengen des fehlenden Eiweißes reichen nämlich aus, um den Defekt zu korrigieren. Das Ärzteteam spekulierte deshalb darauf, daß es genügen würde, die fehlende Erbinformation zumindest in einen kleinen Teil der betroffenen Immunzellen hineinzuschmuggeln. Bei einer Gentherapie gegen Krebs wären dagegen praktisch alle entarteten Zellen zu zerstören. Um einen Gesunden vor einer Infektion mit dem Aidsvirus zu schützen, müßten gar 100 Prozent der gefährdeten Immunzellen erreicht werden.

Ein weiterer Faktor erleichtert die Gentherapie bei der ADA-Defizienz: Die betroffenen Immunzellen lassen sich relativ leicht aus dem Blutstrom isolieren. Im Labor können die Wissenschaftler
dann in die Trickkiste der modernen Biologie greifen und unter mehreren Varianten des Gentransfers auswählen. Die beliebtesten Helfer sind derzeit Viren, die sich im Lauf der Evolution darauf spezialisiert haben, in die verschiedensten Körperzellen einzudringen und dort ihr genetisches Material abzuladen. Was den Viren unter normalen Umständen hilft, sich auf Kosten des Infizierten zu vermehren, machen die Genforscher sich zunutze.

Längst haben sie die Viren „kastriert“, indem sie aus dem Erbmaterial Gene entfernten, die für die Vermehrung der Parasiten unverzichtbar sind. An ihre Stelle setzten die US-Wissenschaftler im Falle der kleinen Ashanti den molekularen Bauplan zur Herstellung des fehlenden Eiweißes – das ADA-Gen. Im Reagenzglas entluden die umgebauten Viren ihr Mitbringsel in den Blutzellen, die im Labor kräftig vermehrt und schließlich dem Mädchen injiziert wurden. Der Eingriff war erfolgreich und wurde inzwischen auch in Europa zwei Mal durchgeführt.

Da die genmanipulierten Blutzellen nur eine begrenzte Lebensdauer haben, mußten Ashanti und Cynthia die unangenehme Prozedur bisher etwa alle sechs bis acht Wochen erdulden. Den zwei jüngsten Patienten bleibt dies vermutlich erspart: Ein Ärzteteam der Universität San Franzisko erprobte im letzten Monat den Gentransfer auf Stammzellen, die kurz nach der Geburt aus den Nabelschnüren der beiden neugeborenen Knaben gewonnen wurden. Dies hat den Vorteil, daß alle Abkömmlinge der erfolgreich behandelten Stammzellen das gesunde Gen in sich tragen; im Idealfall wäre also die Krankheit mit einer einzigen Behandlung geheilt.

Leider ist es bei Kindern und Erwachsenen äußerst schwierig, die seltenen Stammzellen aufzuspüren und aus dem Knochenmark herauszulocken. In neueren Experimenten hat Gentherapie-Pionier Michael Blaese jedoch auch dieses Problem in Angriff genommen. Im niederländischen Rijswijk wartet außerdem Dinko Valerio auf eine Gelegenheit, seine Version des Gentransfers in Stammzellen an einem der seltenen Patienten mit ADA-Defizienz zu erproben.

Während bei dieser Immunschwächekrankheit weltweit eine Übermacht von Ärzten und Molekularbiologen einer vergleichsweise winzigen Zahl von Patienten gegenübersteht, sieht die Situation bei der Zystischen Fibrose, auch Mukoviszidose genannt, ganz anders aus. „Allein in Deutschland gibt es rund 10000 Patienten, deren mittlere Lebenserwartung beträgt 24 Jahre“, erklärte der Britische Molekularbiologe Robert Williamson.

Die Zellen der Patienten produzieren ein fehlerhaftes Eiweiß, welches bei Gesunden den Export von Natrium- und Chloridionen übernimmt. Ist der Ionentransporter defekt, bildet sich in Lunge und Magen-Darm-Trakt ein zähflüssiger Schleim. Die Kranken sind extrem anfällig für Infektionen durch Pilze, Bakterien und Viren, außerdem ist die Nahrungsverwertung gestört. Schuld ist ein schadhaftes Gen, bei dem in den meisten Fällen nur ein einziger von rund 300000 Bausteinen fehlt.

Williamson, der am Londoner St. Mary’s Hospital arbeitet, wird als einer der Ersten versuchen, diesen Erbdefekt mit den Methoden der modernen Biologie zu korrigieren. Statt wie seine amerikanischen und französischen Kollegen auf Viren zu setzen, hat Williamson seine Therapiegene in winzige Fettkügelchen – sogenannte Liposomen – verpackt. Sie sollen mit einem Aerosol bis in die feinsten Verästelungen der menschlichen Lunge gelangen und mitsamt der heilbringenden Erbsubstanz von den geschädigten Zellen der Luftwege aufgenommen werden. Die gesunden Gene werden dann ausgepackt und sind, wie Tierversuche andeuten, bis zu hundert Tagen in der Lage, die Produktion des fehlenden Eiweißes zu steuern. Danach müßte die Prozedur wiederholt werden.

