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Zwischen Ökologie und Ökonomie

Dreißig Milliarden Dollar – das ist der Preis, den die Vereinigten Staaten jährlich für eine verbesserte Luftqualität aufbringen. Dennoch lebten 1989 rund 60 Millionen US-Bürger in Gegenden, wo die gesetzlichen Richtwerte für die Luftreinheit nicht eingehalten werden konnten.

Dieses drastische Beispiel macht deutlich, daß auch in einem der reichsten Länder der Welt nicht genug Geld vorhanden ist, um die zahllosen Ursachen der Umweltverschmutzung zu beseitigen. Wissenschaftler wie Politiker sehen sich daher gezwungen, den optimalen Einsatz der vorhandenen Mittel sicherzustellen. Zwei Volkswirte des unabhängigen Forschungsinstitutes Resources for the Future haben jetzt eine Kosten-Nutzen-Rechnung zur Ozonreduktion in städtischen Ballungszentren unternommen, deren überraschendes Ergebnis sie in der Fachzeitschrift „Science“ (Band 252, S. 252) veröffentlichten:

„Die Kosten für die geplanten Maßnahmen zur Ozonreduktion sind größer als der Nutzen“, fassen Alan Krupnick und Paul Portney ihre Resultate zusammen. Auch die beiden Ökonomen geben bereitwillig zu, daß die Rechnung „Geld gegen Gesundheit“ mit vielen Fragezeichen behaftet ist. „Es ist sehr unangenehm, das Pro und Contra künftiger Bemühungen zur Luftreinhaltung auf diese berechnende Art abwägen zu müssen. Wir alle hätten lieber grenzenlose Ressourcen, um jede erdenkliche Maßnahme auch umzusetzen.“

Die Wissenschaftler gehen in ihrer Untersuchung davon aus, daß bis zum Jahr 2004 zwischen 8,8 und 12,8 Milliarden Dollar benötigt würden, um die Menge des in den USA freigesetzten Ozons um ein Drittel zu reduzieren. Grundlage für diese Zahl ist eine Studie der Behörde zur Technikfolgenabschätzung OTA aus dem Jahr 1989, die zeigt, daß die Freisetzung von flüchtigen organischen Substanzen von elf auf sieben Millionen Tonnen jährlich verringert werden müßte. Flüchtige organische Substanzen wie Benzin sind neben den Stickoxiden aus dem Kraftverkehr die Hauptverursacher erhöhter Ozonwerte am Boden.

Eine Reduktion dieser Ozonwerte um 35 Prozent innerhalb der nächsten 13 Jahre würde nach Meinung von Krupnick und Portney die Häufigkeit von Asthmaanfällen verringern, Husten und Brustschmerzen wären seltener, und auch die Anzahl der Tage mit verringerter Leistungsfähigkeit für die Anwohner würde zurückgehen. Den Kosten in Höhe von rund zehn Milliarden Dollar stünde dann allerdings ein Nutzen gegenüber, der sich bestenfalls mit einer Milliarde Dollar beziffern läßt. Geht man von pessimistischen Annahmen aus, so stehen auf der Gewinn-Seite sogar nur 250 Millionen Dollar, was einem Vierzigstel der aufgewandten Geldmenge entsprechen würde.

Die Ökonomen veranschlagen dabei etwa die Kosten eines Asthmaanfalls auf 25 Dollar, verringerte Leistungsfähigkeit schlägt mit 20 Dollar täglich zu Buche, und ein Tag mit gelegentlichen Hustenanfällen wird mit fünf Dollar berechnet. Diese Zahlen wurden dann multipliziert mit der Anzahl von Komplikationen, die sich durch eine Reduktion der Ozonwerte verhindern ließen. Ein Asthmatiker hätte epidemiologischen Untersuchungen zufolge über eine Zeit von fünf Jahren hinweg im Schnitt einen Anfall weniger zu erdulden; Gesunde könnten sich darauf einstellen, daß ihnen alle zehn Jahre ein Tag mit reduzierter Leistungsfähigkeit erspart bliebe.

„Ich denke nicht, daß die Leute unsere Ergebnisse besonders schätzen werden“, sagte Portney, „aber wir liefern ja keine Entschuldigung dafür, die Luftverschmutzung zu ignorieren. Unsere Resultate legen aber nahe, daß es der Gesundheit mehr nutzt, wenn das Geld für andere Maßnahmen ausgegeben wird.“ Nach Ansicht der Volkswirte könnten die fraglichen zehn Milliarden Dollar weitaus sinnvoller in Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Rauchens oder eine verbesserte medizinische Versorgung vor und unmittelbar nach der Geburt investiert werden.

