Der weltweit erste Versuch zur Gentherapie am Menschen scheint ein Erfolg zu werden. Behandelt wurde ein vier Jahre altes Mädchen, dessen Identität noch geheim ist. Es produziert nach dreimonatiger Therapie jetzt wieder aus eigener Kraft einen Eiweißstoff, der sie vor einer tödlichen Stoffwechselkrankheit schützt. „Dies sind nur die ersten vorläufigen Ergebnisse, aber wir sind darüber sehr aufgeregt“, sagte French Anderson vom Nationalen Herz-, Lungen- und Blutinstitut der USA.

Bei der ADA-Defizienz, so der Name der äußerst seltenen Erbkrankheit, wird aufgrund eines Gendefekts keine Adenosindeaminase (ADA) produziert. Der Mangel an diesem Eiweiß führt zu einer Vergiftung der menschlichen Abwehrzellen und zum Zusammenbruch des Immunsystems. Der Körper ist dann den Angriffen von Bakterien und Viren schutzlos ausgeliefert. Weltweit sind nur 25 Patienten bekannt, die unter der ADA-Defizienz leiden. Ihre Lebenserwartung reicht bisher nicht über die frühe Kindheit hinaus.

Die Krankheit war schon sehr früh als aussichtsreicher Kandidat für eine Gentherapie auserkoren worden. Bereits 1986 hatten Anderson und seine Kollegen Michael Blaese und Kenneth Culver ihre Methode im Reagenzglas erfolgreich durchgeführt. Dann mussten sie ihr Behandlungsschema noch einem Dutzend Komitees zur Begutachtung vorlegen, bis endlich im September die Genehmigung für den Eingriff erteilt wurde. Noch im gleichen Monat spritzen die Ärzte dem Mädchen rund zehn Milliarden gentechnisch veränderte Immunzellen in die Blutbahn.

In die Zellen, die zuvor der Patientin entnommen worden waren, hatten die Mediziner ein gesundes Gen mit der Information zur Herstellung von ADA eingeschmuggelt. Die Ärzte bedienten sich dabei eines Mäusevirus als „Genfähre“, die das kleine Stückchen Erbinformation in die Immunzellen einbrachte.

Gegen diese Methode des Gentransfers hatte es vorher Einwände von Kritikern gegeben. Bei der Übertragung von Genen, die im Tierversuch schon mehrfach erfolgreich erprobt wurden, besteht die Schwierigkeit darin, nur die gewünschten Zielzellen zu treffen. Das Gen sollte dann im Idealfall genau an die Stelle platziert werden, an der es natürlicherweise vorkommt. Da beispielsweise die menschliche Erbinformation in jeder Zelle ungefähr einen Meter lang ist und sich dort etwa 100.000 Gene befinden, ist die Gentherapie eine herausragende Aufgabe.

Zusätzliche Probleme können entstehen, wenn das eingebrachte Fremdgen sich zwischen wichtige Erbinformationen einschiebt und diese dadurch unleserlich macht. Auch fürchten Kritiker, dass durch solch einen Vorgang sogenannte Onkogene aktiviert werden könnten, die unter ungünstigen Umständen zur Bildung von Tumoren führen.

Bisher sieht alles danach aus, als ob sich diese Befürchtungen nicht bestätigen. Während das Mädchen bislang fast ständig krank war, erlitt es seit Beginn der Behandlung nur einen Schnupfen. Vorläufig allerdings warnt Blaese vor übertriebenen Hoffnungen. „Wir wissen noch nicht, ob dies auf unsere Behandlung zurückzuführen ist – dennoch, die Resultate sind ermutigend.“

Sollte sich die gute Nachricht bewahrheiten, könnte die Gentherapie auch bei vielen anderen Krankheiten zum Einsatz kommen. Ein zweites Experiment an einer kleinen Gruppe von Patienten mit normalerweise tödlichem Hautkrebs (Melanom) ist bereits angelaufen.

(Original erschienen in der WELT am 19. Dezember 1990. Überarbeitet am 5. Juni 2017)

Was ist daraus geworden? French Anderson gilt heute zu Recht als Pionier der Gentherapie. Allerdings wurde er 2004 wegen Kindesmissbrauch verhaftet und 2007 dafür zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gesundheitszustand des Mädchens (inzwischen weiß man, dass sie Ashanti DeSilva heißt), stabilisierte sich. Laut einem Bericht im Deutschlandfunk war sie 2015 mit 29 Jahren noch bei guter Gesundheit. Geheilt wurde sie aber nicht. Die eingeschleusten Gene verschanden über die Jahre wieder aus ihrem Körper und sie erhält jetzt Medikamente, die den Enzymmangel ausgleichen.