Wenn der Gentransfer nur bei jeder zwanzigsten Zelle funktioniert, wäre das Problem nach Ansicht von Williamson gelöst. Ob das Versprechen gehalten werden kann, wird sich bald zeigen: Mit
umgebauten Erkältungsviren hat Ronald Crystal vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA vor wenigen Wochen den ersten Patienten behandelt.

Eher zögerlich geht man inzwischen auch in Deutschland ans Werk. Während sich in den USA schon 1984 die erste Ethikkommission mit Möglichkeiten und Folgen der Gentherapie auseinandersetzte, hat Gesundheitsminister Horst Seehofer erst vor kurzem eine Arbeitsgruppe zum Thema einberufen. Sie soll „überprüfen, ob der gegenwärtige rechtliche Rahmen angesichts der sich abzeichnenden stürmischen Entwicklung“ ausreicht. Die in Forscherkreisen weitverbreitete Haltung, ein Gentransfer sei im Prinzip mit einer Organtransplantation vergleichbar und bereite daher keine neuartigen Probleme, findet bei Politikern und in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Zustimmung.

Neben Roland Mertelsmann, der seine Genehmigung schon in Händen hält, planen derzeit noch vier weitere deutsche Arbeitsgruppen den Einstieg in die Gentherapie. Sie werden große Mühe haben, den Hoffnungen todkranker Patienten und den kühnen Prognosen optimistischer Wissenschaftler gerecht zu werden: „In 50 Jahren werden 50 Prozent aller Behandlungen das Prinzip Gentherapie nutzen“, lautet die Vision von Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 30. Juli 1993)

Überleben mit dem Aidsvirus

Seit 15 Jahren ist Aldyn McKean mit dem Immunschwächevirus infiziert. Trotzdem erfreut sich der New Yorker bester Gesundheit. Warum der Aids-Aktivist nicht schon lange der drohenden Krankheit erlegen ist, weiß niemand. Von der Antwort auf dieses medizinische Rätsel erhoffen sich Wissenschaftler wichtige Hinweise auf neue Strategien im Kampf gegen den Erreger, der nach neuesten Schätzungen schon 14 Millionen Menschen befallen hat.

McKean ist kein Einzelfall: Einige Experten hielten es vor einigen Wochen auf dem 9. Internationalen Aids-Kongreß in Berlin sogar für ausgemacht, daß etwa fünf Prozent der HIV-Infizierten nicht an Aids erkranken. Die Vertreter der Gegenposition behaupten, daß die bisher beobachteten Überlebenszeiten durchaus mit statistischen Schwankungen erklärt werden können. Langzeitüberlebende wären aus dieser Sicht „noch nicht Erkrankte“, die ihre gewonnenen Lebensjahre dem Zufall verdanken.

Doch Aldyn McKean glaubt nicht an Zufälle. Seine eigene Theorie stellt die Persönlichkeit des Infizierten in den Mittelpunkt: „Es ist wichtig, wie man mit der Krankheit umgeht und welche Einstellung man zum Leben hat.“

Soziologen haben überdies beobachtet, daß die meisten Langzeitüberlebenden in festen Beziehungen leben und viel Unterstützung von ihren Mitmenschen erhalten. Andererseits glaubt kaum jemand, daß das Virus sich allein durch positives Denken in Schach halten läßt.

Fritz von Griensven vom Gesundheitsdienst der Stadt Amsterdam, hält es wie zahlreiche seiner Kollegen für wahrscheinlicher, daß eine weniger gefährliche Variante des Immunschwächevirus am Werk ist, welche die körpereigene Abwehr nicht zu überwältigen vermag, sondern im Gegenteil eher stärkt. Eine Parallele dazu: Bei vielen Viruskrankheiten wie Kinderlähmung, Pocken oder Masern werden im Labor geschwächte Varianten des Erregers oder dessen harmlose Verwandte mit großem Erfolg zur Impfung benutzt.

Für David Schwarz und sein Team von der Johns-Hopkins-Universität im amerikanischen Baltimore ist diese entfernte Möglichkeit Grund genug, die Viren im Körper von Langzeitüberlebenden genauestens unter die Lupe zu nehmen. Bei einer 42jährigen, auch heute noch gesunden Amerikanerin, die sich 1981 durch eine Bluttransfusion infiziert hatte, scheiterte Schwarz immer wieder an dem Versuch, infektiöse Viruspartikel aus dem Blut zu isolieren.

Schließlich gelang es dem Team aber doch mit einer äußerst empfindlichen molekularbiologischen Methode (der Polymerasekettenreaktion), die Erbsubstanz des Virus in den Zellen der Frau aufzuspüren und zu vermehren. Die Reihenfolge der Bausteine im Erbmaterial des Virus verglichen die Wissenschaftler dann mit den Daten bereits bekannter HIV- Varianten. Dabei spürten sie zwar zwei verschiedene Virustypen auf; große Unterschiede in der Gensequenz konnten aber bisher nicht nachgewiesen werden.

