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Hat die Homosexualität eine biologische Ursache?

Die Hirnstruktur homosexueller Männer unterscheidet sich in mindestens einer Region deutlich von der ihrer heterosexuellen Geschlechtsgenossen. Dieses Resultat einer Autopsie an insgesamt 41 Gehirnen, das jetzt in der Fachzeitschrift ,,Science“ (Band 253, S. 1034) veröffentlicht wurde, dürfte die Diskussion über die biologischen Wurzeln sexuellen Verhaltens weiter anheizen.

Simon LeVay aus San Diego, der diese Studien ursprünglich als Hobbyprojekt begonnen hatte, will sich allerdings nicht darauf festlegen, ob die gefundenen anatomischen Unterschiede Ursache oder Folge der Homosexualität sind: „Es gibt Unterschiede zwischen den Hirnen schwuler und normaler Männer, aber meine Daten sagen nichts darüber, wie diese Unterschiede zustande kommen.“

LeVay, selbst homosexuell, hat sich bisher nicht zur gesellschaftlichen Brisanz seiner Erkenntnisse geäußert und bemerkt in seiner Publikation lediglich, daß „dieses Resultat darauf hindeutet, daß sexuelle Orientierung ein biologisches Substrat hat“. Gegenüber dem „Time Magazine“. sagte der Neurobiologe: „Sexualität ist ein wichtiger Teil von uns. Jetzt haben wir eine bestimmte Hirnregion, die wir daraufhin untersuchen können“.

19 der 41 Gehirne stammten von homosexuellen Männern, die allesamt an Aids verstorben waren. 16 weitere Hirne stammten von heterosexuellen Männern, von denen sechs der Immunschwäche erlegen waren, sechs weitere Gehirne kamen von Frauen. Die Unterschiede beziehen sich auf eine winzig kleine Region im Hypothalamus, einem Hirngebiet, von dem man weiß, daß es bei der Regulation männlichen Sexualverhaltens eine wichtige Rolle spielt.

Innerhalb dieser Region nahm LeVay eine Gruppe von Zellen genauer unter die Lupe, für die andere Forscher bereits Unterschiede zwischen den Geschlechtern ermittelt hatten: den sogenannten interstitiellen Nukleus des anterioren Hypothalamus 3 (INAH-3). Dort fand LeVay den kleinen Unterschied, der für große Aufregung sorgt: INAH-3 ist bei Frauen und homosexuellen Männern gleich groß, bei heterosexuellen Männern nimmt die Zellgruppe dagegen doppelt soviel Platz ein.

Die Möglichkeit, daß die Größendifferenz auf die Aidserkrankung zurückzuführen ist, scheidet aus, weil INAH-3 auch bei den heterosexuellen Männern, die der Immunschwäche zum Opfer gefallen waren, doppelt soviel Platz einnahm wie bei den aidsinfizierten Homosexuellen. Dennoch warnt LeVay vor vorschnellen Schlüssen. Zunächst müßten seine technisch schwierigen Untersuchungen von anderen Wissenschaftlern bestätigt werden.

Für die Richtigkeit der Untersuchung spricht aber die Tatsache, daß in jüngster Vergangenheit auch andere biologische Unterschiede festgestellt wurden, die mit der sexuellen Orientierung einhergehen. So berichtete eine Arbeitsgruppe aus Amsterdam über anatomische Unterschiede in einem anderen Bereich des Hypothalamus, dem suprachiasmatischen Kern. Diese Region, von der man annimmt, daß sie für den Tag-Nacht-Rhythmus eine Rolle spielt, ist bei homosexuellen Männern deutlich vergrößert.

Die Psychologin Sandra Witelson von der amerikanischen McMaster University in Hamilton konnte zeigen, daß Linkshänder unter Lesbierinnen überdurchschnittlich häufig zu finden sind. Darüber hinaus konnte Witelson bestätigen, daß diese Besonderheit auch auf homosexuelle Männer zutrifft.

Auch auf die Frage, wie die Hirnentwicklung in den kritischen Regionen gesteuert wird, glaubt Witelson eine – wenn auch spekulative – Antwort zu haben. Untersuchungen an Ratten, die ebenso wie Menschen im Hypothalamus markante Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufweisen, zeigen eine Abhängigkeit der Entwicklung dieser Hirnregion vom Geschlechtshormon Testosteron.

Injektionen des Hormons vergrößern bei weiblichen Tieren kurz nach der Geburt die fragliche Region; werden umgekehrt männliche Ratten im gleichen Alter kastriert, so sinkt der Testosteronspiegel, die Zellgruppe schrumpft zusammen und die Tiere zeigen im Erwachsenenalter ein weniger „männliches“ Verhalten.