(erschienen in „DIE WELT“ am 29. Mai 1991)

James Watson im Interview

Vorweg ein Bekenntnis, oder auch die Erklärung eines Interessenkonfliktes: James Watson war es, der mich mit seinem Buch „Die Doppelhelix“ maßgeblich dazu inspiriert hat, Biologie zu studieren. Ich halte ihn nach wie vor für einen der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Als ich 1991 die erste längere Dienstreise für meinen damaligen Arbeitgeber „DIE WELT“ planen durfte, war Watson auf meiner Liste ganz oben.

Ankündigung des Interviews auf Seite 1

Während unseres Gesprächs ist meine Bewunderung eher noch gewachsen, und ich gewann den Eindruck, dass er die Genforschung im Allgemeinen und das „Human Genome Project“ im Besonderen auch deshalb vorangetrieben hat, weil er das Leben der Menschen verbessern wollte. Natürlich bin ich nicht naiv und ich weiß von der unrühmlichen Art, wie Watson zusammen mit seinem Partner Francis Crick alleine die Lorbeeren eingeheimst hat für die Entdeckung der Struktur des Erbmaterials, obwohl doch auch deren Kollegin Rosalind Franklin daran einen erheblichen Anteil hatte. Gelinde gesagt ziemlich ungeschickt fand ich Watsons Äußerungen in einem Interview mit der Londoner „Sunday Times“ im Jahr 2007.  Er sehe die Zukunft Afrikas äußerst pessimistisch, denn „all unsere Sozialpolitik basiert auf der Annahme, dass ihre Intelligenz dieselbe ist wie unsere – obwohl alle Tests sagen, dass dies nicht wirklich so ist“. Watson war damals fast 80 Jahre alt und wurde prompt all seiner Ämter enthoben. Später, als er sich nochmals ähnlich äußerte, verlor er auch noch seine Ehrentitel, geriet offenbar in Geldnot und sah sich gezwungen, die Medaille zu versteigern, die er 1962 mit dem Nobelpreis für Medizin erhalten hatte. Ich habe mich entschlossen, in dieser Sache nicht den Richter zu spielen. Journalisten sollten berichten, was ist, und die Meinungsbildung ihren Lesern überlassen. In diesem Sinne hier nun das vollständige Interview aus dem Jahr 1991: 

James Watson: Warum diese Angst vor der Genforschung?

WELT: Am 25. April 1953 veröffentlichten Sie zusammen mit Francis Crick Ihren bahnbrechenden Artikel über die Struktur des Erbmaterials. Heute hat man gelernt, die Einheiten der Erbinformation – die Gene – zwischen den verschiedensten Organismen auszutauschen. Viele neue Medikamente werden jetzt gentechnisch hergestellt; in den USA hat man sogar damit begonnen, bisher unheilbare Krankheiten mittels Gentherapie zu behandeln. Hätten Sie 1953 diese explosionsartige Entwicklung der modernen Biologie für möglich gehalten?

Watson: Nein, ich denke, daß niemand in die Zukunft sehen kann. Als wir damals die Struktur des Erbmaterials – die bekannte Doppelhelix – erkannt hatten, haben wir uns sofort dem Problem zugewandt, wie diese Information benutzt wird, um Eiweißstoffe zu produzieren, jene Moleküle also, die letztendlich für die chemischen Reaktionen innerhalb einer Zelle verantwortlich sind. Als wir darauf eine Antwort gefunden hatten, hatte dies zunächst keine praktischen Konsequenzen. Zu dieser Zeit – das war 1966 – dachte noch niemand daran, daß diese Entdeckungen einmal unser Alltagsleben beeinflußen würden. Dieser Gedanke kam uns erst, als es gelang, einzelne Gene zu isolieren; ich denke, daß uns die außergewöhnlichen Möglichkeiten der neuen Techniken erst gegen 1980 bewußt wurden.

WELT: In den USA wurden die Kartierung und Sequenzierung des gesamten menschlichen Erbguts als nationale Aufgabe definiert. Als Direktor des „Human Genome Project“ koordinieren Sie dieses gewaltige Unternehmen. Worin liegt das Ziel dieses Projektes, dessen Bedeutung manchmal mit der Mondlandung verglichen wird?