Andere Forschungsgruppen konzentrieren sich derweil auf eine zweite Möglichkeit: Vielleicht gibt es genetische Unterschiede zwischen Langzeitüberlebenden und „normalen“ Menschen. Eine Art Schutz-Gen glaubt beispielsweise Miles Cloyd von der Universität Texas in Galveston gefunden zu haben. Diese Erbanlage soll laut Cloyd nur bei wenigen Menschen vorkommen und Ähnlichkeit mit einem Resistenz-Gen (Fv-1) der Maus haben.

Im Labor gelang es dem Mediziner auch, Zellkulturen durch den Einbau des Schutz-Gens vor der Zerstörung durch HIV zu bewahren. Schutz-Gene könnten auch erklären, warum beispielsweise Schimpansen und andere Affenarten nicht an Aids erkranken, obwohl das Virus sich sehr wohl im Körper der Tiere ausbreiten kann.

Fasziniert sind die Wissenschaftler auch von einem anderen Phänomen: Unter 260 Prostituierten aus Nairobi fand ein kanadisch-kenianisches Forscherteam 25 Frauen, die sich allen Wahrscheinlichkeitsrechnungen zum Trotz nicht mit HIV infiziert haben. Mindestens drei Jahre hatten die Frauen fast täglich ungeschützten Sex mit bis zu zehn Kunden. Da in der Hauptstadt Kenias fast jeder zehnte Kunde das Virus in sich trägt, kann es sich unmöglich um einen glücklichen Zufall handeln, wie Neil Simonsen von der kanadischen Manitoba-Universität in Berlin vorrechnete.

Die scheinbare Resistenz, die auch bei einigen Homosexuellen, Blutern und Transfusionsempfängern beobachtet wurde, will er mit individuellen Unterschieden in der Struktur weißer Blutzellen begründen: Auf deren Oberfläche sitzen – von Mensch zu Mensch verschieden geformte – Eiweißmoleküle, die es der Immunabwehr ermöglichen, eigene von fremden Zellen zu unterscheiden. Möglicherweise verfügen die Prostituierten über einen sehr seltenen Typ dieser sogenannten HLA-Moleküle. Fremde Blutzellen, in denen sich das Aidsvirus versteckt, sollten daher zu einer starken, möglicherweise schützenden Abwehrreaktion führen.

Eine andere Spur verfolgt Jay Levy, Mediziner an der Universität von Kalifornien in San Francisco. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die unterschiedliche Entwicklung in der Zahl der sogenannten CD4-Zellen, den bevorzugten Opfern des Virus. Bei Gesunden finden sich etwa 1000 von ihnen in einem Mikroliter (Millionstel Liter) Blut. Nach der Infektion fällt die Zahl dieser Abwehrzellen in der Regel auf die Hälfte herab. Doch erst bei Werten unterhalb von 200 CD4-Zellen, verschlechtern sich die Aussichten des Patienten dramatisch.

Der „CD4-Count“ wird daher von den meisten Infizierten mit großer Sorge verfolgt. Er stabilisiert sich bei den Langzeitüberlebenden in der Regel bei über 500 – irgendetwas bewahrt die verbleibenden CD4-Zellen vor dem Untergang. Levy glaubt nun, daß weiße Blutzellen des Typs CD8 den Schutzeffekt vermitteln können, wenn sie zuvor aktiviert wurden. Eine einzige dieser CDS-Zellen kann bei Langzeitüberlebenden 20 mit HIV infizierte CD4-Zellen in Schach halten. Dagegen ist das Verhältnis bei Aidskranken genau umgekehrt, vermutlich, weil die CD8- Zellen bei ihnen eben nicht angeregt wurden.

Wie aber geht nun die Aktivierung der CD8-Zellen vor sich? Und läßt sich dieser Prozeß auch bei anderen HIV-Infizierten auslösen? Jay Levy jedenfalls beantwortet die letzte Frage positiv: „Alle HIV- Infizierten könnten eines Tages zu Langzeitüberlebenden werden“, sagte er in Berlin. Voraussetzung sei allerdings ein äußerst präziser Eingriff in das hochkomplizierte Regelwerk des menschlichen Immunsystems. Dutzende verschiedener Zelltypen produzieren dort eine Vielzahl von Botenstoffen, mit denen die Aktivität aller Komponenten je nach Bedarf angekurbelt oder gebremst wird. Und Levy glaubt, in diesem Spiel die „Guten“ von den „Bösen“ unterscheiden zu können:

Eine Untergruppe der CD4-Zellen (TH1) produziert die Wachstumsfaktoren Interleukin-10 und Gamma-Interferon – körpereigene Substanzen, die als Angriffssignale für die CD8-Zellen dienen. Deren Gegenspieler (TH2) lösen dagegen lediglich die Produktion von Antikörpern aus, ohne jedoch dem HIV-Infizierten dadurch zu helfen. Schlimmer noch: „Wir sagen voraus, daß die TH2- Zellen die CD8-Zellen unterdrücken und so die Krankheit auslösen.“ Andererseits sollte „alles, was TH1 unterstützt und TH2 unterdrückt, das Virus in Schach halten“.