Diese Experimente des Neuroendokrinologen Roger Gorski aus Los Angeles unterstützen Witelsons Hypothese, wonach das Gehirn wie ein Mosaik aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist, die zu verschiedenen Zeiten während der körperlichen Entwicklung für Sexualhormone empfänglich sind.

Wird aber zuviel oder zuwenig der entsprechenden Hormone ausgeschüttet, oder erfolgt dieses Signal zum falschen Zeitpunkt, so könnte dadurch die Entwicklung der entsprechenden Hirnregionen nachhaltig beeinflußt werden. Da während der Entstehung eines Organismus viele solcher „biologischen Schalter“ nur einmal betätigt werden können, wäre die Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen.

Eine Möglichkeit, die Thesen von Sandra Witelson zu erhärten, wäre der Nachweis von Hormonrezeptoren in der Region von INAH-3. Diese Ankerstellen für Botenstoffe des menschlichen Körpers wurden zwar bisher noch nicht gefunden, doch nimmt die Zahl der Entdeckungen gerade auf diesem Forschungsgebiet rapide zu.

Damit dürfte dann ein weiterer Tummelplatz für Ideologen aller Art entstehen, die Homosexualität als „widernatürlich“ oder gar krankhaft betrachten. Andererseits könnte diese Forschung in Zukunft aber auch die Möglichkeit eröffnen, bei echten medizinischen und psychologischen Problemen mit dem Einverständnis der Betroffenen helfend einzugreifen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 12. September 1991)

Quelle: LeVay S. A difference in hypothalamic structure between heterosexual and homosexual men. Science. 1991;253(5023):1034‐1037. doi:10.1126/science.1887219

Hunderttausende Bauern sterben an Pestiziden

Alljährlich sterben auf den Feldern der Dritten Welt hunderttausende von Bauern an Vergiftungen, die durch den Einsatz von Pestiziden hervorgerufen werden. Die Zahl derjenigen, die langanhaltende Hirnschäden erleiden, könnte sogar in die Millionen gehen, wie Toxikologen jetzt in der Fachzeitschrift „Lancet“ berichteten.

Angeklagt – und von der Fachwelt für schuldig befunden – sind vorwiegend Substanzen, die Phosphorsäureester enthalten. Sie beeinträchtigen bei Mensch und Tier gleichermaßen die Kommunikation zwischen den Nervenzellen. Schon 1987 schlug Michael Loevinsohn nach einer Untersuchung philippinischer Reisbauern Alarm. Loevinsohn, der jetzt am kanadischen Zentrum für International Development Research in Ottawa arbeitet, war zu dem Schluß gekommen, daß „alleine in Asien mehrere zehntausend Todesfälle auf den Einsatz von Pestiziden zurückgehen“.

Jetzt wurde die Befürchtung der Toxikologen bestätigt, daß der Umgang mit Organophosphorsäureestern auch langfristige Schäden am Nervensystem verursacht. Selbst kurze Kontakte mit den tückischen Stoffen können demnach gravierende Folgen haben.

Dr. Linda Rosenstock von der University of Washington und ihre Mitarbeiter konnten zeigen, daß bei 36 nicaraguanischen Landarbeitern, die zwischen 1986 und 1988 in einem Universitätskrankenhaus der Stadt Leon wegen Pestizidvergiftungen behandelt wurden, die Gehirnfunktion auch nach Jahren noch stark vermindert war. Die „vergifteten“ Bauern schnitten in allen neuropsychologischen Tests deutlich schlechter ab als deren nahe Verwandte, die zur Kontrolle ebenfalls untersucht wurden. Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnis und auch der Bewegungsablauf waren unter den „Vergifteten“ stark beeinträchtigt.

Die benutzten Pestizide greifen in den Stoffwechsel der Nervenzellen ein und verändern dort ein Eiweiß, das für das Recycling von Botenstoffen gebraucht wird. Acetylcholin, einer der Botenstoffe des Nervensystems, kann dann nicht mehr abgebaut werden; es kommt zum „Kurzschluß“ zwischen den Zellen. Einige nahe verwandte Stoffe zählen zu den Nervengiften: Tabun, Sarin und Soman sind in Fabriken zur Herstellung von „Pflanzenschutzmitteln“ durch verhältnismäßig simple Umbauten herstellbar.