Watson: Die Entschlüsselung der in Form von DNA-Molekülen festgelegten Erbinformation liefert Informationen über das chemische Grundgerüst des menschlichen Lebens. Wir werden damit nicht nur die Kenntnisse über die exakte Funktionsweise des gesunden menschlichen Organismus erweitern, diese Forschung wird auch das Verständnis von Erbkrankheiten fördern, die das Leben von Millionen von Menschen beeinflussen. Man hat bereits damit begonnen, die vermutlich 100.000 Gene des Menschen zu entschlüsseln. Die komplette Erbinformation für das Bakterium Escherichia coli wird bereits in drei Jahren vorliegen. Wir beginnen schon heute, die gesamte Maschinerie zu überblicken, welche für die Funktion einer einzelnen Zelle gebraucht wird.

Manche Kritiker meinen, es würde genügen, wenn weiterhin gezielt nur diejenigen Gene erforscht werden, an denen ein fundamentales Interesse besteht. Aber es ist ein Irrtum zu sagen: „Alles was wir von dem menschlichen Genomprojekt haben werden, ist ein Berg von Sequenzdaten.“ Es wird wesentlich mehr an Erkenntnissen abfallen und diejenigen Länder, die meinen, wir brauchen diese Art von Forschung nicht, weil es genügt, sich um einzelne interessante Erbanlagen zu kümmern, werden einen Großteil der Aufregung verpassen, weil sich aus dem kompletten Satz der Erbanlagen – dem Genom – eine wesentlich breitere Perspektive ergibt. Die Freude wird allenfalls etwas getrübt dadurch, daß so viele neue Entdeckungen gemacht werden, daß man kaum noch Schritt halten kann.

WELT: Wie rechtfertigen Sie die enormen Summen – Ihr Kollege Walter Gilbert sprach von drei Milliarden Dollar – die das Projekt verschlingen wird? Handelt es sich hier um reine Grundlagenforschung oder wird auch der Mann auf der Straße davon profitieren?

Watson: Der wesentliche Grund dafür, daß wir überhaupt öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt bekommen, liegt darin, daß diese Forschung darauf ausgerichtet ist, die erblichen Grundlagen von Krankheiten zu entdecken. Die Öffentlichkeit will das Gen, welches für manische Depressionen verantwortlich ist und das ist nur natürlich. Ebenso die verschiedenen Gene, die zur Alzheimer´schen Krankheit führen. Einzelne Forschungsprojekte, die sich auf die jeweiligen Krankheiten spezialisieren, wissen oftmals nicht, wonach sie in der Fülle des Erbmaterials suchen sollen. In der Krebsforschung war das ähnlich. Erst als man die Onkogene und die Anti-Onkogene entdeckt hatte, konnte man die Mechanismen verstehen, die zur Entstehung dieser Krankheit führen.

Ich kann nicht verstehen, wie man gegen die Genforschung sein kann, wenn man wirklich etwas über Erbkrankheiten herausfinden will. Man darf diese Forschung nicht aufhalten, weil Gene hinter so vielen menschlichen Leiden stecken. Man wird ohne Genforschung die Ursache der Schizophrenie oder der manischen Depression nicht finden; das ist einfach unmöglich. Mein Leben wurde geprägt von der Erfahrung, daß der genetische Ansatz erfolgreich ist. Wenn man fragt, ob die Entwicklung eines Lebewesens zu verstehen wäre, ohne die verantwortlichen Gene zu kennen, dann muß die Antwort „nein“ lauten.

WELT: Im Gegensatz zu den USA ist die Öffentlichkeit in Deutschland gegenüber der Genforschung sehr kritisch eingestellt. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Watson: Ich glaube, das läßt sich auf zweierlei Arten begründen. Zum einen hat der Gebrauch pseudogenetischer Argumente durch die Nazis, haben Ausdrücke wie „Herrenrasse“ und ähnliches ihre Spuren hinterlassen. Zum anderen gibt es in Deutschland nur wenige Wissenschaftler, die sich öffentlich zur Erforschung der menschlichen Gene bekennen. Wenn ich dem Kölner Genetiker Benno Müller-Hill glaube, kommt das zum Teil daher, daß keiner der an den Kriegsverbrechen beteiligten Wissenschaftler gefeuert oder gar vor ein Gericht gestellt wurde. Alle diese stillen Konspirateure haben ihre Stellungen behalten, dadurch wurden die Lehrstühle zu einem guten Teil bis zum Ende der sechziger Jahre von diesen Leuten besetzt. Es gab also eine Gruppe von Menschen, die ihre Vergangenheit geheim hielten, aus Angst ihre Stellung zu verlieren.