Trifft diese Annahme zu, dann wäre die Gabe von Interleukin-10 an HIV-Infizierte der nächste logische Schritt, um das Gleichgewicht in die gewünschte Richtung zu verschieben, meint Levy. Klinische Versuche werden zeigen müssen, ob der optimistische Theoretiker halten kann, was er verspricht.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 15. Juli 1993)

Einer gegen den Rest der Welt

Einen Tag lang hatte Professor Richard Lindzen seine Zuhörer beschworen, einer überwältigenden Mehrheit der weltbesten Klimaforscher keinen Glauben zu schenken. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine vom Menschen verursachte globale Erwärmung, so das Credo des streitbaren Amerikaners. Jegliche Maßnahmen zum Klimaschutz seien überflüssig, ja gefährlich, weil sie Geld verschlingen würden, das anderswo besser investiert wäre.

Vor der Enquete-Kommission des Bundestages zum Schutz der Erdatmosphäre, die Lindzen vergangene Woche nach Bonn eingeladen hatte, fand der angesehene Klimatologe zwar geduldige Zuhörer, überzeugen konnte er aber nicht. „Die Kommission beschäftigt sich seit über fünf Jahren mit diesem Thema. Die heutige Diskussion konnte an unserer Einschätzung zum menschgemachten Treibhauseffekt und seinen Folgen nichts ändern“, sagte der Vorsitzende Klaus Lippold, bevor man den Gast verabschiedete.

Am Zentrum für Meteorologie des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA, war Lindzen zu dem Schluß gekommen, daß die Gleichungen in den komplexen Klimamodellen seiner Kollegen allzu viele Unbekannte aufwiesen, um daraus verläßliche Prognosen abzuleiten.

Umstritten ist vor allem die Rolle des Wasserdampfes im globalen Klimageschehen. Wasserdampf trägt weitaus mehr zum natürlichen Treibhauseffekt bei als alle anderen Spurengase zusammen. Die Aufmerksamkeit der Klimatologen galt aber bisher fast ausschließlich dem Kohlendioxid (CO2), das bei der Atmung und beim Verbrennen von Holz, Kohle, OI und Gas freigesetzt wird. Sein Anteil an den Gasen der irdischen Lufthülle hat seit Beginn der industriellen Revolution um ein Drittel zugenommen, wobei ein noch stärkerer Anstieg durch die Ozeane verhindert wurde. Sie dienen als Zwischenspeicher, die etwa die Hälfte des von Menschen seit 1800 erzeugten Kohlendioxids aufgenommen haben.

Physikalische Gesetzmäßigkeiten besagen, daß eine Verdoppelung des CO2-Gehaltes der Atmosphäre einen Anstieg der mittleren globalen Temperatur um 0,5 bis 1,2 Grad Celsius zur Folge hätten, wenn alle anderen Faktoren konstant blieben. Hier endet aber auch schon die Übereinstimmung zwischen Lindzen und den 250 von der UNO beauftragten Wissenschaftlern, die sich im „Zwischenstaatlichen Ausschuß zur Klimaänderung“ (Intergovernmental Panel and Climate Change, kurz IPCC) zusammengefunden haben.

Stärkere Temperaturerhöhungen – wie sie vom IPCC vorausgesagt werden – beruhen auf der Annahme, daß die einmal angestoßene Veränderung sich selbst verstärkt. Dieses Modell einer „positiven Rückkoppelung“ geht davon aus, daß eine verhältnismäßig geringe Erwärmung durch Kohlendioxid die Verdunstung aus den Weltmeeren erhöht und dadurch mehr Wasserdampf – das wichtigste Treibhausgas – in die Atmosphäre gelangt. Dieser sollte dann laut IPCC die Temperatur weiter erhöhen, so daß es bis zum Ende des 21. Jahrhunderts auf der Erde vier bis fünf Grad wärmer wäre als heute.

Lindzen bestreitet nun seit längerem energisch, daß die Erhöhung der Erdtemperatur zu einem Anstieg der Wasserdampf-Konzentration in der Atmosphäre führt. Aus seinen komplizierten Modellen zur Bildung tiefstehender Wolken und zum Transport von Feuchtigkeit und Wärme in diesen sogenannten Kumulonimbus-Türmen glaubt er vielmehr ableiten zu können, daß unter dem Strich weniger Wasserdampf in die Atmosphäre gelangt.