Die Wirkung auf den Menschen ist in beiden Fällen gleich: Erbrechen, Durchfall, Krämpfe und Atemlähmungen bis zum Tod sind die Symptome einer Vergiftung mit diesen Stoffen. Einige der gefährlichen Pestizide, darunter das Parathion (E 605), sind in den westlichen Industrieländern schon längst nicht mehr im Einsatz; Parathion selbst ist in Deutschland verboten.

Damit allein ist das Problem allerdings nicht gelöst: Ähnlich wie beim DDT unterscheiden die Behörden feinsinnig zwischen Anwendung und Produktion; letztere ist ebenso wie der Export erlaubt. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommt es jährlich weltweit zu drei Millionen Fällen von akuter Pestizidvergiftung; etwa 220.000 Menschen bezahlen im gleichen Zeitraum mit ihrem Leben für die „grüne Revolution“

99 Prozent der Opfer stammen aus den Entwicklungsländern. Dort ist der sachgerechte Umgang mit Pestiziden eher die Ausnahme als die Regel, das knappe Geld wird gebraucht für die Anschaffung der Chemikalien, denn ohne Pestizide wären die hochgezüchteten Kulturpflanzen einer Vielzahl von Schädlingen schutzlos ausgeliefert, Hungersnöte wären unvermeidlich. Auch Schutzkleidung wie Handschuhe oder Mundschutz ist meist nicht oder nicht in ausreichendem Umfang vorhanden.

Dabei ist das Problem nicht auf die Dritte Welt beschränkt: Auch in den Vereinigten Staaten rechnet man mit 150.000 bis 300.000 Krankheitsfällen im Jahr, die auf den unfachmännischen Umgang mit Pestiziden zurückgehen. Nachdem Linda Rosenstock und ihre Kollegen jetzt zweifelsfrei nachgewiesen haben, daß hier eine Zeitbombe tickt, ist die Forderung der Toxikologen eindeutig: „Die Ergebnisse zeigen, daß selbst einmalige Vergiftungen mit Organophosphatverbindungen verhindert werden müssen.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 7. September 1991)

Gentherapie nicht ausgeschlossen

Der Aufbau eines Forschungszentrums für Molekulare Medizin in Berlin-Buch schreitet zügig voran. Auf die erst kürzlich im In- und Ausland ausgeschriebenen leitenden wissenschaftlichen Positionen haben sich mittlerweile schon über 200 hochkarätige Forscher beworben. Gründungsdirektor Professor Detlev Ganten äußerste sich gestern in Bonn optimistisch über die weitere Zukunft der für deutsche Verhältnisse einmaligen Institution.

Die klinische Forschung im Zentrum für Molekulare Medizin soll sich nach Auffassung des Gründungskomitees mit den Grundlagen angeborener und erworbener Krankheiten befassen sowie neue Wege zu ihrer Diagnose, Therapie und Prävention erarbeiten. „Bisher besteht in Deutschland das prinzipielle Problem darin, daß die Kliniker Schwierigkeiten haben, mit den ständigen Fortschritten in der Grundlagenforschung Schritt zu halten und diese Erkenntnisse auch am Patienten anzuwenden“, erklärte Ganten im Beisein von Forschungsminister Heinz Riesenhuber. Dies sei umso bedauerlicher, weil die molekularbiologischen Methoden, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, den Übergang zur Anwendung wesentlich erleichterten.

Die Ziele des Forschungszentrums, das aus den Zentralinstituten für Molekularbiologie, Krebsforschung und Herz-Kreislauf-Forschung der ehemaligen DDR hervorgeht, definierte der fünfzigjährige Ganten folgendermaßen: „Aufgrund der Arbeit an Molekülen soll der Krankheitsprozeß verstanden werden. Diese Erkenntnisse wollen wir dann schneller als bisher für den Patienten nutzbar machen. Bisher warten wir noch, bis der bereits erkrankte Patient zu uns kommt. In Zukunft wollen wir eine echte Prävention von Krankheiten betreiben.“

Wie Minister Riesenhuber andeutete, ist man sich auch unter den Beteiligten einig, daß die Erprobung der Gentherapie in Berlin-Buch nicht ausgeschlossen erscheint. Daher soll in dem neuen Institut schnellstmöglich eine Ethikkommission zusammengesetzt werden, die sich vorwiegend aus externen Wissenschaftlern rekrutieren soll. „Dies wird ein Komitee sein, das sehr hochrangig und unangreifbar besetzt ist und nicht nur mit Leuten, von denen man weiß, die werden schon alles gutheißen was an gentechnologischen Dingen geplant wird. Ich glaube, daß wir gut beraten sind, uns hier konsensfähigen Projekten zu widmen und uns nicht durch unkritische Vorgehensweise zu diskreditieren“, so Detlev Ganten.