Auch als Ihre Regierung vor kurzem versuchte, die Erforschung des menschlichen Genoms unter dem Namen „prädikative Medizin“ zu verkaufen, war das natürlich blödsinnig. Sie hatten wohl Angst, das Wort Genetik in den Mund zu nehmen, dann gebrauchten sie diesen Ausdruck „prädikative Medizin“ und haben dadurch die Situation noch verschlimmert. Ein weiterer Fehler war es, bei der Ankündigung des Programmes keinerlei Geld bereitzustellen, um die ethischen Aspekte zu untersuchen. Als ich 1988 zum Direktor des „Human Genome Project“ berufen wurde, war es eine meiner ersten Handlungen, Geld einzufordern, um eine Ethikkommission zu finanzieren.

WELT: Dennoch gibt es auch in den USA Befürchtungen, daß die genetischen Daten der Menschen mißbraucht werden könnten, um Arbeitsschutzmaßnahmen zu unterlaufen, Betroffenen den Versicherungsschutz zu verweigern oder ganz allgemein Personen mit mehr oder weniger ernsthaften Erbkrankheiten zu diskriminieren. Jeremy Rifkin und seine Organisation „Foundation on Economic Trends“ haben auf diese Probleme hingewiesen.

Watson: Jeremy Rifkin hat mir gesagt, er wäre nicht gegen das „Human Genome Project“, wenn die Vertraulichkeit der genetischen Daten gewahrt bleibt. Auch für mich ist das ein sehr wichtiges Problem: Niemand sollte das Recht haben, die DNA eines anderen Menschen anzusehen. Auch darf niemand gezwungen werden, seine genetischen Daten offenzulegen, wenn beispielsweise daraus hervorgeht, daß er ein hohes Risiko hat, an Diabetes zu erkranken. Es wäre schrecklich, wenn es einmal soweit kommen sollte.

WELT: Wäre es nicht nötig, jetzt schon Gesetze zu erlassen, die den Mißbrauch genetischer Daten unter Strafe stellen?

Watson: Wir haben zu diesen Fragen bereits einige Analysen in Auftrag gegeben und sind derzeit dabei, Arbeitsgruppen aufzustellen. Momentan brauchen wir noch keine Gesetze aber in zehn Jahren wird es wohl soweit sein, Eine Gefahr sehe ich darin, daß Öffentlichkeit und Staat häufig erst dann auf Lücken in der Gesetzgebung reagieren, nachdem etwas passiert ist. In der Regel sieht die Legislative ja leider auch keine Veranlassung, Gesetze zu erlassen, bevor Mißstände wirklich offen zu Tage treten. Ich gehe daher davon aus, daß wir schon bald etwa fünf Prozent unseres Etats darauf verwenden werden, ethische Lösungen für anstehende Probleme zu finden.

Es ist leider nicht sehr einfach alle ethischen Fragen vorherzusehen, die durch die Sequenzierung des Genoms aufgeworfen werden. Beispielsweise wurde vor kurzem ein weiterer Erfolg bei der Erforschung der Alzheimer´schen Krankheit vermeldet. Nehmen wir ‚mal an, das verantwortliche Gen für diese verheerende Form des geistigen Zerfalls würde gefunden und man könnte daraus ablesen ob und wann diese Krankheit zum Ausbruch kommt. Dann wollten Sie bestimmt nicht, daß der Arbeitgeber davon erfährt, oder die Versicherung.

WELT: Haben Sie keine Angst davor, daß Wissenschaftler eines Tages versuchen könnten, einen Menschen zu klonieren, also identische Kopien von ihm zu züchten?