Nach den Vorstellungen Lindzens funktionieren diese Wolkengebilde wie ein Fahrstuhl, mit dem feuchte Luft- und damit Wasserdampf – vom Erdboden in höhere Schichten der Atmosphäre transportiert wird. Wegen des niedrigeren Drucks dehnt sich die Luft in größerer Höhe aus; sie wird kälter. Der überschüssige Wasserdampf kondensiert deshalb zu Wasser oder Eis und fällt größtenteils als Niederschlag auf die Erde zurück. Wenn nun die Erdoberfläche wärmer wird, sollte die Luft in den Wolken größere Höhen erreichen und dort weniger Wasserdampf abladen.

Vorzeichen vertauscht

Die gängigen Computermodelle würden daher mit vertauschten Vorzeichen rechnen und falsche Resultate liefern, bilanzierte Lindzen vor der Bonner Wissenschaftspressekonferenz. Dem widersprach Hartmut Graßl, Direktor des MaxPlanck-Instituts für Meterologie in Hamburg und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats „Globale Umweltveränderungen“ der Bundesregierung: „Eine negative Rückkoppelung beim Wasserdampf ist Geschichte und wird daher zu Recht in den aktuellen Rechnungen nicht mehr berücksichtigt.“ Lindzens Modell treffe vielleicht für die Tropen zu, im globalen Maßstab gebe es dafür aber keine Belege.

Wasserdampf ist aber für Lindzen nicht der einzige umstrittene Punkt. Der amerikanische Wissenschaftler griff auch die Formulierung der IPCC-Wissenschaftler an, die bisher gewonnenen Meßdaten würden mit einer vom Menschen verursachten Erwärmung übereinstimmen. „Das ist lediglich eine Umschreibung für: „Wir wissen es nicht“, schimpfte der Amerikaner, der außerdem glaubt, ein wesentliches Motiv für die Warnungen seiner Kollegen ausgemacht zu haben: „In Zeiten knapper Haushaltsmittel haben sich Ankündigungen ökologischer Katastrophen als wirksame Grundlage für finanzielle Forderungen der Wissenschaft erwiesen.“ Allzu bereitwillig gehe die Öffentlichkeit heute davon aus, daß man handeln müsse, wenn man ein Risiko nicht mit Sicherheit ausschließen kann.

Mit derartigen Behauptungen stieß Lindzen bei seinen Gastgebern auf wenig Verständnis. „Wer früh beginnt, muß weniger tun und es tut weniger weh“, erläuterte Hartmut Graßl den deutschen Standpunkt. Stellvertretend für die überwältigende Mehrheit seiner Kollegen wies er auch die Behauptung zurück, die Prognosen moderner Computermodelle stimmten nicht mit den beobachteten Daten überein. Unter anderem sagten die Modelle einen Meeresspiegelanstieg und den Schwund von Gebirgsgletschern sowie Schneebedeckung voraus. Dies wurde ebenso bestätigt wie die mittlere Erwärmung am Erdboden, ein verstärkter Wasserkreislauf in den Tropen und erhöhte Winterniederschläge in gemäßigten Breiten.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 1. Juli 1993)

Urahn des AIDS-Virus gefunden?

Auf der Suche nach dem „Urahnen“ des menschlichen Aids-Virus HIV-I hat eine Münchner Forschergruppe das bislang urtümlichste Immunschwächevirus aufgespürt. Lutz Gürtler, Josef Eberle und Albrecht von Brunn vom Max-von-Pettenkofer-Institut der Universität berichteten über ihren aufsehenerregenden Fund auf der 9. Internationalen Aids-Konferenz, die kürzlich in Berlin stattfand.

Das Virus, dem die Biologen den Namen MVP 5180 gaben, wurde aus den weißen Blutzellen einer aidskranken Frau aus Kamerun isoliert, die im vergangenen Jahr an der Immunschwäche starb. Eine Untersuchung bei 261 Einwohnern des westafrikanischen Landes, die mit HIV-1 infiziert waren, ergab, daß MVP 5180 bei jedem zwölften Patienten nachzuweisen war. In Deutschland blieb die Suche nach dem neuen Virustyp dagegen bislang ebenso erfolglos wie in den afrikanischen Staaten Elfenbeinküste und Malawi.

Bei einer genauen Analyse des Erbguts stellte das Team um Lutz Gürtler fest, daß MVP 5180 sich von allen bisher bekannten menschlichen HIV-1-Typen deutlich unterscheidet. Sogar das aus Schimpansen isolierte Immunschwächevirus SIV scheint näher mit dem „gewöhnlichen“ HIV-1 verwandt zu sein als der Stamm, den die Münchner in Händen haben.

Spekulationen darüber, ob MVP 5180 das langgesuchte Verbindungsglied zu dem zweiten bekannten menschlichen Aidsvirus (HIV-2) darstellt, halten die Münchner allerdings für verfrüht. Glücklicherweise kann MVP 5180 mit den gebräuchlichen Bluttests nachgewiesen werden, die Sicherheit von Transfusionen ist demnach gewährleistet.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 24. Juni 1993.)

