Zum Hauptinhalt springen

Sprechende Maschine

Einen Computer, der Texte erkennt und vorliest, präsentierte Professor Terrence Sejnowski in einer amerikanischen Fernsehshow. Die Zuschauer waren begeistert von der ersten TV-Demonstration eines künstlichen neuronalen Netzes. Ein perfektioniertes System könnte etwa Blinden aus der Zeitung vorlesen; öffentliche Bibliotheken ließen sich per Telefon abfragen.

Nur Marvin Minsky, der jahrelang gepredigt hatte, daß derartige Leistungen nur mit der Progammiertechnik der Künstlichen Intelligenz zu verwirklichen seien, wollte das „Gestammel“ nicht verstanden haben. Wie auch immer, der Computer verdankt seine Fähigkeiten einem Programm (NETtalk), das eine Anordnung von mehreren Hundert Nervenzellen in drei Schichten simuliert. Die Eingabeschicht erkennt Textstücke von je sieben Buchstaben und ist über eine Zwischenschicht mit 26 „Ausgabeneuronen“ verbunden. Diese spezialisieren sich auf 17 Phoneme, auf Pausen, Betonungen und Übergänge – die Grundelemente der Sprache.

Anfangs gibt der angeschlossene Lautsprecher nur Unsinn von sich, doch wird nach jedem Fehler die korrekte Aussprache in der Ausgabeschicht eingestellt und die Stärke der Verbindungen zur Zwischenschicht verändert. Verbesserte Aussprache wird mit verstärkten Verbindungen zur Ausgabeschicht „belohnt“ und umgekehrt; langsam tastet man sich an das richtige Ergebnis heran.

Nach dem Lernen einiger Tausend Worte klingt das Netz in etwa 90 Prozent aller Fälle richtig – und das völlig ohne Regelwerk und ohne eine lange Liste der vielen sprachlichen Ausnahmeregeln. Unbekannte Worte werden fast so gut erkannt wie bereits einstudierte. NetTalk lernt also Regeln, die weder Linguisten noch Neurobiologen noch Programmierer bisher ergründen konnten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 30. Oktober 1991)

Interview mit Wolf Singer

 

Ankündigung des Interviews auf Seite 1

Wolf Singer ist einer der renommiertesten deutschen Hirnforscher, (inzwischen ehemaliger) Direktor am Max-Planck-Institut in Frankfurt und war später Mitbegründer des Frankfurt Institute of Advanced Sciences. Ich durfte ihn für die Reihe „WELT im Gespräch“ interviewen, und hier ist das Ergebnis:

Das Gehirn des Menschen ist zweifellos das komplizierteste Gebilde, das wir kennen. Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, wir könnten das Gehirn nie vollständig verstehen. Sie dagegen haben Ihre gesamte Karriere diesem Unterfangen gewidmet. Warum tun Sie das?

Singer: Das Gehirn hat mich schon immer interessiert. Ich habe nie Medizin studieren wollen, um praktischer Arzt zu werden wie mein Vater. Ich wollte ein Studium Generale absolvieren, mich mit dem Lebendigen beschäftigen, am liebsten gleich mit dem Menschen. Während meiner Studienzeit in München hat man Epileptiker noch häufig dadurch behandelt, daß man die Verbindungen zwischen den beiden Hirnhälften durchtrennte. Dabei stellte man fest, daß nicht alles, was vom Menschen wahrgenommen wird, daß nicht alle Reize, auf die der Organismus reagiert, auch bewußt verarbeitet werden.

Eine ganze Hälfte des Gehirns, so fand man, kann nicht „reden“ und über das berichten, was sie gemacht hat. Damals hat man versucht, diese Beobachtung im Zusammenhang mit der Schizophrenie zu sehen. Die Idee war, daß der Schizophrene deshalb die gespaltenen Bewußtseinszustände hat, weil er seine beiden Hirnhälften nicht koordinieren kann. Eine Hypothese, die jetzt keiner mehr aufrechterhalten würde. Ich bin damals in München durch ein Seminar über die neuronalen Grundlagen des Bewußtseins in Berührung gekommen mit der Hirnforschung, habe mich dann um eine Doktorarbeit bemüht und die habe ich auch gekriegt.

Das heißt, Sie hatten schon ganz von Anfang an auch eher philosophische Fragen im Hinterkopf; Sie glaubten, mit biologischen Methoden vielleicht so etwas wie ein Bewußtsein ergründen zu können?

Singer: Ich bin immer davon ausgegangen, daß unsere geistigen Leistungen auf biochemischen Vorgängen beruhen und etwas mit der Hirnfunktion zu tun haben müssen. Eine wichtige Motivation für alle, die eine medizinische Ausbildung haben, ist natürlich auch die Einsicht, daß ganz große Krankheitskomplexe vollkommen unverstanden sind, soweit sie mit dem Zentralnervensystem zusammenhängen. Es gibt bis heute überhaupt keine akzeptable Erklärung für die endogenen Depressionen oder für die Schizophrenien, obwohl die Krankheiten außerordentlich häufig sind. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung werden irgendwann einmal in einem der beiden Bereiche klinisch auffällig. Alles, was man da therapeutisch macht, beruht auf Versuch und Irrtum. Man weiß halt, das funktioniert irgendwie, aber warum das funktioniert, oder warum was nicht funktioniert, weiß keiner.

Dann plagt einen natürlich das katastrophale Unvermögen nach Hirnverletzungen. Therapeutische Bemühungen sind erfolglos, weil beschädigte Nervenzellen nicht nachwachsen. Jetzt lernt man allmählich, daß das nicht so sein muß, daß während der Evolution des Menschen solche Mechanismen nicht eingebaut worden sind, weil es vermutlich früher überhaupt keinen Sinn gemacht hat, nach Schädel-Hirnverletzungen, die so schwerwiegend waren, daß es im Gehirn zu Veränderungen kam, noch Reparaturmechanismen einzubauen. Diese Verletzungen sind ohnehin nie überlebt worden. Das hat sich mittlerweile geändert.

Durch intensive medizinische Bemühungen überleben heute viele Unfallopfer auch schwere Hirnverletzungen. Noch kann man die Schäden nicht wirklich reparieren. Aber es zeichnet sich jetzt schon die Möglichkeit ab, daß es gelingen wird, die Prozesse wieder anzustellen, die während der Entwicklung des Menschen ablaufen. Am Rückenmark, bei Querschnittslähmungen gibt es jetzt wirklich zum ersten Mal Hoffnungen.

Für den Laien erscheint das Gewebe des Gehirns beim Blick durch das Mikroskop als heilloses Durcheinander von undefinierbaren Strukturen, ein undurchdringliches Dickicht aus hunderten verschiedener Zelltypen. Wie kann man denn da noch die Hoffnung bewahren, dieses Gebilde irgendwann einmal wirklich verstehen zu können?

Singer: Ja, das kommt einem natürlich nach wie vor frivol vor. Aber es ist halt so in der Natur, daß sehr komplexe Funktionen auf einfache Prinzipien zurückgehen. Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht, aber der Gestaltdruck unserer Seele macht, daß wir nach einfachen Prinzipien suchen. Und wir finden sie auch. Man kann erstaunlicherweise trotz der ungeheuren Komplexität in vielen Bereichen überschaubare, einfache allgemeine Funktionsprinzipien angeben. Es funktioniert. Und man kann das ja auch imitieren in künstlichen Systemen und sieht, daß die dann – wenn auch sehr primitive – Leistungen erbringen können.

Ihre Arbeiten zeigen, daß die Strukturen des Gehirns sich in einem Wechselspiel mit Umwelteinflüssen herausbilden. Demnach wird die Entwicklung dieses Organs also nicht ausschließlich von unseren Genen gesteuert?