Watson: Vor 15 Jahren, als wir eine erste Ahnung davon bekamen, was mit den neuen Werkzeugen der Molekularen Biologie möglich sein würde, hatte auch ich diese Sorge. Ich schrieb einen Artikel – der mir heute eher peinlich ist -, und wies auf diese vermeintliche Gefahr hin. Ich wollte ein Gesetz haben, welches diese Anwendung verbietet. Heute allerdings kann man noch nicht einmal eine Maus klonieren. Wenn Sie nämlich eine Zelle aus einem erwachsenen Tier entnehmen, dann hat diese Zelle bereits eine Entwicklung durchgemacht, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann; sie hat sich bereits spezialisiert darauf, beispielsweise eine Haut-, Muskel-, oder Nervenzelle zu sein. Das heißt, diese Zelle kann nicht mehr benutzt werden, um einen kompletten Organismus entstehen zu lassen. Natürlich will das niemand hören, aber wir sind wahrscheinlich durch unsere Gene darauf programmiert, zu sterben.

Dennoch bin ich der Meinung: Wenn es gelingen sollte, eine Maus zu klonieren, müßte man ein Gesetz erlassen, das die Anwendung dieser Technik am Menschen verbietet. Nun könnte man ja sagen: „O.k., laßt uns auch die Versuche an der Maus verbieten damit die Technik gar nicht erst entwickelt werden kann.“ Solch ein Gesetz aber würde es unmöglich machen, die Regeln zu verstehen, nach denen sich ein vollständiger Organismus aus einer befruchteten Eizelle entwickelt.

WELT: Schon heute ist es möglich, vor der Geburt eines Kindes vorherzusagen, ob mit einer Behinderung oder gar einer unheilbaren, tödlichen Krankheit gerechnet werden muss. Wenn schon in wenigen Jahren die gesamte Erbinformation des Menschen vorliegt, wird man in der Lage sein, auch harmlose Krankheiten oder sogar Körpermerkmale wie Haar- und Augenfarbe vorherzusehen. Birgt das nicht die Gefahr in sich, daß Eltern unter den Zwang der Gesellschaft geraten, nur noch „perfekte“ Kinder in die Welt zu setzen? Ist es überhaupt möglich, hier noch eine Grenze ziehen?

Watson: Es wäre sehr schwer, eine Grenze zu ziehen zwischen solchen Erbkrankheiten, bei denen der Gesetzgeber eine Abtreibung erlauben sollte und anderen Schäden, mit denen Kind und Eltern leben können. Manche Menschen würden beispielsweise sagen: „Ja, ich kann und will ein Kind haben und aufziehen, auch wenn es unter Down Syndrom (Mongolismus) leiden wird,“ von anderen Menschen wäre das vielleicht zu viel verlangt. Die Schwierigkeit liegt darin daß es 100.000 Gene gibt, die sowohl für die verschiedensten Formen von Krankheiten verantwortlich sein können, oder auch für Dinge, die viele als „Ungerechtigkeiten“ empfinden. Viele Ungerechtigkeiten sind eben genetisch bedingt. Man muß sich das einmal vorstellen: Jemand bekommt ein Gen vererbt und hat unter Umständen nur deshalb sein ganzes Leben lang Nachteile in Kauf zu nehmen. All das geschieht, weil zufällig bei der Weitergabe des Erbmaterials ein winziger Fehler passiert ist. Diese Fehler bei der Vermehrung der DNA sind aber zwangsläufig, weil die Natur nun einmal so funktioniert. Es gibt keine Möglichkeit, diese Fehler zu verhindern.

WELT: Mit einer gewissen Fehlerrate muß man also leben?

Watson: Bisher war das auch gut so, weil dieser Mechanismus Variationen im Erbmaterial hervorbringt. In einem Wechselspiel mit der Umwelt wurden dann diejenigen Lebewesen begünstigt, die sich ihrer natürlichen Umgebung am besten angepaßt hatten. Durch Mutation und Selektion sind so die heutigen Organismen entstanden. Es gibt also eine gewisse Fehlerrate, die dafür sorgt, daß ständig neue Varianten erzeugt werden. Manche dieser Mutationen sind nützlich, andere nicht; aber ohne diesen Mechanismus gäbe es keine Evolution. Für unsere Gesellschaft bedeutet das: Einige Menschen haben von Geburt an bessere Chancen als andere und daran wird sich nichts ändern. Diese „genetischen Ungerechtigkeiten“ wird es immer geben. Die Frage ist dann, wie die Gesellschaft mit dieser Tatsache umgeht.