Originalarbeit: Gürtler LG, Hauser PH, Eberle J, von Brunn A, Knapp S, Zekeng L, Tsague JM, Kaptue L. A new subtype of human immunodeficiency virus type 1 (MVP-5180) from Cameroon. J Virol. 1994 Mar;68(3):1581-5. doi: 10.1128/JVI.68.3.1581-1585.1994.

Robert Gallo: Ideen gegen AIDS

Beim Duell der Rivalen gab es dieses Jahr auf der 9. Internationalen Aidskonferenz einen klaren Sieger: In Berlin gewann der Amerikaner Robert Gallo gegen den Franzosen Luc Montagnier deutlich nach Punkten. Gallo ist Abteilungsleiter am Nationalen Krebsinstitut der USA und wird von Kollegen und Konkurrenten gleichermaßen als brillant, erfolgreich und wenig zimperlich bei der Wahl seiner Mittel beschrieben. Er hatte den Delegierten einen bunten Strauß von Vorschlägen mitgebracht. Montagnier dagegen, der das Virus vor zehn Jahren am Pariser Pasteur-Institut als erster isolierte, konnte in diesem Jahr nur wenig Neues präsentieren.

„Viren gegen Viren“ lautet einer von Gallos Schlachtrufen, seit andere Wissenschaftler herausgefunden haben, daß ein scheinbar harmloses Herpesvirus die gleichen Bindungsstellen auf der Oberfläche bestimmter Immunzellen benutzt wie HIV, das tödliche Immunschwäche-Virus. Nur wenn das Aidsvirus an diese Bindungsstellen – die sogenannten CD4-Rezeptoren andocken kann, gelangt es auch ins Zellinnere, um dort sein zerstörerisches Werk zu beginnen. Gallo schlägt deshalb vor, Bruchstücke des gutartigen Herpesvirus in großen Mengen herzustellen. Im Körper von Gesunden und bereits infizierten Menschen könnten diese Bruchstücke dann möglicherweise alle Bindungsstellen besetzen und so das Eindringen und die Ausbreitung des Aidsvirus verhindern. Erste Versuche in diese Richtung sind bereits angelaufen, bisher allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Gallo hofft dennoch, damit „einen neuen Weg bei der Behandlung von Aids“ zu eröffnen.

Ein zweiter Vorschlag – ebenfalls von Gallo unterbreitet – ließ die anwesenden Wissenschaftler aufhorchen. „Es mag ein wenig seltsam klingen“, sagte er, „aber man könnte auch bestimmte Bestandteile befallener Immunzellen ins Visier nehmen, statt immer nur auf das Virus zu zielen.“ Der Vorstoß entbehrt nicht einer gewissen Logik, denn Viren sind als nahezu perfekte Parasiten darauf angewiesen, eine Vielzahl von Eiweißen zu nutzen, die von der Wirtszelle produziert werden. Wenn es gelänge, einen dieser Biokatalysatoren in infizierten Zellen lahmzulegen, ohne gleichzeitig die gesunden Nachbarn allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, wäre auch das ein vielsprechender Ansatz, glaubt Gallo.

Natürlich hat er auch schon einen Kandidaten ausgespäht: Ribonukleotid-Reduktase heißt das Eiweiß. In allen Zellen produziert es die Bausteine (Nukleotide), aus denen anschließend die Erbsubstanz DNA zusammengesetzt wird. Mit einer schon lange bekannten Laborchemikalie – Hydroxyharnstoff – läßt sich dieser Prozeß zwar nicht vollständig, aber doch so weit unterbinden, daß in der Zelle nur noch geringe Mengen an DNA-Bausteinen zur Verfügung stehen. Weil das Aidsvirus auf einen großen Vorrat von Nukleotiden angewiesen ist, um sich im Körper wirkungsvoll zu verbreiten, hofft Gallo, es mit Hydroxyharnstoff in Schach halten zu können. HIV würde dann zwar immer noch in infizierten Zellen schlummern, in diesem Stadium ist die Gesundheit des Virusträgers jedoch nicht merklich beeinträchtigt.

Zukunftsmusik zumindest bei der Behandlung oder Verhinderung einer HIV-Infektion ist gegenwärtig noch die Gentherapie. Mit Hilfe von im Labor „kastrierten“ Verwandten des Aidsvirus sollen dabei schützende Erbanlagen auf die gefährdeten Immunzellen übertragen werden. Selbst Gallo gibt zu, nicht sicher zu sein, ob diese Idee nicht auch in Zukunft bloßes Wunschdenken bleiben wird. Zwar gelang es im Tierversuch tatsächlich, bestimmte Viren als „Gentaxis“ zu benutzen, ihre heilbringende Fracht konnten sie jedoch bisher nur bei einem kleinen Bruchteil der Zellen abladen, die es zu schützen gilt.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Gentherapie wäre es aber, 100 Prozent derjenigen Immunzellen zu erreichen, die normalerweise von dem Aidsvirus angesteuert werden. Regelrecht in Mode gekommen ist in letzter Zeit die sogenannte Antisense-Technik. Mit ihr wollen die Forscher bestimmte Gene des Aidsvirus gezielt abschalten. Antisense-Moleküle, die mittlerweile in vielen Labors kiloweise produziert werden, sollen sich an besonders wichtige Abschnitte des viralen Erbguts ankoppeln und so die Vermehrung verhindern. In Zellkulturen funktioniert die Technik bereits. Einer Handvoll Arbeitsgruppen ist es auf diese Weise sogar gelungen, die Vermehrung von Aidsviren über Monate hinweg völlig zu unterbinden.