Singer: Das läßt sich am Beispiel der Hirnrinde am besten illustrieren. Es ist ja so, daß die Komplexität der Verschaltungen der Hirnrinde eine Größenordnung erreicht hat, die es unmöglich macht und auch sinnlos erscheinen läßt, jede einzelne Verbindung genetisch festzulegen. Das würde einen ungeheuren Codierungsaufwand erfordern. Ich weiß nicht, wie gut die Berechnungen sind, aber es gibt zumindest Vermutungen, daß das in den Genen gespeicherte Material nicht ausreicht, um das alles zu strukturieren. Außerdem hätte dies den Nachteil, daß das System dann sehr unflexibel wird und sich nicht gut anpassen kann an die realen Gegebenheiten.

Nun sieht man, daß während der Entwicklung wichtige Entscheidungen über die endgültige Verdrahtung von Arealen in der Hirnrinde oder von einzelnen Nervenzellen im Dialog mit der Umwelt gefällt werden. Man muß dann nicht alles von vornherein festlegen, sondern man kann warten, bis die Information von außen verfügbar wird. Das System kann sich dann viel besser an die wahren Begebenheiten anpassen.

Nun, weil das so ist und weil jeder Organismus in einer anderen Umwelt aufwächst, wird es sinnlos, über die allgemeinen Verschaltungsprinzipien hinaus, die natürlich von Individuum zu Individuum gleich sind, auch noch im Detail nach Wiederholungen zu suchen. Die wird man nicht finden, weil sich jedes Hirn ein bißchen anders selbstorganisiert. Und deshalb muß man die Prinzipien rauskriegen, nach denen sich das Gehirn entwickelt. Nur so kann man verstehen, wie das Ganze funktioniert. Das ist wichtiger als zu versuchen, das fertige System in allen Einzelheiten aufzudröseln. Letzteres würde zu so vielen verschiedenen Beschreibungen führen, wie man Gehirne untersucht.

Kann man denn beziffern, wie stark die menschliche Entwicklung von der Umwelt beeinflußt wird, und wie groß der Anteil unserer Gene ist?

Singer: Wahrscheinlich ist die Frage schon falsch gestellt. Das jetzt in Prozent unterteilen zu wollen, ist nicht möglich, weil Sie im Nachhinein nicht unterscheiden können, ob eine bestimmte Verbindung nicht da ist, weil sie genetisch nicht angelegt worden ist, oder weil sie zunächst genetisch vorgesehen war, und später wieder abgeräumt worden ist. Das greift so eng ineinander, daß die genetischen Instruktionen und die Instruktionen, die aus dem Umfeld kommen, gar nicht richtig zu trennen sind. Das fängt schon ganz am Anfang an, mit der befruchteten Eizelle.

Gene sind nie alleine irgendwo. Die sitzen schon im Kern in einer Zelle, die ein Umfeld für die Gene darstellt. Und die Zelle sitzt in der Regel eingebettet in einem Organismus. Die ersten Signale, die die Gene anschalten, die kommen ja von außen, die kommen nicht aus den Genen selber, sondern das ist die Umgebung, die sagt, so jetzt fangt mal an, euch zu verdoppeln, jetzt wird geteilt. Also, die Entwicklung ist von Anfang an ein Dialog zwischen Genen und deren Umgebung. Und wenn man das eine wegnimmt oder das andere wegnimmt, bleibt der Entwicklungsprozeß stehen.

Lassen sich diese Erkenntnisse, die ja vorwiegend durch Versuche an Katzen und Affen gewonnen wurden, so ohne weiteres auf den Menschen übertragen?

Singer: Ja, diese Untersuchungen, die natürlich alle an Tieren vorgenommen worden sind, die lassen sich direkt auf den Menschen und auf die Entstehung menschlicher Krankheiten übertragen. Bei einem Kind, das schielt, zeigen sich in der Hirnrinde genau die gleichen Veränderungen wie sie auch bei einer schielenden Katze oder bei einem schielenden Affen gefunden wurden. Man kann Aufgrund der Tierversuche Voraussagen machen darüber, wie die Wahrnehmung beim Menschen gestört wird. Das ist eine ganz direkte Entsprechung.

Können Sie ein Beispiel für die praktische Umsetzung Ihrer Forschung in den klinischen Alltag geben?

Singer: Man hat aus diesen Tierversuchen gelernt, daß bestimmte Leistungen während kritischer Altersphasen erworben werden. Wenn die Verschaltung der Nervenzellen nicht zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, dann läßt sich das nicht mehr nachholen. Das ist sowohl für den Erwerb der Sehfähigkeit als auch für den Sprachgebrauch nachgewiesen. Möglicherweise gilt das auch für den Erwerb höherer, sozialer Leistungen.

Im Bereich der Sehphysiologie haben die Tierversuche ganz bestimmt das Bewußtsein dafür geschärft, daß man frühzeitig erkennen muß, wenn was schiefläuft. Also, wenn man Schielkinder hat, dann weiß man, daß ganz früh und hartnäckig therapiert werden muß, wenn man die kritische Phase nicht verpassen will. Früher hat man gedacht, jetzt lassen wir die erst mal auswachsen, und dann reparieren wir die Stellung der Augen. Aber dann ist es zu spät.

Das gleiche gilt, wenn Reize aus der Umwelt das Gehirn über längere Zeit hinweg nicht erreichen. Früher war das relativ häufig, daß durch Trübungen der Hornhaut oder Linsentrübungen die Aufnahme optischer Signale durchs Auge gestört war. Das haben die Leute nicht besonders ernstgenommen und haben gedacht, dann warten wir halt, bis die im operationsfähigen Alter sind, bis man das bequem machen kann, und dann tauschen wir die Linsen aus und machen die Hornhaut wieder sauber. Bis man gelernt hat, daß das überhaupt nichts mehr nutzt, weil die Reifungsprozesse in der Hirnrinde, die der Erfahrung bedürfen, abgelaufen sind und nicht nachgeholt werden können. Und deshalb operiert man jetzt, wenn man mit solchen Problemen konfrontiert wird, so früh wie nur irgend möglich.

Lassen sich die Erkenntnisse auch bei der Erziehung von Kindern umsetzen?

Singer: Das ist schwer zu beantworten. Die kulturhistorische Entwicklung zeigt, daß die Menschen selber auf ganz vieles gekommen sind, ohne daß sie über kritische Phasen und Neurophysiologie Bescheid wußten. Man weiß einfach, daß man Kinder früh mit Sprache konfrontieren muß, damit sie es lernen, und wenn sie eine Fremdsprache zusätzlich erwerben sollen, dann muß man das auch früh machen, damit man die kritische Phase nicht verpaßt.

In diesem Bereich kann man natürlich sagen, die Menschen haben irgendwann gelernt, daß man den Kindern möglichst früh möglichst viele Stimuli geben sollte. Aber die Hirnforschung gibt mittlerweile ja sogar Hinweise darauf, wie das menschliche Bewußtsein zustande kommen könnte.

Singer: Ja, das ist zurzeit ein sehr faszinierendes Gebiet. Die Philosophen haben das ja auch zur Kenntnis genommen, daß im Bereich der Neurobiologie jetzt Entdeckungen möglich werden, die direkt relevant sind für philosophische Diskussionen, insbesondere für erkenntnistheoretische Ansätze. Andererseits gibt es eine stattliche Anzahl von Psychologielehrstuhl-Inhabern in Europa, insbesondere in der Bundesrepublik, die sagen, sie brauchten die Neurobiologie nicht, weil die Neurobiologie immer wieder Konzepte entwickelt hat, die die Psychologie in die Irre geführt habe. Das muß man sich mal klarmachen!