Die Sowjets haben lange Zeit einfach so getan, als ob es diese erblichen Unterschiede zwischen den Menschen nicht geben würde. Aber es ist einfach nicht wahr, daß alle Menschen gleich sind. Mein Gehirn beispielsweise ist nicht so verkabelt, daß ich ein guter Mathematiker geworden wäre oder ein Maler. Auch bin ich wohl nicht dazu bestimmt, in einem Orchester die erste Geige zu spielen. Dafür habe ich aber einige Bücher geschrieben, ich habe also nicht nur schlechte Karten gezogen. Die Gesellschaft muß erkennen, daß viele Menschen einfach nur schlechte Karten bekommen haben. Wir müssen lernen, auf verständnisvolle Weise mit dieser Tatsache umzugehen. Unser Ethikprogramm soll dazu einen Beitrag leisten. Wir können uns keine „genetische Unterklasse“ leisten und ich glaube, daß viele Menschen vor solch einer Entwicklung Angst haben. Darum brauchen wir auch Gesetze, um die Vertraulichkeit genetischer Daten zu gewährleisten. Niemand darf wegen genetischer Defekte zum Aussätzigen gestempelt werden.

WELT: Warum haben so viele Menschen Angst vor der Gentechnik?

Watson: Ich denke, daß das Verständnis für diese Probleme völlig unterentwickelt ist. Eine umfassende Information ist sehr wichtig, um der Angst vor der Gentechnik zu begegnen, die in weiten Kreisen der Gesellschaft herrscht. Solange die Menschen nicht wirklich verstehen, was Gene sind, wird es auch unmöglich sein, der Öffentlichkeit zu erklären, warum wir das „Human Genome Project“ für gut und unvermeidlich halten.

In Deutschland kommt zu dem Unverständnis noch ein Mißtrauen gegenüber den Wissenschaftlern, vielleicht ebenfalls ein Überbleibsel aus der Naziherrschaft. Während dieser Zeit sah es so aus, als würden die Forscher für den Staat arbeiten. Auch war es in Deutschland schon immer sehr bedeutsam, einen Professorentitel zu tragen. Das gibt den Wissenschaftlern einen sozialen Status, der Neid hervorruft. Amerikanische Professoren haben diesen Status nicht.

Doch auch in den Vereinigten Staaten haben wir Probleme mit der Akzeptanz der Gentechnik. Schuld daran ist zu einem guten Teil die Art und Weise, wie man hier mit der Kernkraft umgegangen ist. Weil man glaubte, auf dem militärischen Sektor eine führende Rolle spielen zu müssen, hat das federführende Ministerium sich unehrlich verhalten. Menschen wurden radioaktiver Strahlung ausgesetzt, an der sie später verstorben sind. Die Daten wurden über lange Zeit geheim gehalten. Ich glaube, daß dem Ansehen der Wissenschaftler in diesem Lande damit großer Schaden zugefügt wurde. Die Regierung war nicht ehrlich, was das Atom angeht. Die Menschen saßen da draußen auf ihren Farmen, wurden der Strahlung ausgesetzt und haben nichts von der Gefahr gewußt, das ist schrecklich. Ich bin überzeugt davon, daß die Verhältnisse in der Sowjetunion noch weitaus schlimmer waren. Bei vielen Menschen hat dieses Verhalten zu der Überzeugung geführt, daß der Staat unredliche Ziele verfolgt. Wegen dieser Unehrlichkeit hat die zivile Nutzung der Kernenergie heute in den USA keine Zukunft mehr; selbst dann, wenn sie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wünschenswert wäre. In dieser Hinsicht mögen zwischen Atomen und Genen Parallelen bestehen.

Die Genetik hat in Deutschland ein schlechtes Image, weil die Nazis sich pseudogenetische Argumente zu eigen gemacht haben. Juden und Zigeuner wurden als „Untermenschen“ diskriminiert, Geisteskranke von Ärzten umgebracht; diese Ereignisse haben ihre Spuren hinterlassen. Deutschland hat sich in vieler Hinsicht gut erholt von den Auswirkungen der Hitler-Ära, nicht aber auf dem Gebiet der Wissenschaft – und das, obwohl in Ihrem Land hervorragende Forschung betrieben wird. Heute verbringe ich den größten Teil meiner Zeit damit, um Verständnis und Vertrauen für die genetische Forschung zu werben.