Die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit zeigen allerdings, daß es vom Reagenzglas bis zum Krankenbett ein weiter Weg ist. Es steht zu befürchten, daß die meisten Menschen, die heute bereits mit dem Virus infiziert sind, diese Wartezeit nicht überleben werden.

(erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 19. Juni 1993)

Noch kaum Gentech-Arzneien aus Deutschland

Auch wenn die Gentechnik immer häufiger die Schlagzeilen beherrscht – auf dem bundesdeutschen Arzneimittelmarkt spielen die Erzeugnisse der modernen Biologie vorerst nur eine untergeordnete Rolle, zumindest was die Zahl der zugelassenen Präparate betrifft. Rund 57000 Arzneimittel sind derzeit in deutschen Apotheken erhältlich. Unter ihnen befinden sich nach Angaben des Berliner Bundesgesundheitsamtes gerade 176 Präparate aus gentechnischer Produktion.

Selbst diese Zahl täuscht eine Vielfalt vor, die es gar nicht gibt: „Aus Gründen der Arzneimittelsicherheit“ wird jede Darreichungsform und jede Dosierung gesondert gezählt. Auch Medikamente, die unter verschiedenen Namen den gleichen Wirkstoff enthalten, werden jeweils separat erfaßt. Gentechnisch hergestelltes Insulin für Zuckerkranke erscheint deshalb gleich 60-mal auf der Liste. Den Markt teilen sich der dänische Biotechnologie-Konzern Novo Nordisk und die amerikanische Firma Eli-Lilly.

Die Frankfurter Hoechst AG, einer der weltweit größten Insulin-Produzenten, ist dagegen gezwungen, Insulin weiterhin aus den Bauchspeicheldrüsen geschlachteter Schweine zu isolieren. Täglich müssen dafür rund elf Tonnen tierischer Organe von 100000 Tieren verarbeitet werden. Zwar verfügt auch der deutsche Pharmariese über das Know-How zur gentechnischen Insulin-Herstellung samt zugehöriger Patente und einer 100 Millionen Mark teuren Produktionsanlage.

Was fehlt ist jedoch die erforderliche Produktionserlaubnis. Nach jahrelangem Streit mit der zuständigen Genehmigungsbehörde, dem Regierungspräsidium in Gießen, war zum 1. Januar zunächst der Probebetrieb genehmigt worden. In öffentlichen Anhörungen soll ab Juni der Antrag auf „Produktion von Humaninsulin mit gentechnisch veränderten Bakterien“ erörtert werden.

In Frankfurt macht man die im Gentechnikgesetz vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung und die „politische Situation“ im rot-grün regierten Bundesland Hessen für die Verzögerungen verantwortlich. Der für die Biotechnologie zuständige Sprecher der Firma, Dr. Dieter Brauer, schildert die Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen: „Es ist für uns nicht zumutbar, hier ein Produkt zu entwickeln. Unsere Anlagen in den USA, in Frankreich und in Japan wurden deshalb in den letzten 18 Monaten entsprechend ausgebaut.“ Ebenfalls im Ausland läßt Hoechst derzeit eine Reihe von Substanzen prüfen, vom blutgerinnsellösenden Eiweiß Hirudin bis zum Blutgerinnungsfaktor XIII.

Das Pech der Hoechster scheint auch deren Tochterfirma anzuhaften, den Marburger Behring-Werken, die erst kürzlich die Produktion von Erythropoietin (Epo) einstellen mußten. Im Patentstreit um das blutbildende Eiweiß zog man den Kürzeren gegenüber der amerikanischen Konkurrenz. Die juristische Auseinandersetzung bedroht auch den zweiten deutschen Epo-Anbieter, Boehringer Mannheim, wo die Bioreaktoren gegenwärtig allerdings noch weiterlaufen. Rund 20000 deutsche Dialysepatienten erhalten die Substanz regelmäßig um die Vermehrung der roten Blutkörperchen anzuregen und dadurch Müdigkeit und Leistungsschwäche zu bekämpfen. Gegen einen Mangel an weißen Blutkörperchen hat die US-Firma Amgen den Granulozyten-Kolonien-stimulierenden Faktor (G-CSF) verfügbar gemacht. Er trägt unter anderem dazu bei, die Nebenwirkungen einer Chemotherapie abzumildern.