Das Wissen über die Mechanismen, durch die sich entwickelnde Gehirne Wissen über die Umwelt erwerben und das so erworbene Wissen dann wieder benutzen, um die Umwelt zu interpretieren, um Konstrukte zu bauen, das ist für die Erkenntnistheorie schon sehr wichtig. Es läßt sich in diesem Licht wohl nicht mehr aufrechterhalten, daß wir in der Lage wären, die Welt so zu erkennen, wie sie ist. Es wird immer deutlicher, daß unsere Hirne Konstruktionen entwerfen, die auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Beispielsweise ist unser Begriff von Materie nur entstanden durch die unmittelbare Erfahrung, die unsere Sinnessysteme möglich machen – und auch zwar nur in einem ganz engen Bereich des Größenkontinuums physikalischer Dimensionen. Das gilt eben alles so im Zentimeter- und Millimeterbereich, aber wenn man durch Instrumente guckt, die einem entweder den ganz großen Bereich zugänglich machen, das Weltall oder den ganz kleinen Bereich, den atomaren und subatomaren Bereich, dann sieht man, daß diese Konzepte und Beschreibungen da nicht zutreffend sind.

Könnte man vielleicht überspitzt sagen, daß die Grenzen der Erkenntnis durch die Strukturen unseres Gehirns vorgegeben sind und gar nicht so sehr durch die Möglichkeiten der Naturwissenschaft?

Singer: Naturwissenschaft selber ist ja schon ein Kulturprodukt und damit Produkt von interagierenden Gehirnen. Insofern werden sich in den Beschreibungssystemen der Naturwissenschaften natürlich die Axiome widerspiegeln, jene als absolut richtig anerkannten Grundsätze, für die es keines weiteren Beweises bedarf. Auch diese Axiome sind zunächst einmal durch Primärerfahrungen des Gehirns entwickelt worden.

Sie haben, vereinfacht ausgedrückt, Hinweise darauf gefunden, wie das Bewußtsein zustande kommt. Gruppen von Nervenzellen (Neuronen), die Reize vom selben Objekt erhalten, feuern demnach ihre Signale im Gleichtakt, auch wenn diese Zellen im Gehirn räumlich getrennt sind.

Singer: Trotz der gewaltigen Zahl von hundert Milliarden Neuronen kann unser Gehirn unmöglich alle möglichen Erscheinungsformen aller möglichen Objekte in einzelnen Zellen abspeichern, das würde die Zahl dieser Zellen sehr schnell erschöpfen. Demnach muß die Repräsentation von Figuren, Objekten, Inhalten, auch von Symbolen immer durch Gruppen miteinander verbundener Zellen Ensembles – erzeugt werden, wobei eine bestimmte Zelle zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Ensembles teilhaben können muß.

Ähnlich wie ein bestimmtes Merkmal in sehr vielen verschiedenen Figuren vorkommen kann, kann eine bestimmte Zelle in sehr vielen verschiedenen Ensembles vorkommen. Wenn man aber jetzt dieses Ensemble-Kodierungskonzept weiterverfolgt, dann kriegt man ein Problem, wenn mehrere Ensembles gleichzeitig aktiv sind, dann wissen sie nämlich wieder nicht, welche Zelle zu welchem Ensemble gehört.

Aus diesem Grund hat Christoph von der Malsburg schon 1981 vorgeschlagen, dem Ensemble eine zeitliche Struktur aufzuprägen, so daß alle Elemente in einem Ensemble immer gleichzeitig und zusammen aktiv sind, und dann kann ein zweites Ensemble ebenfalls aktiv sein, und zwar in einem anderen Takt. Dafür haben wir direkte Beweise gefunden. Gleichzeitig haben aber auch andere Leute darüber nachgedacht, wie es denn gehen kann, daß man trotz heftiger Bemühungen keine Nervenzellen finden kann, die selektiv auf Gesichter oder auf die Großmutter oder auf einen gelben Volkswagen ansprechen.

Es gibt also keine höchste Instanz, in der Bewußtsein passiert, oder in der sich Wahrnehmung kristallisiert?

Singer: Nein, stattdessen gibt es sehr viele Areale, die sich mit unterschiedlichen Aspekten befassen. Die liegen parallel zueinander, sind stark miteinander verflochten. So wird die Information, die vom Auge kommt, auf 20 oder 25 Areale parallel verteilt, die sich nun mit unterschiedlichen Aspekten beschäftigen. Die einen mehr mit Bewegung, die anderen mehr mit Farbe, die anderen mehr mit Formen, die anderen mehr mit Lokalisation im Raum usw. Und nun fragen wir, wie kommt um Gottes Willen das alles wieder zusammen, so daß sie dann zum Schluß den gelben Volkswagen in der Wiese stehen sehen.

Und weil man weder eine Zelle gefunden hat, die den gelben Volkswagen in der Wiese abbildet, noch ein Areal, wo das alles wieder zusammenliefe, mußte man annehmen, die Repräsentation des gelben Volkswagens in der grünen Wiese ist eben die Gesamtheit der Aktivitäten, die in diesen räumlich verteilten Arealen zu dem bestimmten Zeitpunkt vorhanden sind.

Aber wie bindet man die jetzt zusammen? Dafür sind dann Hypothesen formuliert worden, zuerst von dem Nobelpreisträger Francis Crick, daß das irgendwie über eine zeitliche Synchronisation geschehen müsse. Sie brauchen einmal den gelben Volkswagen in der grünen Wiese, ein andermal brauchen sie den Fahrer im gelben Volkswagen, dann müssen sie ganz andere Bindungen machen. Sie können nicht für jede mögliche Konstellation des gelben Volkswagens feste Verbindungen im Gehirn haben, sondern sie brauchen eine dynamische Architektur, die Sie kontextabhängig verändern können. Wir haben dann gesagt, nun ja, wenn das im Sehsystem so läuft, dann wird es ja wohl auch für die Bewegungssteuerung gelten und warum dann nicht gleich überall?

Ein Thema, das die Öffentlichkeit wesentlich stärker erregt als die Erfolge der Grundlagenforschung sind die Tierversuche, die in der gesamten Biomedizin angestellt werden.

Singer: Das ist auch für uns schwierig. Wir werden ja, wie Sie wissen, sehr stark überwacht. Wir müssen für alles, was wir tun, ausführliche Beschreibungen liefern, müssen unsere Vorhaben genehmigen lassen von Kommissionen, in denen Tierversuchsgegner oder Tierschützer sitzen, Fachleute – die in der Minderheit sind – und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Darüber hinaus wird natürlich institutsintern jedes Projekt ausführlich diskutiert, und die ethischen Fragen sind implizit immer mit dabei. Sie werden außerdem schon wegen der Handhabbarkeit die Tiere immer in Vollnarkose versetzen, wenn Sie operieren müssen.

Bleibt das Opfern von Leben. Das ist nicht zu umgehen. Wenn man an lebenden Strukturen arbeiten will – und das muß man, wenn man rauskriegen will, wie ein Hirn organisiert ist -, dann nehmen wir damit die Tötung des Tieres in Kauf, wobei das schmerzlos erfolgt. Damit stehen wir nun auf der gleichen Ebene derer, die Tiere töten, um sie zu essen.

Ich vermag nicht zu verstehen, wie man ignorieren kann, daß die Entwicklung von Medikamenten gegen die Epilepsie ausschließlich auf Tierversuche zurückgeht, daß das wachsende Verständnis der Wirkung von suchterzeugenden Drogen ohne diese Versuche nicht möglich gewesen wäre. Für mich ist eine Medizin, die handelt, ohne zu wissen, was sie tut, genauso unerträglich wie eine, die tatenlos daneben steht.