Ich glaube, es ist unvermeidlich, daß Deutschland sich an der Genforschung beteiligt. Auch in Ostdeutschland wurde meines Erachtens zum Teil sehr gute Arbeit geleistet, etwa am Ostberliner Zentrum für Molekulare Biologie. Allerdings war das System völlig korrumpiert und aufgebläht. Die meisten Forscher haben wohl keine besonders gute Arbeit gemacht, so daß der östliche Teil Deutschlands wahrscheinlich noch zehn Jahre darunter leiden wird.

WELT: Wie weit ist man mit dem „Human Genome Project“ fortgeschritten, wann wird das Ziel erreicht?

Watson: Das längste zusammenhängende Stück Erbinformation, das bisher sequenziert wurde, ist das Genom des Cytomegalovirus mit 250000 Bausteinen – dies nur zum Vergleich. Das menschliche Genom hat rund 3 Milliarden dieser Bausteine, ist also 12000 Mal so lang. Wir vergeben momentan Geld an Leute, die Bruchstücke menschlicher Erbsubstanz mit einer Länge von einer Million Bausteinen sequenzieren sollen. Innerhalb der nächsten Jahre wird es wahrscheinlich zehn Gruppen geben, die derartig große Stücke untersuchen. Wir bemühen uns derzeit vor allem, neue Techniken zu entwickeln, mit denen die Kosten pro Baustein auf einen halben Dollar gedrückt werden können. Sehr gute Arbeit auf dem Gebiet der Automatisierung leistet Wilhelm Ansorge am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg; auch an anderer Stelle wird die Entwicklung neuer und schneller Maschinen vorangetrieben, die uns einen Teil der Arbeit abnehmen könnten.

Ich denke, wir haben gute Gründe zu glauben, daß wir erfolgreich sein werden. Wenn die Technik steht – schätzungsweise in fünf oder sieben Jahren – und wir dann genug Geld zur Verfügung haben, werden wir mit der Sequenzierung im großem Maßstab beginnen. Diese Vorgehensweise spart Geld und auch wenn es zwei Jahre länger dauert, ist das kein Beinbruch. Derzeit sind die USA auf diesem Gebiet noch fast alleine, weil wir lange Zeit auf dem Gebiet der Molekularbiologie eine führende Rolle spielten. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß das so bleiben wird; dafür ist das Unternehmen einfach zu interessant.

WELT: Der Nobelpreisträger Walter Gilbert hat vorgeschlagen, eine Art „Copyright für Gene“ einzuführen. Derjenige, der ein bestimmtes Gen entdeckt und dessen Erbinformation entschlüsselt, sollte dann Nutzungsgebühren erheben können, wenn diese Information beispielsweise durch Pharmafirmen genutzt wird. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Watson: Ich glaube, derartige Dinge sollten von der Regierung bezahlt werden. Hintergrund des Vorschlages war auch die Befürchtung, daß wichtige Daten über Gene zurückgehalten werden, um sich einen Vorsprung bei der Vermarktung dieser Erkenntnisse zu verschaffen. Auch für uns wäre es leichter, die Ergebnisse unserer Arbeit schnell zu veröffentlichen, wenn andere Länder sich bereiterklärten, dies ebenfalls zu tun. Leider sind die Anstrengungen hier sehr ungleich verteilt.

In Frankreich gibt es zwar einige sehr gute Arbeitsgruppen, aber keinerlei ernsthafte Sequenzierarbeit. Im englischen Cambridge und in Gilberts Labor sieht das ganz anders aus. In Deutschland gibt es eine große Anzahl von Wissenschaftlern, die es gerne tun würden, aber sie trauen sich nicht, das auch öffentlich zu sagen. Es gibt auch keine starke Vereinigung, die sich für die Humangenetik ausspricht. Dabei ist das Unternehmen sogar in wirtschaftlicher Hinsicht lohnend: Es wird sehr viel Geld ausgegeben, um bestimmte Krankheiten wie die manische Depression zu verstehen, aber ohne Genforschung wird man da nicht weiterkommen. Langfristig liegt es in Deutschlands eigenem Interesse, ein starkes Programm zur Förderung der Humangenetik aufzulegen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 6. Mai 1991)

Der Taifun und das Treibhaus

Ein tropischer Wirbelsturm (Zyklon, Taifun) traf am 29. April 1991 auf die Küste Bangladeschs und forderte mindestens 138000 Menschenleben. Neben dem Bericht einer Kollegin zu den Schäden im Land bin ich der Frage nachgegangen, inwiefern die globale Erwärmung beziehungsweise der Anstieg des Meeresspiegels damit in Zusammenhang stehen könnte.