Langsamer als erwartet verläuft indes die Markteinführung des Tumor Nekrose Faktors (TNF), der in der Krebstherapie und möglicherweise bei der Behandlung von Unfallopfern zum Einsatz kommen soll. Noch vor wenigen Jahren war die Fachwelt entzückt über die Fähigkeit des Moleküls, Krebsgeschwulste im Tierversuch regelrecht aufzulösen. Inzwischen mehren sich die Hinweise auf gravierende Nebenwirkungen, möglicherweise begünstigt TNF sogar die Entstehung von Tochtergeschwüren.

Trotz der gedämpften Erwartungen hält man bei der Ludwigshafener BASF-Tochter Knoll AG daran fest, daß die klinischen Daten die Weiterentwicklung rechtfertigten. Seit zwei Jahren liegt eine Produktionserlaubnis für jährlich 500 Gramm vor. Diese Menge wäre ausreichend, um ganz Europa zu versorgen – doch steht die gesetzliche Zulassung noch aus.

Weitgehend unberührt von den Problemen der deutschen Hersteller scheint man allein im schwäbischen Biberach. Dort produziert die Dr. Karl Thomae GmbH mit Hilfe gentechnisch veränderter Hamsterzellen den „menschlichen Plasminogenaktivator“. Das Eiweiß ist in der Lage, Blutgerinnsel innerhalb kürzester Zeit aufzulösen und kommt daher beim Herzinfarkt zum Einsatz. Im vergangenen Jahr erzielte das Medikament unter dem Marktnamen Actilyse einen weltweiten Umsatz von 155 Millionen Mark.

Doch selbst diese Bilanz offenbart bei näherer Betrachtung einige Schönheitsfehler: So wurde der überwiegende Teil der Entwicklungsarbeiten von der kalifornischen Pionierfirma Genentech geleistet. In Biberach produziert man lediglich als Lizenznehmer der Amerikaner. Außerdem kam eine groß angelegte klinische Studie (ISIS-III) zu dem Schluß, das Konkurrenzpräparat Streptokinase, das seit 17 Jahren mit konventionellen Methoden aus Bakterien isoliert wird, sei genauso wirksam wie der menschliche Plasminogenaktivator (t-PA) und würde überdies seltener zu schweren Nebenwirkungen führen. Der für die Krankenkassen gewichtigste Unterschied aber ist der Preis: t-PA kostet zehnmal so viel wie Streptokinase.

Verständlich, daß sich Professor Rolf Werner bemüht, die ISIS-Studie auseinander zu nehmen. Schuld sei das „weniger wirksame“ t-PA des Konkurrenten Wellcome, welches zum Vergleich herangezogen wurde, sagte der Leiter der biotechnologischen Produktion. Neue Studien, die allerdings noch nicht abgeschlossen sind, sollen schon bald die Überlegenheit des menschlichen t-PA über die bakteriellen Billigeiweiße untermauern.

Weniger wirksam als erhofft sind ohne Zweifel die Interferone, welche bis vor wenigen Jahren als „Wundermittel gegen den Krebs“ gepriesen wurden. Die vielen Vertreter dieser Substanzklasse werden auf dem deutschen Markt unter anderem von Hoffmann-La Roche, Schering-Plough, Basotherm und Biogen verkauft, nicht jedoch von einheimischen Unternehmen. Obwohl auch die Interferone den überhöhten Erwartungen nicht gerecht werden konnten, kommen sie heute im Kampf gegen verschiedene Hepatitisviren und gegen Herpes-Infektionen des Auges zum Einsatz. Außerdem haben sie sich bei einer seltenen Art von Blutkrebs und bei einer besonders schweren Form der Arthritis bewährt.

Die verwandten Interleukine werden seit vier Jahren als Therapeutika eingesetzt bei so verschiedenen Krankheiten wie Aids, Krebs und rheumatoider Arthritis. Ein halbes Dutzend Anbieter teilen sich hier den Markt, zumindest vorerst ohne deutsche Beteiligung. Weltweit stecken derzeit nach Angaben von Professor Jürgen Drews rund 140 gentechnisch produzierte Medikamente in der klinischen Prüfung. Der Forschungs- und Entwicklungskoordinator bei Hoffmann-La Roche schätzt, daß etwa ein Drittel dieser Produkte die Tests überstehen und in etwa sechs Jahren zur Verfügung stehen werden.

Trotz ihrer geringen Zahl haben die heute zugelassenen Produkte aus dem Genlabor dem Gros der „normalen“ Pillen und homöopathischen Mittelchen einiges voraus: Sie haben äußerst strenge Prüfverfahren hinter sich gebracht. Nur jedes fünfte in Deutschland erhältliche Medikament kann dies für sich in Anspruch nehmen. Der Rest wurde noch vor Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1978 auf den Markt geworfen und konnte wegen chronischer Überlastung der obersten Gesundheitswärter noch immer nicht auf Herz und Nieren geprüft werden.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 18. Juni 1993)