Viele Menschen sagen sich, na ja, wir hören in Deutschland mit diesen Versuchen auf, weil wir ethisch am weitesten entwickelt sind, aber irgendjemand wird ja nachher schon die Polio-Impfstoffe und die Sachen für Aids noch weiterentwickeln, damit man das dann auch weiterverwenden kann. Denn es ist ja ganz schön, wenn man sich Insulin spritzen kann, wenn es die eigene Frau ist oder das eigene Kind. Womit ich schlecht leben kann, ist, wenn Tierversuchsgegner die Familie bedrängen, die Kinder bedrohen. Wir hatten hier auch einen Molotow-Cocktail-Anschlag aufs Labor. Nur durch Zufall ist das Haus nicht in die Luft gegangen. Da werden wir halt manchmal grantig.

In Deutschland scheint die Grundlagenforschung kein allzu hohes Ansehen zu genießen, anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.

Singer: Ich glaube, wir haben uns daran gewöhnt, daß der Wissenschaftler in Deutschland eher ein Buhmann ist. Wir werden ja nicht zu den Kulturträgern gezählt – Kultur, das sind die schönen Künste und die Geisteswissenschaften. Daß Naturwissenschaften auch einen starken kreativen Aspekt haben, auch eine künstlerische Ader verlangen und eigentlich mit zum Kulturbetrieb gehören, das ist hier wenig verankert. Zur Allgemeinbildung gehört das Wissen um Goethes Biographie. Neulich habe ich irgendwo gehört, daß immer noch zwanzig Prozent meinen, daß die Sonne um die Erde kreist, also da hängt sicher was schief.

Die meisten meiner Freunde sind nicht aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. Aber eins scheint mir doch wohl zuzutreffen, daß die Wissenschaftler im Allgemeinen, wenn sie gut sind, sich dadurch auszeichnen, daß sie relativ wenig Vorurteile haben, relativ wenig verführbar sind und einen relativ gut entwickelten Skeptizismus haben gegenüber der Verläßlichkeit von irgendetwas. Und das sind eigentlich Eigenschaften, die in einer Demokratie ganz brauchbar sind.

Erstaunlich, daß die deutsche Hirnforschung im internationalen Vergleich trotz dieser Hemmnisse so gut dasteht.

Singer: Wir werden gut unterstützt. Insbesondere die mehr integrative Hirnforschung ist hier noch relativ gut erhalten trotz des enormen Zuwachses der Molekularbiologie, die weltweit jetzt boomt. Aber das wird uns für die Zukunft ein wertvolles Kapital sein, daß wir hier viel erhalten haben, trotz der gleichzeitigen sehr guten Entwicklung der Molekularbiologie.

Die Finanzierung war über die letzten Jahre sehr gut, ich würde denken, wir stehen hier europaweit an der Spitze. Entsprechend gut sind auch die Resultate. Aber jetzt wird es schwierig durch die Kosten der Wiedervereinigung. Das werden wir deutlich zu spüren kriegen, daß das nicht alles umsonst geht. Schon jetzt hat der Tarifabschluß von sechs Prozent die versprochenen fünf Prozent Zuwachsraten, die in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und in der Max-Planck-Gesellschaft festgeschrieben waren, aufgefressen. Viele Probleme der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft könnten mit 100 Millionen Mark gelöst werden. Sie müssen schreiben, daß es schwierig wird, und daß die ja nicht anfangen dürfen, sich jetzt auf den Lorbeeren auszuruhen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 28. Oktober 1991)

Reaktionen ohne Hilfe des Gehirns

Wer sich mal die Finger verbrannt hat, weiß die blitzschnelle Reaktion seines Nervensystems zu schätzen. Denkt man nämlich über die eigene Ungeschicklichkeit nach, so wird man zu dem Schluß kommen, daß ein „primitiver“ Reflex uns vor weitaus Schlimmerem bewahrt hat.

Eine tiefgründige Analyse der Wechselwirkungen zwischen heißer Flamme und nackter Haut wäre in dieser Situation offensichtlich fehl am Platze gewesen. Stattdessen schützen uns „Direktschaltungen“ zwischen fühlenden Nervenzellen und den Muskeln des Körpers im Rückenmark. Die höheren Funktionen des Gehirns werden dazu nicht gebraucht.

Nicht einmal jede tausendste Nervenzelle gehört zur Klasse der sogenannten Motoneuronen. Diese Spezialisten sind es, die letztendlich den Muskelfasern den Befehl geben, sich zusammenzuziehen. Einer der einfachsten Schaltkreise wird beim Arzt überprüft: Wenn der Doktor mit dem Hämmerchen die richtige Stelle trifft- die Patellarsehne genau unterhalb der Kniescheibe -, schnellt das Bein nach vorne, selbst wenn der Patient sich noch so fest vornimmt, diese Bewegung zu verhindern.

In den letzten Jahren ist es gelungen, die Vorgänge zwischen Motoneuron und dem Zusammenziehen der Muskelfaser bis in molekulare Details aufzuklären. Ähnlich wie die Kommunikation zwischen zwei Nervenzellen beginnt die Aktion damit, daß das eingehende elektrische Signal einen chemischen Botenstoff freisetzt; in diesem Fall den Neurotransmitter Acetylcholin. Dieser bewirkt, daß der „Muskeltreibstoff“ Kalzium in die Muskelzellen strömt: Die Muskelfilamente verschieben sich gegeneinander, es kommt zur Kontraktion.

(erschienen in „DIE WELT“ am 23. Oktober 1991)

Forschung unter einem Zeltdach

Eine – nicht nur für Schweizer Verhältnisse – gewagte Ausstellung ist noch bis zum 3. November vor den Toren Zürichs zu bewundern. Auf 60.000 Quadratmeter Fläche präsentiert sich die Crème de la crème der eidgenössischen Wissenschaft. Rund 300 aktuelle Forschungsprojekte, von der Tiefbohrung über sprechende Maschinen bis zur Atmosphärenforschung, werden vorgestellt. Neben „harten“ Themen wie Mathematik und Physik gibt es nachdenkliche Beiträge zur Rolle der Naturwissenschaften in unserer Welt.

Geradezu abenteuerlich mutet die Architektur der Ausstellungsgebäude an: Ein achtteiliges Ringzelt, aufgespannt an ebenso vielen Masten, ähnelt dem Münchner Olympiadach. Vier der Masten sind begehbar, allerdings nur für schwindelfreie Besucher. Denen präsentiert sich Europas größte Zeltanlage.

Unter 46 Tonnen schweren Kunststoffs kann der wissenschaftlich interessierte Laie das Ergebnis einer einzigartigen Kraftanstrengung der gesamten Schweizer Forschungsszene bewundern: Über 1000 Personen aus öffentlichen Hochschulen und privaten Forschungsanstalten haben sich auf Anregung von Georg Müller bereit erklärt, jedem, der es möchte, ihre Arbeit zu erklären. Müllers Initiative ist es zu verdanken, daß die Heureka nach langem Tauziehen um die Baugenehmigung mit der Stadt Zürich doch noch zustande kam.

Erst Ende November 1990 konnte mit dem Bau begonnen werden drei Monate später als geplant. In einem Gewaltakt wurden dann bei Wind und Wetter waghalsige Montagen durchgeführt. Noch am Tage der Eröffnung wurde im Akkord gearbeitet. Ein guter Teil der Schwierigkeiten, mit denen die Heureka zu kämpfen hat, ist durch die anfangs zögerliche Haltung der Behörden begründet.

So gab es erst Ende August einen Ausstellungskatalog, in dem sämtliche Projekte verzeichnet sind. Damit hätten sich die Besucher, die zunächst eher spärlich erschienen, abfinden können. Was den Veranstaltern aber beißende Kritik einbrachte, war die peinliche Tatsache, daß ein Großteil der Ausstellungsgegenstände schon nach kurzer Zeit defekt war. Viele der Projekte zum „Anfassen und Selbermachen“ leiden darunter.