Naturkatastrophen, so entsetzlich sie für die betroffene Region auch sein mögen, regen zum Nachdenken an. Auch die gewaltige Sturmflut in Bangladesch mit noch ungezählten Opfern bildet da keine Ausnahme. Die bange Frage lautet: Ist dieses Desaster eine Folge der schleichenden Erwärmung unseres Planeten? Ist das bereits ein Vorgeschmack auf die vielfach beschworene Klimakatastrophe? Und welche Rolle spielt bei alledem der allmähliche Anstieg des Meeresspiegels?

Die in dieser Frage maßgeblichen Experten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), der wohl angesehensten Vereinigung von Klimaexperten, haben sich redlich bemüht, das Wirrwar aus Zahlen und Beobachtungen, aus Fakten und Behauptungen, zu entflechten. Sie gelangen zu dem Schluß, daß der Meeresspiegel bis zum Jahr 2030 um zehn bis 30 Zentimeter ansteigen wird, bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts wahrscheinlich sogar um 65 Zentimeter. Allenfalls eine drastische Reduktion der menschgemachten Treibhausgase könne an dieser Entwicklung etwas ändern, so versicherten die Experten bereits im November des vergangenen Jahres in einem gemeinsamen Report an die Genfer Weltklimakonferenz.

Doch nicht in allen Punkten sind sich die Wissenschaftler einig. Während nämlich Laien es für „natürlich“ halten, daß durch die zunehmende Erwärmung Eismassen schmelzen und damit den Wasserspiegel erhöhen, sieht die Wirklichkeit etwas komplizierter aus: Markiert man in einem Glas, in dem sich mehrere Eiswürfel befinden, den Pegelstand und wirft nach dem Schmelzen des Eises einen zweiten Blick auf den Eichstrich, so wird man feststellen, daß sich der Wasserpegel nicht verändert hat. Diese Beobachtung läßt sich allerdings nur auf das nördliche Polarmeer übertragen, wo eine gewaltige Eismasse auf dem Ozean treibt, nicht dagegen auf die wesentlich größere Antarktisregion.

Vermutlich spielt ein anderer Effekt eine weitaus größere Rolle: Wie die meisten Materialien dehnt sich auch flüssiges Wasser beim Erwärmen aus. Für George Woodwell, den Direktor des Woods Hole Research Centers an der amerikanischen Ostküste, steht die relative Bedeutung der beiden Effekte fest: „Ursache für den Anstieg des Meeresspiegels ist zunächst die Wärmeausdehnung des Wassers, dann das Abschmelzen der Gletscher“, erklärte er auf einer kürzlich in Turin abgehaltenen Konferenz der Sanpaolo-Stiftung zur Rolle der Ozeane beim Klimageschehen.

Dagegen vertrat Ferruccio Mosetti vom Triester Institut für Geodäsie und Geophysik die Meinung, daß die „thermische Expansion“ nicht für den Anstieg des Meeresspiegels verantwortlich gemacht werden könne. Die Durchschnittstemperatur des Oberflächenwassers sei nämlich – entgegen anderer Behauptungen – bisher konstant geblieben.

Diese Behauptung unterstützt Mosetti mit einem Hinweis auf starke zeitliche und regionale Unterschiede in den Meßdaten. Die durchschnittliche jährliche Erhöhung des Meeresspiegels während der letzten sechs Dekaden läßt sich zwar mit 1,6 Millimetern beziffern. Aber auch die Landmassen, von denen aus die Meßungen durchgeführt werden, ruhen nicht. So scheinen sich die Küstenregionen von Skandinavien, Sibirien und dem nördlichen Kanada zu heben, während sie etwa in den Niederlanden absinken.

Absolut sichere Aussagen über den weiteren Verlauf des Weltklimas sind unmöglich – darin sind auch die Experten sich einig. Außerdem, so war in Turin zu hören, müsse auch die Politik die Anstrengungen der Wissenschaft unterstützen. Durch eine verantwortungsbewußte Bevölkerungsplanung und vermehrte Anstrengungen beim Katastrophenschutz könne schon beim nächsten Desaster die Anzahl der Opfer drastisch gesenkt werden.

(erschienen in „DIE WELT“ am 3. Mai 1991)