Dies ist besonders ärgerlich, weil immerhin ein Drittel der Gesamtkosten (mehr als 30 Millionen Franken) über den Eintrittspreis finanziert wird. Der schlägt denn auch mit saftigen 20 Franken zu Buche. Immerhin ein Drittel der Mittel kommt von der öffentlichen Hand, der Rest von der Industrie. Die lange Liste der Gönner reicht vom Aargauischen Elektrizitätswerk bis zu den Zürcher Ziegeleien, und auch die Nasa oder die sowjetische Tiblisi-Universität haben ihr Scherflein beigetragen.

Schon am Eingang wird der Besucher mit dem Prinzip vertraut gemacht, das den größeren Teil der Ausstellung prägt. Unbefangen erklimmt er ein montiertes Lawinenstützwerk. Schweift dann sein Blick zur Anzeigetafel, so kann er unversehens sein aktuelles (Über-)Gewicht ablesen. Für manchen Wissenschaftsfreund ist damit das Streben nach Erkenntnis bereits beendet.

Einer kleinen, aber umso wißbegierigeren Minderheit werden umfangreiche Erklärungstafeln angeboten. Dort ist unter anderem nachzulesen, daß die typisch Schweizer Konstruktion einen Druck von bis zu 80 Tonnen pro Quadratmeter aushalten kann. Auch die relativ simple Meßvorrichtung, die es erlaubt, ganze Schulklassen zu wiegen, ist mit Grafiken anschaulich erklärt.

In Zelt 1 drängen sich Schüler vor einem Lithophon. Das Musikinstrument enthält keinerlei elektronische Elemente, stattdessen sind dunkle Platten aus Serpentin auf Resonatoren montiert, die mit einer verstärkten Klaviermechanik angeschlagen werden. Nach anfänglichem Zögern spielt ein Schüler etwas holprig „Oh when the saints“.

Damit ist das Eis gebrochen, der nächste Besucher schwingt sich hinter das Lithophon und improvisiert munter vor sich hin. Bei einem Triller kommt der Zuruf aus Kindermund: „Machen Sie das noch einmal!“ Und jetzt erst kommen die ersten Fragen: „Wie funktioniert denn das?“

Immer wieder beeindruckt die Geduld, mit der selbst gestandene Professoren und hochkarätige Spezialisten die Fragen der Besucher beantworten. Auch kritischen Fragen gehen die Veranstalter nicht aus dem Weg: So reflektiert eine Projektgruppe aus Genf – Theologen, die gleichzeitig Physiker sind – über die Versuche der Wissenschaft, in die Schöpfungsgeschichte einzugreifen. Vier Studenten der Sozialwissenschaften untersuchen Entscheidungskriterien und Vorgänge bei Gen- und Fortpflanzungstechnologien.

Wer will, kann auf der Heureka mehr über Geschichte und Gegenwart der Forschung erfahren als in jedem multidisziplinären Studium. Der vielbeschworene Elfenbeinturm, in dem sich die Wissenschaftler nach landläufiger Meinung so gerne verstecken – hier ist er jedenfalls nicht zu finden.

(erschienen in „DIE WELT“ am 22. Oktober 1991)

Richard Ernst: Nobelpreis für die NMR-Spektroskopie

Richard Ernst, der diesjährige Nobelpreisträger für Chemie, war unmittelbar nach der Bekanntgabe des schwedischen Karolinska-Instituts auch für die eifrigsten Pressevertreter nicht zu erreichen. Der Grund: der 58jährige Schweizer befand sich gerade in der Luft, irgendwo zwischen Moskau und New York. Ernst, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich als Professor für Physikalische Chemie tätig ist, will in New York an der Columbia-Universität eine weitere Auszeichnung entgegennehmen.

In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es, Ernst erhalte die Auszeichnung, die in diesem Jahr mit 1,65 Millionen Mark dotiert ist, für die Entwicklung der „kraftvollsten instrumentalen Meßmethode in der Chemie“. Gemeint ist damit die NMR-Spektroskopie, eine Methode, mit der die Lage einzelner Atomkerne innerhalb eines Moleküls bestimmt werden kann.

Die Kernspinresonanzspektroskopie– so der ungekürzte Name – erlaubt es auch, die Struktur von Molekülen in einer Lösung zu bestimmen. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil viele der biologisch aktiven Substanzen, für die Mediziner und Biochemiker sich heute besonders interessieren, normalerweise in wässriger Lösung vorliegen.

Auch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Molekülarten und die Bewegung dieser winzigen Teilchen lassen sich mit Hilfe der NMR-Spektroskopie beobachten. Schließlich können die Chemiker aus den so gewonnen Daten Rückschlüsse ziehen, die es ihnen erlauben, die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen abzuschätzen.

Ernst, der als letzter der diesjährigen Nobelpreisträger nominiert wurde, ist bereits der 22. Schweizer, der diese höchste aller wissenschaftlichen Auszeichnungen erhält. Sämtliche Nobelpreise in den Naturwissenschaften gehen damit in diesem Jahr an europäische Forscher, die sonst so dominanten Amerikaner gehen zum ersten Mal seit 1970 leer aus.

In Winterthur zeigte sich die Ehefrau des frischgekürten Preisträgers zwar überrascht, meinte allerdings auch, die Nobel-Vergabe kommen nicht ganz so unerwartet. Der Architektensohn Ernst hatte bereits seine Doktorarbeit an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich über Kernresonanzspektroskopie geschrieben.

„Die Kernresonanzspektroskopie hat in den letzten 20 Jahren eine erstaunliche Entwicklung erlebt“, erläuterte der Physiker kürzlich vor Kollegen. In der Tat habe sie sich von einer recht nützlichen, beschränkt einsetzbaren analytischen Methode zu der wohl leistungsfähigsten molekularen Untersuchungsmethode überhaupt in den verschiedensten Disziplinen von der Physik bis hin zu der Medizin ausgeweitet.

Vor der Entwicklung der Kernspinresonanz war man darauf angewiesen, Kristalle derjenigen Moleküle herzustellen, die man untersuchen wollte, und diese Moleküle mit Röntgenstrahlen zu analysieren. Zum Leidwesen der Chemiker schließen sich aber nur verhältnismäßig einfache Moleküle zu den regelmäßigen Gittern eines Kristalls zusammen. Ein weiterer Nachteil dieser Röntgenstrukturanalyse besteht darin, daß gerade biologisch aktive Substanzen im Kristall oft nicht ihre „natürliche“ Form einnehmen. Aussagen über die Funktion dieser Stoffe etwa im menschlichen Körper waren daher nur in engen Grenzen möglich.

Auch als die beiden Amerikaner Felix Bloch und Edward Mills Purcell 1945 erstmals über erfolgreiche NMR-Experimente berichteten, war dies noch nicht möglich. Dennoch wurde auch die eigentliche Entdeckung, daß man mit Hilfe von Radiowellen Aufschluß über die Lage von Atomkernen bekommen kann, mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.

Für die Anwendung auch in der Physik, der Biologie und der Medizin wurde die NMR-Spektroskopie aber erst interessant, nachdem Ernst 1966 einen mathematischen Trick fand, um die Empfindlichkeit der Methode zehn- bis hundertfach zu verbessern. Nur wenige Jahre später gelang es ihm, auch die Auflösung zu steigern. Immer feinere Details der Moleküle konnten jetzt analysiert werden. Damit nicht genug: Mitte der 70er Jahre schlug Ernst auch eine Methode für den Empfang NMR-tomographischer Bilder vor, die große Verbreitung fand. Sowohl zur Steigerung der Empfindlichkeit als auch der Auflösung hat Ernst „mehr beigetragen als jeder andere“ befand das Nobelpreiskomitee.

Wenn heute beispielsweise der Stoffwechsel im menschlichen Gehirn mittels eines Computers sichtbar gemacht werden kann, werden wohl die wenigsten Patienten an die Prinzipien der NMR-Spektroskopie denken. Und doch verdanken sie den bahnbrechenden Arbeiten des Schweizers eines der modernsten Diagnosegeräte, das heute zum Einsatz kommt.

(erschienen in „DIE WELT“ am 17. Oktober 1991 unter dem Titel „Eine Brille enthüllt tanzende Moleküle“)

In der Welt der elektrischen Düfte

Elektrische Düfte durchziehen das Labor von Garry Lynch an der University of California in lrvine bei Los Angeles. Elektrische Düfte? Dr. Ursula Stäubli, die vor Jahren aus der Schweiz hierhergekommen ist, um den Geheimnissen des Lernens auf die Schliche zu kommen, muß etwas weiter ausholen.

Bei trainierten Ratten war es ihr gelungen, die Erinnerung an einen gelernten Geruch wieder wachzurufen; und zwar indem sie mit einer feinen Elektrode im Gehirn der Tiere an bestimmten Stellen einen winzig kleinen Strom anlegte. Dies ist möglich, weil die Hirnstrukturen, die an der Geruchserkennung beteiligt sind, schon recht genau kartiert sind.

Der Geruch war ursprünglich in fast schon klassischen Versuchen erlernt worden: Eine Ratte, die in einem Labyrinth sitzt, hat die Wahl zwischen zwei Düften. Geht sie dem einen nach – Rosenwasser etwa -, so erhält sie als Belohnung am Ziel einen Schluck Wasser. Verfolgt das Tier dagegen den anderen Geruch – Schweizer Käse vielleicht – so wird es am Ende des Ganges mit Lichtblitzen „geärgert“.

Innerhalb von einigen Dutzend Durchgängen lernen die Ratten zwischen den beiden Gerüchen zu unterscheiden. Auch beim nächsten oder übernächsten Geruchspaar lernen die Tiere die Lektion nach der 20 oder 30 Wiederholungen. „Wenn die Ratte dann wieder im Labyrinth sitzt; kann man beispielsweise einen unbekannten Geruchsstoff einsetzen, und einen anderen, der einmal gelernt wurde, nur elektrisch simulieren. Die Ratte wird dann dem gelernten Geruch nachgehen, obwohl der eigentlich gar nicht ‚wirklich‘ vorhanden ist.“

Bis zu 180 verschiedene Gerüche können so im Gehirn der Tiere gespeichert werden. Interessanterweise erfolgt das Lernen dabei immer schneller. Schon nach kurzer Zeit genügen den Ratten weniger als fünf Versuche, um den Unterschied zwischen „guten“ und „bösen“ Düften zu begreifen. Das einmal Gelernte bleibt dann über Monate hinweg präsent und kann sogar mit einer Elektrode abgerufen werden, wie Stäublis Experimente zeigen.

Dabei kommt der Biologin zugute, daß die betroffenen Hirnregionen verhältnismäßig einfach organisiert sind. Der „olfaktorische Kortex“, wo die Wahrnehmung des Geruchs erfolgt, enthält „nur“ vier Schichten von Nervenzellen; die Geruchsrezeptoren in der Nase leiten ihre Signale über nur eine Zwischenstation hierher. Die – verhältnismäßig – einfache Verkabelung ermöglicht es nicht nur, einzelne Neurone zu reizen; sie erlaubt es auch, anderen Fragestellungen gezielt nachzugehen.

Wie Professor Lynch bemerkt, hat man zwar eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich bestimmte Verbindungen zwischen den beteiligten Nervenzellen beim Lernen „einschleifen“, das erklärt aber noch lange nicht alle Leistungen, die mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung gebracht werden. So ist es beispielsweise noch völlig ungeklärt, wie Erinnerungen in eine zeitliche und räumliche Ordnung gebracht werden, wie sie ins Gedächtnis „zurückgeholt“ werden (wo waren sie denn in der Zwischenzeit?), oder wie es möglich sein kann, dem einmal Gelernten ständig neues hinzuzufügen, ohne alte Gedächtnisinhalte zu zerstören.

„Wir beanspruchen, mit unserer Arbeit eine biologische Theorie des Lernens und des Gedächtnisses zu errichten, die wohl mit den bisher existierenden psychologischen Erklärungsversuchen nicht viel gemeinsam haben wird. Da wird zum Beispiel über Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis gesprochen, aber unsere Ergebnisse und die anderer Arbeitsgruppen zeigen, daß es für diese Konzepte vielleicht gar keine biologische Entsprechung gibt. Wahrscheinlich handelt es sich stattdessen um einen kontinuierlichen Prozeß, dessen einzelne Elemente wir noch nicht lokalisieren können, weil die hier verwirklichten Vorgänge unserer Intuition zuwieder laufen.

Das ist wie in der Quantenphysik. Viele der Dinge, die man dort gefunden hat, sind in unserer alltäglichen Umgebung nicht zu beobachten. Aber wenn man das immer weiterverfolgt, dann kommt man schließlich zu einer Art Offenbarung, die die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, völlig verändert. Wenn wir erst einmal am Ziel sind, werden wir nicht nur erkennen, wie Netzwerke von Nervenzellen miteinander arbeiten. Wir könnten ebenso eine Offenbarung erfahren. Vielleicht denken wir gar nicht, was wir denken.“

Diese tiefschürfenden Erkenntnisse hinderten Lynch allerdings nicht daran, zusammen mit dem Computerwissenschaftler Richard Granger die bei Ratten gefundenen Verschaltungsregeln in einem Computerprogramm zu simulieren. Wird dem Programm nun das elektronische Äquivalent eines neuen Duftes eingegeben, so können Lynch und Granger am Bildschirm verfolgen, wie die Software eine elektronische Antwort gibt, und immer wieder die gleichen Kunstneuronen aktiviert. Die große Überraschung kam, als das Programm begann, die Daten selbstständig in verschiedene Kategorien einzuordnen: die beiden hatten ihrer Software die Fähigkeit zur Erkenntnis mit auf den Weg gegeben…

(erschienen in „DIE WELT am 16. Oktober 1991)

Ozon: Oben gut, unten schlecht

Während Hiobsbotschaften aus der Antarktis das Augenmerk auf das dortige Ozonloch lenken, will Umweltminister Klaus Töpfer mit strengeren Grenzwerten ein Zuviel an Ozon am Boden bekämpfen. In 30 bis 50 Kilometer Höhe bildet dieses Gas einen Schutzschild, der vor den UV-Strahlen der Sonne schützt – und damit auch vor Sonnenbrand, Hautkrebs und Augenkatarakten. In diesen Luftschichten ist Ozon daher ausdrücklich erwünscht.

Unerwünscht ist Ozon dagegen in Bodennähe. Dort bilden sich die Moleküle unter dem Einfluß energiereicher Strahlung – also vorwiegend im Sommer – aus Vorläufersubstanzen wie Stickoxiden (NOx) und ungesättigten Kohlenwasserstoffen. Beide Substanzen werden zum größten Teil durch den Kraftverkehr freigesetzt; der Anteil der Industrie an diesen Schadstoffen ist dagegen in den letzten Jahren rückläufig.

Die Ozonbildung am Boden soll vermieden werden, weil das Gas die menschlichen Atemwege reizt. Professor Michael Wagner vom Berliner Bundesgesundheitsamt warnt vor Hysterie, doch müsse man den kleinen Teil der Bevölkerung schützen, der auf Ozon besonders empfindlich reagiert.

Töpfer will nun bereits Alarm schlagen, wenn die Konzentration dieser Vorläufersubstanzen die Grenzwerte übersteigt. Berechnungen, die auf der komplizierten Chemie des Ozons beruhen, zeigen nämlich, daß beispielsweise ein Fahrverbot kaum noch wirksam ist, wenn die Ozongrenzwerte bereits überschritten sind.

Schwefeldioxid (SO2) spielt vor allem beim Wintersmog eine Rolle; das stinkende Gas, das bei fast allen Verbrennungsvorgängen frei wird, führt zu Kratzen im Hals und ist auch für den sauren Regen mitverantwortlich.

Die angestrebte Reduktion von Benzol und Dieselrußpartikeln soll dagegen die Belastung der Atemluft mit krebserregenden Substanzen verringern. Besonders Benzol, das in verhältnismäßig hohen Konzentrationen vorkommt, verursacht in Deutschland jährlich Tausende zusätzlicher Leukämiefälle.

(erschienen in „DIE WELT“ am 12. Oktober 1991 auf Seite 1)

Hirnforschung von der Keule bis zur Gentechnik

„Hirnschäden sind so alt wie die Menschheit“, sagt Stanley Finger, Professor für Psychologie an der Washington University im amerikanischen St. Louis. Er deutet dabei auf den drei Millionen Jahre alten Schädel eines Australophitecus, der offensichtlich von hinten mit einer Keule erschlagen wurde.

Vor etwa zehntausend Jahren, noch während der Steinzeit also, wurden bereits „Operationen“ durchgeführt, bei denen man die Schädeldecke öffnete. Neues Knochenwachstum im Bereich um die Wunde beweist, daß die Primitiv-Patienten derartige Eingriffe in vielen Fällen überlebten. „Wahrscheinlich haben die prähistorischen Mediziner Kopfweh und Geisteskrankheiten behandeln wollen“, meint Finger und verweist darauf, daß auch die alten Griechen Löcher in die Schädeldecke bohrten, um „böse Geister“ freizusetzen.

Nach derlei Pioniertaten brachte dann erst die Zeit der Aufklärung differenziertere Einsichten zutage. Emanuel Swedenborg postulierte 1734, daß verschiedene Gebiete der Großhirnrinde, in der die „höheren“ Hirnfunktionen angesiedelt sind, unterschiedliche Teile des Körpers kontrollieren.

Der Neurochirurg Paul Broca war es vermutlich, der den Anstoß zur der gruseligen Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gab. Im Jahre 1863 konnte er nämlich zeigen, daß die beiden Hälften des Gehirns teilweise unterschiedliche Funktionen ausüben. Weil das Sprachvermögen offensichtlich in der linken Hemisphäre lokalisiert war, glaubte man, die rechte Hälfte des Gehirns müsse die unzivilisierte – tierische – Komponente beherbergen.

Damit hatte man aber gerade erst an der Oberfläche gekratzt – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Schaut man im Mikroskop auf die nur zwei bis drei Millimeter dicke Hirnrinde, so finden sich dort rund 100.000 Zellen auf einem Quadratmillimeter, geordnet in sechs Schichten, die auf zunächst undurchschaubare Weise miteinander verdrahtet sind.

Hätten nicht der spanische Hirnanatom Ramon y Cajal und sein italienischer Konkurrent Camillo Golgi gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Färbetechnik entwickelt – dieser „gordische Knoten“ in unserem Kopf wäre wohl noch immer ungelöst. Die Metallsalze des Farbstoffes färben scheinbar zufällig nur jeweils eine unter hunderten von Zellen an und machen damit das entsprechende Neuron erst wirklich sichtbar.

Jetzt konnte man die Zellen des Gehirns in ihrer verwirrenden Vielfalt zwar sehen; wie sie funktionierten wußte man aber immer noch nicht. Durch nach heutigen Maßstäben ziemlich rüde Experimente am offenen Gehirn von Epileptikern wußte man immerhin, daß das Ganze wohl etwas mit elektrischer Aktivität zu tun hatte.

Erst die vergleichsweise riesigen Neuronen des Tintenfischs erlaubten es, das Verhalten einzelner Nervenzellen zu untersuchen. Bei einem Durchmesser von bis zu einem Millimeter und mehreren Zentimetern Länge konnte man Elektroden in Form einer Glaskapillare entlang der Längsachse dieser Zellen einschieben. Setzte man jetzt einen kurzen elektrischen Reiz an einem Ende der Zelle, so konnte man beobachten, daß ein „Aktionspotential“ an der Elektrode vorüberzog. Nur wenn der Reiz eine gewisse Schwelle überschreitet, so pflanzt sich diese Spannungsdifferenz zwischen Zellinnen- und Außenseite über die ganze Zelle fort.

Aber wie? Heute weiß man durch die Arbeiten der frischgekürten Nobelpreisträger Bert Sakmann und Erwin Neher, daß winzig kleine Eiweißmoleküle in der Zellhülle – die Ionenkanäle – sich der Reihe nach öffnen. Innerhalb einer tausendstel Sekunde strömen pro Kanal rund 8000 geladene Teilchen (Ionen) ins Zellinnere, dann schließt sich der Kanal und andere Eiweiße befördern die eingedrungenen Ionen wieder nach draußen. Unterdessen wird der gleiche Vorgang am nächsten Kanal eingeleitet, so daß der Reiz sich innerhalb von Sekundenbruchteilen von einem Ende der Zelle zum anderen fortpflanzen kann.

Dort kann die Zelle das Signal dann auf das nächste Neuron übertragen. Das Aktionspotential führt dazu, daß am Zellende kleine Bläschen mit Neurotransmittern platzen. Diese Botenstoffe des Nervensystems überwinden dann den synaptischen Spalt, der zwei Nervenzellen voneinander trennt. Auf der nachgeschalteten Zelle wird die chemische Botschaft durch Rezeptormoleküle empfangen und – wenn der Reiz stark genug ist – ein neues Aktionspotential ausgelöst.

Gentechnische Methoden haben es in den letzten Jahren möglich gemacht, die Erbinformationen für eine Vielzahl von Ionenkanälen und Rezeptoren aufzuspüren und die entsprechenden Gene zu isolieren. Erst kürzlich wurde auch die Struktur eines Eiweißes aufgeklärt, das den Neurotransmitter Acetylcholinesterase zerlegt.

Diese Methoden erlauben es, die Schlüsselmoleküle des Nervensystems in großen Mengen herzustellen, für weitere Experimente ebenso wie für die Entwicklung dringend benötigter Medikamente. Geschätzte 800.000 Patienten, die unter der Alzheimer´schen Krankheit leiden und deren Angehörige warten ebenso dringend auf neue Arzneien, wie die ungefähr 3,2 Millionen Menschen, die in Deutschland zumindest zeitweilig unter Krankheiten des Nervensystems leiden.

Vielleicht können die bösen Geister, die man schon in der Steinzeit beschwor, dann doch noch verjagt werden. Und vielleicht lassen sich die Wunder, die ein gesundes Gehirn vollbringt, auch einmal mit Maschinen erzielen, von denen die Ingenieure heute nur träumen können.

(erschienen in „DIE WELT“ am 11. Oktober 1991)

Die fantastische Welt in unseren Köpfen

Die Vergabe des Medizinnobelpreises an zwei deutsche Wissenschaftler zu Beginn dieser Woche rückt einen Forschungszweig ins Licht der Öffentlichkeit, der bisher trotz gewaltiger Fortschritte eher ein Schattendasein führte. Zwar hatte der amerikanische Kongreß die neunziger Jahre vollmundig zur „Dekade des Gehirns“ erklärt; für den Mann auf der Straße aber blieb diese Verlautbarung ebenso bedeutungslos wie millionenschwere Förderproramme der Bundesregierung oder er Europäischen Gemeinschaft.

Unterdessen fahren ganze Heerscharen von Wissenschaftlern damit fort, in mühseliger Kleinarbeit dem Gehirn seine Geheimnisse zu entwinden und die oft widersprüchlichen Ergebnisse wie Mosaiksteinchen zu einem gewaltigen Fresko zu verarbeiten. Für diese Minderheit in unserer Gesellschaft steht längst zweifelsfrei fest: Das „Ich“ hat einen Sitz im Gehirn.

Denken, Lernen, Vergessen, ja selbst Gefühle wie Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Lust und Liebe erwachsen aus dem unendlich komplizierten Zusammenspiel mikroskopisch kleiner Einheiten. Die Rede ist von Nervenzellen (Neuronen), und die Tatsache, daß die Resultate der Neurowissenschaftler von so wenigen nachvollzogen werden können, rührt sicherlich auch daher, daß wir unser Gehirn tagtäglich zu Tausenden von verschiedenen Arbeiten heranziehen, ohne jemals über die ungeheure Leistung dieses Gebildes nachzudenken.

In unseren Köpfen tragen wir rund 100 Milliarden Nervenzellen mit uns herum (* die jüngste Schätzung sagt 86 Milliarden). Jede einzelne dieser Zellen hat Kontakt zu durchschnittlich 1000 Nachbarn, manche spezialisierte Neuronen pflegen sogar über 100.000 Beziehungen gleichzeitig. Summa sumarum kommt man somit auf rund 100 Billionen (100.000.000.000.000) Verbindungen (Synapsen) zwischen den grauen Zellen.

Die mikroskopischen Dimensionen dieses Netzwerkes erlauben es beispielsweise, eine Vielzahl von Funktionen wie den Gehörsinn, das Gleichgewichtsempfinden und den Richtungssinn in einem Raum unterzubringen, der nicht größer ist als eine Murmel. Töne, die nur wenige Tausendstelsekunden aufeinanderfolgen, können mit diesem Präzisionsinstrument noch unterschieden werden. Im empfindlichsten Hörbereich genügt eine Auslenkung des Trommelfells um wenig mehr als den Durchmesser eines Wasserstoffatoms, um ein Geräusch wahrzunehmen. In absoluter Dunkelheit reichen schon fünf Lichtteilchen (Photonen) aus, um vom Auge als Lichtblitz wahrgenommen zu werden.

All diese fantastischen Leistungen beruhen letztendlich auf der Funktion einzelner Nervenzellen oder von ganzen Netzwerken zusammengeschalteter Neuronen. Während man früher zu der simplen Gleichung tendierte Gehirn gleich Computer, weiß man heute, daß jedes einzelne Neuron einen kleinen Computer für sich darstellt. Eingehende Daten wie Licht, Schall oder ein Botenstoff des Körpers können von verschiedenen Spezialisten – den Sinneszellen – erkannt werden.

Die Daten werden gesammelt, auf ihre „Wichtigkeit“ überprüft und gegebenenfalls in Form eines elektrischen Reizes weitergeleitet. Nachgeordnete Nervenzellen, die Interneuronen, können mit ihren feinverästelten Armen, den Dendriten, diese Signale von bis zu 100.000 Nachbarn empfangen. Dann beginnt die Rechenarbeit: Treffen die elektrischen Reize gleichzeitig ein oder in kurzer Folge hintereinander? Ist das, was da gemeldet wird, wichtig genug, um den nächsten Neuronen auf der Befehlsleiter Meldung zu erstatten?

Wird letztere Frage mit ja beantwortet, so meldet die betreffende Zelle das Rechenergebnis weiter, indem über einen einzigen, großen Zellfortsatz, das Axon, wiederum ein elektrisches Signal abgesandt wird. Dabei werden Spitzengeschwindigkeiten von über 100 Metern in der Sekunde erreicht. Über mehrere Stufen wird so aus dem Rohmaterial der Daten das Wesentliche herausgearbeitet. Wie mit einem Filter wird ein Gesicht in einem Muster aus Hell und Dunkel erkannt, ein Wort aus dem Geräuschpegel herausgehört.

Noch erstaunlicher werden diese Leistungen, wenn man bedenkt, daß die Nervenzellen ja keine festgefügten Bausteine sind, sondern lebende Einheiten, die auf ihre Umgebung reagieren. Schon vor der Geburt bahnen sie sich ihren Weg durch die verschiedenen Gewebe, einmal angelockt und dann wieder abgestoßen von chemischen Botenstoffen oder dem Kontakt zu Gliazellen, die wie Fluglotsen den nur scheinbar chaotischen Verkehrsfluß regeln.

Diese Erkenntnisse sind nicht nur von theoretischer Bedeutung, sie schaffen auch die Voraussetzung für gezielte Eingriffe in die Biochemie des Gehirns. In dem Kinofilm „Zeit des Erwachens“ wird diese Möglichkeit dem Zuschauer drastisch vor Augen geführt. Der Neurologe Oliver Sacks, nach dessen authentischen Erfahrungen der Film gedreht wurde, erprobte im Jahr 1969 das Medikament L-Dopa an insgesamt 80 Patienten, die durch eine mysteriöse Nervenkrankheit an den Rollstuhl gefesselt waren und teilweise über Jahrzehnte stumm vor sich hin starrten.

Dank des L-Dopas wurden die völlig apathischen Patienten aus ihrer Trance geholt; allerdings dauerte dieses „Erwachen“ für die meisten nur einen Sommer. Heute weiß man, daß L-Dopa eine Vorstufe für einen der wichtigsten Botenstoffe des Gehirns (Dopamin) darstellt. Für Menschen, die an der Parkinsonschen Krankheit leiden, ist dies alles andere als trivial, denn durch das Verständnis dieser Vorgänge konnten neue Arzneimittel gezielt entwickelt werden.

Erklärtes Ziel vieler Forscher ist es, die Krankheiten des zentralen Nervensystems in den Griff zu bekommen. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden beispielsweise unter Depressionen oder Schizophrenie, aber noch immer beruhen Therapieansätze vorwiegend auf Versuch und Irrtum. „Die bisherigen Eingriffe in das Gehirn gleichen dem Wurf einer Handgranate in eine Telefonzentrale“, meint einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands, der Frankfurter Professor Wolf Singer.

(erschienen in „DIE WELT“ am 9. Oktober 1991)

Giftkunde für Anfänger

Ein Großteil aller Gifte, Drogen und Psychopharmaka wirkt direkt auf das Gehirn. Durch so prominente Vertreter der Gattung wie Strychnin, Curare und Valium wird die Signalleitung zwischen den Nervenzellen gestört – mit den bekannten Folgen. Erst kürzlich fand man auf der Oberfläche der grauen Zellen auch einen Ankerplatz für das Rauschgift Cannabis.

Der Ankerplatz (Rezeptor) ist typisch für eine Gruppe von Eiweißen, welche bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur nächsten eine entscheidende Rolle spielen. Ohne diese hochspezialisierten Moleküle und deren Gegenstücke, die Neurotransmitter, könnte sich ein elektrischer Reiz nicht von einer Nervenzelle zur nächsten fortpflanzen, weil auch benachbarte Nervenzellen durch eine winzige Lücke voneinander getrennt sind. Dieser „synaptische Spalt“ ist zwar nur wenige Milliardstel Meter breit. dient aber dennoch als Isolator.

Erreicht ein elektrischer Reiz das Ende einer Nervenfaser, muß die Zelle daher ihre Botenstoffe ausschicken, um die Nachricht weiterzureichen. Kleine Bläschen mit chemischen Botenstoffen entleeren ihren Inhalt in den synaptischen Spalt und binden anschließend an ihren Partnermolekülen, den Rezeptoren auf der gegenüberliegenden Seite – solange kein Gift ins Gehirn gelangt. Denn genau dieser Prozeß wird von einer Reihe von Substanzen verhindert, vom Pilzgift Muscarin bis zum Bungarotoxin, einem Schlangengift.

Im störungsfreien Betrieb aber sind es die Rezeptoren, von denen ständig neue Typen entdeckt werden, die das chemische Signal der Botenstoffe wieder in ein elektrisches Signal zurückübersetzen – ein Vorgang, der sich bei jedem Umschalten von einer Nervenzelle zur nächsten wiederholt.

(erschienen in „DIE WELT“ am 9. Oktober 1991)